Zur Überproduktion von Geschlechterdifferenz in der Neurowissenschaft

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Die Neurowissenschaft zeigt Unterschiede in den Gehirnen von Frauen und Männern auf. Was bedeuten diese Unterschiede? Und für wen genau ist die Frage der Geschlechterdifferenz brisant, für die Gesellschaft oder für die Neurowissenschaft selbst?  

Obwohl die Neurowissenschaft heute methodisch von Algorithmen der AI durchzogen ist, oder gerade deswegen, gilt sie nach wie vor als Leitwissenschaft in unserer Gesellschaft. Fragen danach, wie sich beispielsweise menschliches Verhalten aus dem Gehirn ableiten lässt, Erziehung neuroplastisch im Gehirn manifestiert oder Krankheiten aller Art auf unser Gehirn auswirken, werden heute mit bildgebenden Verfahren und oft basierend auf maschinellem Lernen untersucht.

Vor diesem Hintergrund erfreut sich die Frage, ob sich Frauen und Männer in ihren Gehirnen unterschieden, vor allem in den Medien und der Populärwissenschaft nach wie vor großer Beliebtheit. Die wissenschaftlichen Inhalte hierzu werden von der kognitiven Neurowissenschaft produziert, doch kann man auch davon ausgehen, dass innerhalb dieser Disziplin der Frage des Geschlechts systematisch nachgegangen wird?

Die „Frage des Geschlechts“ bedeutet in der kognitiven Neurowissenschaft die „Suche nach Geschlechterdifferenzen“. Ein solches wissenschaftliches Feld kann man innerhalb der besagten Wissenschaft kaum ausfindig machen, und doch gibt es Hunderte von Studien, die auf Unterschiede zwischen der Gruppe der Frauen und jener der Männer hinweisen. Wie erklärt sich das? 

Die sogenannte Geschlechterdifferenzforschung lässt sich am Beispiel der bildgebenden Verfahren bis in die Anfänge dieser Methoden, also bis in die frühen 1990er Jahre, zurückverfolgen. Es wurden und werden in regelmäßigen Abständen signifikante Gruppenunterschiede, also Durchschnittswerte, zwischen der Gruppe der Frauen und der Gruppe der Männer in neurokognitiven Studien publiziert – meistens genau dann, wenn eine neue Methode entwickelt worden ist. Dieses Phänomen ließ sich sehr genau beobachten, als die Methoden MRI, fMRI, SPECT, TMS, oder einige ihrer spezifischen Untermethoden, wie resting state fMRI oder functional connectivity, entwickelt bzw. in der neurokognitiven Forschung am Menschen eingesetzt wurden: Wird eine Methode eingeführt, folgt kurze Zeit später mit Gewissheit eine Studie mit dem Titel beispielsweise „Resting state fMRI shows sex difference in ...“. 

Die Untersuchung der „Variable“ Geschlecht ist ein dankbares Vehikel für die Einführung von neuen Messtechniken, wenn gerade keine spezifischere Frage zur Hand ist: die Gruppe von Teilnehmenden „besteht“ ja fast immer aus der binären Gruppe von Frauen und Männern – nichtbinäre und genderfluide Identitäten bringen diese Praxis erst seit Kurzem leicht ins Schwanken. Da also die Wissenschaftler:innen in den Forschungsteams nicht primär am Thema Geschlecht interessiert sind und eine „klar“ dichotome Gruppenvariable „von Natur aus“ zur Untersuchung vorliegt, winkt die Chance eines signifikanten Ergebnisses und dessen Publikation. Geschlechtsunterschied als Nebenprodukt ist somit der häufigste Entstehungsweg von Geschlechterwissen im nichtklinischen Brain Imaging.  

Weitere forschungspragmatische Gegebenheiten durchziehen dieses lose Feld der Geschlechterdifferenzen. Nicht auf den Knopf des Gruppenvergleichs zu drücken, könnte eine verpasste Chance auf eine Publikation mit dem Titel „Significant differences in the brain of women and men in ...“ bedeuten. Dies ist nicht harmlos, herrscht doch in der Neurowissenschaft eine „Jagd nach signifikanten Differenzen“. Ohne signifikante Differenzen kein Resultat, ergo keine Publikation. Das führt zum allgemein bekannten Problem des Publikationsbias, das besagt, dass man sehr oft nur Unterschiede, nicht aber Nichtunterschiede publiziert, obwohl diese Nichtunterschiede ebenso Resultate sind, die die Welt gleichermaßen interessieren sollten. Studien, die keine Unterschiede aufweisen, landen in den Schubladen der Labore. Demgegenüber werden fast alle Studien, die Unterschiede aufzeigen, publiziert. Dieser Publikationsbias ist für die Geschlechterfrage besonders brisant. Man stelle sich also vor, wieviel Wissen über Ähnlichkeiten der Geschlechter nie das Tageslicht erblickt. Dieses Problem verstärkt sich in der Geschlechterdifferenzforschung durch falsch positive Fehler, die sich ergeben, wenn a posteriori nach Geschlechtsunterschieden gesucht wird, auch wenn es a priori keinen Grund gibt, dies zu tun. Dieser Fehler besagt, das eines von zwanzig Resultaten zufällig auftritt. Wenn also zwanzig Forscher:innen routinemäßig auf Geschlechtsunterschiede testen, dann wird ein:e Forscher:in, selbst wenn es keinen echten Unterschied zwischen den zwei untersuchten Geschlechtergruppen gibt, einen statistisch signifikanten Unterschied finden. Zusammengenommen führen diese Gegebenheiten dazu, dass sich die Populärwissenschaft und die Medien für diese Differenzen interessieren und sich das Bild von der fundamentalen neurobiologischen Differenz zwischen Frauen und Männern in der Gesellschaft hartnäckig festhält. 

Aus dieser Perspektive kann von einer realen Forschungspraxis in der nichtklinischen Neurowissenschaft gesprochen werden, die in regelmäßigen Abständen Geschlechterdifferenzen in die Welt sendet; ein kohärentes Forschungsfeld in der Neurowissenschaft aber, das Geschlechtsunterschiede akkumuliert und theoretisch einordnet, gibt es nicht. Dies mag daran liegen, dass die bloße Akkumulation von Geschlechterdifferenzen der eigentliche Sinn und Zweck der Frage ist, oder auch, dass es nicht nötig erscheint, alle publizierten Differenzen einmal in eine erklärende neurologische Gesamttheorie der Geschlechter münden zu lassen. 

Diesem frei flottierenden aber systematischen Entstehungsweg der Überproduktion von Geschlechtsunterschieden steht ein fester Zusammenschluss von Wissenschaftler:innen gegenüber, der intrinsisch motiviert, mit einem komplexen, nicht immer eindeutigen, bio-psycho-sozialen und intersektionalen Geschlecht in der Neurowissenschaft arbeitet. Das setzt Interdisziplinarität voraus. Die Forscher:innen dieses Netzwerkes wenden, in alter feministischer, naturwissenschaftskritischer Weise, ein situiertes, komplexes Modell von Geschlecht an. Das bedeutet eine kritische Berücksichtigung dessen, was als Differenz und was als Ähnlichkeit betrachtet wird, ein Ernstnehmen, dass Geschlecht auch Sozialisation bedeutet, eine Verschiebung des Fokus von Geschlecht auf Geschlechtsidentität und die Anerkennung der Tatsache, dass die Neurowissenschaft eine weiße, westliche Wissenschaft mit kolonialem Blut an den Händen ist. Und das alles bei gleichbleibender Beachtung der möglichen methodologisch-neurowissenschaftlichen Bias wie der oben erwähnten. Die Untersuchung von Geschlecht im Rahmen des Netzwerks NeuroGenderings (https://www.neurogenderings.org) ist also weder Zufall noch Standard-Routine; vielmehr gehen die Wissenschaftler:innen des Netzwerks dieser Fragestellung seit nunmehr über einem Jahrzehnt interdisziplinär und im Austausch miteinander nach. Ein Teil dieser Gruppe zieht wiederum vor, sich unter Einbezug von Geschlechterwissen auf die Disziplin der Neurowissenschaft zu beschränken, eine Praxis, die auch als empirical neurofeminism bezeichnet werden kann. 

So konnte die israelische Neurowissenschaftlerin Daphna Joel zeigen, dass das „typische“ Frauen- oder „typische“ Männergehirn so extrem selten ist, dass von einer Gegenüberstellung von „weiblichem“ versus „männlichem“ Gehirn kaum die Rede sein kann. Nachdem „Vorhersagbarkeit“ – wie in fast allen naturwissenschaftlichen methodischen Werkzeugen – das Schlüsselprinzip der Erkenntnis geworden ist, fand „predictability“ auch in die neurowissenschaftliche Praxis Eingang. Die spanische Neurowissenschaftlerin Carla Sanchis-Segura weist darauf hin, wie in den meisten bisher publizieren Studien zur multivariaten Analyse des Themas Gehirn und Geschlecht Vorhersagbarkeit mit Klassifikationsgenauigkeit verwechselt wurde. Häufig wird die hohe Klassifizierungsgenauigkeit von Machine-Learning-Algorithmen fälschlicherweise so interpretiert, als ob sie große Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen aufzeige. Dabei werden die Kennzahlen der Klassifizierungen zur direkten Schätzung des Grades der statistischen Unterscheidbarkeit der Gehirne von Frauen und Männern verwendet und so die Existenz von männlichen bzw. weiblichen Gehirnen „bestätigt“ – ein falscher Schluss, denn Klassifizierung und Schätzung sind unterschiedliche Konzepte.

Es sieht ganz danach aus, als ob sich die neuen AI-Algorithmen in die Reihe der Vehikel einordnen lassen, welche eine klare Geschlechterbinarität reproduzieren, natürlich zeitgerecht in Form der Vorhersagbarkeit. Durch die multivariaten Ansätze könnten jedoch gerade Methoden des maschinellen Lernens die Möglichkeit bieten, Dichotomien aufzubrechen. Werden wir diese Chance noch nutzen?


Anelis Kaiser Trujillo ist Professorin für Gender Studies in MINT an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. 2022 war sie Emma-Goldman-Fellow am IWM.