Migration und Demokratie

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Am 15. Mai hielt Lea Ypi auf dem Wiener Judenplatz die diesjährige Rede an Europa. Die Politikwissenschaftlerin beschwor den kosmopolitischen Geist der Aufklärung und forderte, dass Demokratie nicht auf kulturelle Zugehörigkeit reduziert wird.

Seit langem versagen liberale Gesellschaften an vielen Fronten. Lassen Sie mich nur drei nennen. Erstens, das Versagen demokratischer Politik: eine immer größer werdende Kluft zwischen Repräsentierenden und den Repräsentierten; ein Parteiensystem, das zunehmend wie ein Wirtschaftskartell funktioniert; eine Beziehung zwischen Politiker:innen und Bürger:innen, die dem Verhältnis eines Unternehmens zu seinen Konsumenten ähnelt.

Zweitens, ein Versagen in Sachen sozialer Gerechtigkeit: ein Wirtschaftssystem, das nicht dazu in der Lage ist, die Bedürfnisse der Schwächsten (Staatsbürger:innen und solche, die es nicht sind) zu erfüllen, das Funktionieren dieser Wirtschaft im Sinne aller zu gewährleisten und Mechanismen zu entwickeln, mit denen den organisierten Interessen von Oligarchen, Großkapital, wohlhabenden Gönnern, digitalen Unternehmensplattformen – kurzum, allen, die mit ihrem Geld politischen Einfluss erkaufen – entgegengetreten werden kann.

Drittens, ein Versagen der internationalen Solidarität; die Unfähigkeit, eine alternative Vision für eine Weltordnung zu entwerfen, inklusive einer Reform internationaler Organisationen, die tatsächlich die Interessen von schwachen Menschen wie Staaten repräsentieren; eine Weltordnung, die auf Kooperation und nicht auf Gegnerschaft beruht.

Die globalen Ungleichheiten, die zu asymmetrischer Migration führen, ergeben sich aus diesem komplexen Bild der Welt.

Das Problem besteht darin, dass wir ein Gesellschaftsmodell gewählt haben, das menschliche Beziehungen den Marktzwängen unterordnet. Eine politische Gemeinschaft, die diejenigen, die nicht zu ihr gehören und Zugehörigkeit nicht für sich einfordern können, für ihr Versagen verantwortlich macht, vermeidet es, sich ihrer Verantwortung zu stellen: Sie kann weiterhin den Schwächsten die Schuld geben und so tun, als habe sie Lösungen parat, sobald „das Andere“ keine Bedrohung mehr darstellt.

Das Versprechen der Rechten lautet: Sobald die Frage der Zugehörigkeit beantwortet worden ist, werden sich sämtliche Konflikte unserer Zeit in Wohlgefallen auflösen.

Migration ist jedoch nicht die Quelle des Problems, sondern lediglich das Symptom einer Krise. Und darin liegt das Versagen der Alternativen. Politischer Fortschritt ist zu einer Frage über die Regulierung der Bedingungen politischer Zugehörigkeit verkommen. Migration wird deshalb als Problem wahrgenommen, weil politische Zugehörigkeit als Lösung gesehen wird. Der Krieg der Kulturen ist deshalb so bedeutsam, weil es dabei um die Überwachung der Grenzen einer sozialen Gruppe geht, inklusive der Frage, wer in ihrem Namen sprechen darf. Wenn wir keinen Weg finden, anders über dieses Problem nachzudenken; wenn wir es nicht schaffen, die Rolle der Kultur und ihre Verbindung zur Demokratie und das Schicksal der Demokratie im Kapitalismus neu zu denken, ist es nur schwer vorstellbar, dass wir es schaffen eine Lösung zu entwickeln, die der Rechten nicht in die Hände spielt.

Und dennoch ist es nicht schwer, den Migrationsdiskurs der Rechten zu dekonstruieren. Grenzen als solche sind kein Problem, denn Grenzen waren schon immer (und werden es immer sein) für einige offen und für andere geschlossen.

Um dies deutlich zu machen, schauen wir uns zwei vorherrschende Tendenzen der jüngsten Zeit an. Der erste Trend betrifft die Ärmsten der Armen. Abgesehen von den aktuellen Bestrebungen, internationale Normen verletzend, abgelehnte Asylsuchende in Drittstaaten auszuweisen, ist der Weg zur Staatsbürgerschaft selbst für reguläre Migrant:innen nicht mehr gerade unkompliziert. Von Mindesteinkommensanforderungen für die Erlangung der Aufenthaltsgenehmigung bis hin zu Sprach- und Integrationsprüfungen bei der Beantragung der Staatsbürgerschaft können sich diese scheinbar harmlosen Maßnahmen in schier unüberwindbare Hindernisse verwandeln, die Neuankömmlinge dazu verdammen, in ihren Aufnahmegesellschaften dauerhaft Mitglieder zweiter Klasse zu sein. In dieser Hinsicht ist Migration nichts anderes als ein Krieg gegen die Schwächsten. Menschen, die kein politisches Mitspracherecht haben, lassen sich viel einfacher ausbeuten.

Der zweite Trend betrifft die sehr Wohlhabenden. Für sie sind Grenzen heute offener denn je, tatsächlich ist es immer einfacher geworden, eine Staatsbürgerschaft zu erwerben, indem man sie schlicht kauft. Zeitgleich mit der Veröffentlichung von Videos durch das Weiße Haus, in denen irreguläre Einwanderer beim Besteigen von Abschiebeflügen buchstäblich in Ketten gelegt wurden, kündigte Donald Trump an, reichen Personen, die Golden Green Cards beantragen, den Aufenthalt in den USA und einen Weg zur Staatsbürgerschaft für 5 Millionen Dollar verkaufen zu wollen. Das ist kein Einzelfall. Weltweit steht Finanzinvestoren, Immobilienentwicklern und Individuen, die bereit sind, sich gegen eine erhebliche Gebühr einen anderen Reisepass zu erkaufen, ein beschleunigtes und betreutes Verfahren zur Erlangung der Staatsbürgerschaft offen.

Beide Trends verweisen auf eine radikale Kehrtwende hinsichtlich unseres Verständnisses von Identität und Zugehörigkeit. Die Hoffnung der Sozialdemokratie im frühen 20. Jahrhundert bestand darin, dass die Demokratie zu einer Abschaffung von Klassen-, Geschlechter-, „Rassen“- und anderen Unterschieden führen würde. In den Worten des Gründungsvaters der Sozialdemokratie, Eduard Bernstein: „In der Demokratie lernen die Parteien und die hinter ihnen stehenden Klassen bald die Grenzen ihrer Macht kennen (…)“. Das Wahlrecht machte Bürger:innen zu Mitstreiter:innen in dem kollektiven Unterfangen, das Wohl der politischen Gemeinschaft als Ganzes zu fördern. Es war der Beginn eines Zeitalters, in dem Schranken in Bezug auf Eigentum, Alphabetisierung und Fachwissen infolge der politischen Mobilisierung für eine Ausweitung des Wahlrechts beseitigt wurden.

Im goldenen Zeitalter der Ausweitung des Zugangs zur Staatsbürgerschaft versprach Demokratie, die politische Gemeinschaft von den potenziell destruktiven Auswirkungen des Klassenkonflikts zu heilen; im Zeitalter der Einschränkung des Zugangs zur Staatsbürgerschaft kann dieser Kampf nicht länger von Institutionen mediiert, er kann nicht länger über die herkömmlichen Kanäle der politischen Teilhabe eingehegt werden. Wenn die Staatsbürgerschaft einigen wenigen vorbehalten bleibt und zu einer Ware wird, die gekauft, veräußert und getauscht werden kann, wird Demokratie zu einer Form der Oligarchie. Dann wird die Staatsbürgerschaft von einem Instrument der politischen Emanzipation zu einem Instrument der Unterdrückung.

Weder in den offiziellen Grundsatzpapieren der Sozialdemokratie noch in den Wahlprogrammen der Linksparteien scheint es darum zu gehen, Maßnahmen zu entwickeln, die diesem aktuellen Trend entgegenwirken und Abhilfe schaffen könnten. Die Degradierung der Demokratiepolitik zu einer Ethnopolitik und die Reduzierung von dem universellen, progressiven Ideal der Staatsbürgerschaft auf ein partikularistisches, konservatives Konzept schreitet weitgehend ungehindert voran.

Was ist nötig, um eine wirkliche Alternative zu entwickeln? Man darf nicht mitspielen. Man darf nicht zulassen, dass Demokratie auf Zugehörigkeit und der politische Konflikt auf einen kulturellen reduziert wird. Man muss die Frage der Migration im Kontext umfassender sozialer Ungerechtigkeit sehen, als hervorgebracht vom Niedergang des Wohlfahrtsstaates, gefolgt von der ungestraften Profitgier von Arbeitgebern, die die Armen (ob Einheimische oder Einwanderer) gegeneinander ausspielen. Es ist eine Diskussion darüber erforderlich, inwieweit die Krise der Sozialdemokratie mit einer über Jahrzehnte verfolgten Sozial- und Wirtschaftspolitik im In- und Ausland zusammenhängt, die darauf ausgerichtet ist, das organisierte Kapital zu stärken und die Schwachen zu entmündigen, und nicht mit der Zunahme kultureller Konflikte.

Das Problem besteht nicht einfach in der Existenz von mehr oder weniger offenen Grenzen, wie manche das Migrationsdilemma gerne darstellen. Das Problem ist, dass Exklusionsmechanismen innerhalb von Staaten wie zwischen Staaten einander dabei stützen, einer im Kern unhinterfragten Wirtschaftsordnung zu dienen und sie weiter zu stärken. Die Praxis, die Staatsbürgerschaft an die Reichen zu verkaufen und den Zugang zu ihr für diejenigen zu beschränken, die über geringe materielle Mittel, Bildung oder Bürgerkompetenzen verfügen, verrät viel über das Verhältnis zwischen dem Kapitalismus und dem vorgeblich demokratischen Staat. Wenn wir die Art und Weise, wie wir diese Beziehung begreifen, nicht ändern, werden wir auf eine schiefe Bahn geraten, wobei zuerst die irregulären Migrant:innen dran sein werden, dann die ansässigen Nicht-Staatsbürger:innen und schließlich die Bürger, die Mohamed und Abdallah heißen, genauso wie früher die Goldschmidts und die Levis. Ist es so schwer vorstellbar, dass das geschehen könnte? Können wir sagen, dass wir so etwas noch nie erlebt hätten?

Der vorliegende Text ist ein Ausschnitt aus Lea Ypis Rede an Europa. Aus dem Englischen von Katharina Hasewend.


Lea Ypi ist Professorin für Politische Theorie an der London School of Economics. 2024 war sie Gast am IWM.