Am 1. Oktober verstarb in seiner Geburtsstadt Berlin der Soziologe Claus Offe (1940–2025). Das IWM trauert um einen langjährigen Freund und Ratgeber. Offe war Mitglied des Akademischen Beirats und seit 2015 Non-Resident Permanent Fellow des IWM, vor allem aber ein außergewöhnlicher Gelehrter und wohlwollender Kollege, dessen intellektuelle Weitsicht beeindruckend war.
Im Dezember 1990 – die revolutionären Umbrüche in Osteuropa waren nur ein Jahr her, die deutsche Wiedervereinigung gerade besiegelt – veröffentlichte Claus Offe in der Wochenzeitung Die Zeit eine bemerkenswerte Stellungnahme: „Alles spricht dafür, dass der selbstgerechte Triumph der Konservativen und Liberalen darüber, nun von der Geschichte unwiderruflich ins Recht gesetzt worden zu sein, kurzlebig sein wird. Triumphgefühle retardieren nur das Lernvermögen. Die Probleme werden sich qualitativ und quantitativ potenzieren, denen mit den bisher probaten Mitteln des wirtschaftlichen Wachstums und der wohlfahrtsstaatlichen Befriedung allein nicht mehr beizukommen ist.“ (ZEIT Nr. 51/1990) Man mochte darin den bitteren Reflex eines Linken sehen, der von der Geschichte überholt worden war. Ein wohlfeiler Einwand, an dem zumindest so viel stimmt, dass Offe dem linken akademischen Milieu verbunden war. Er promovierte an der Universität Frankfurt, wo er anfangs Assistent von Jürgen Habermas war, und blieb mit der Frankfurter Schule wie auch mit Habermas persönlich weiterhin in einem produktiven Austausch. Allerdings war Offe das ziemliche Gegenteil eines Dogmatikers, weise und vorsichtig in seinen fachlichen Urteilen, manchmal gepaart mit einer feinen Ironie, dabei uneitel und wohlwollend im persönlichen Umgang, stets mit einem wachen Blick auch für divergierende Meinungen und einem starken Interesse am wissenschaftlichen Austausch.
Rückblickend fällt an Offes Stellungnahme für Die Zeit auf, wie klar er bereits in diesem historisch aufgeladenen Moment des Jahres 1990 die Probleme heraufziehen sah, die tatsächlich fortan den Liberalismus beschäftigen sollten. Sein Urteil hat nichts Nostalgisches, sondern ist getragen von einem nüchternen Blick auf die neuen systemischen Herausforderungen. Mit dem Wegfall des konkurrierenden Gesellschaftsmodells in Osteuropa, so Offes einsichtige Analyse, werde es dem Liberalismus fortan schwerer fallen, im direkten Vergleich seine Vorzüge geltend zu machen. Allein mit sich selbst ringend würden nun die inhärenten Probleme des Liberalismus stärker zutage treten. Und er hat recht behalten. 1989 war in dieser Betrachtung nicht nur das Jahr des Triumphes der liberalen westlichen Demokratie, sondern auch der Beginn für eine Krise dieses Modells, die im Gefühl des Triumphes zwar wenig Aufmerksamkeit fand, deren langfristige Erosion sich aber in den folgenden Jahrzehnten umso stärker zeigte.
Seine nach 1989 sich entwickelnde wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Systemveränderungen in Mittel- und Osteuropa war es auch, die Claus Offe in einen engeren Kontakt mit dem IWM brachte. 1992 initiierte das IWM ein vergleichendes Langzeitprogramm zu den sozialen Kosten des wirtschaftlichen Wandels in Mitteleuropa (SOCO), um die zentralen sozialen Fragen der postkommunistischen Transformation im ehemaligen Ostblock zu untersuchen. Als Mitglied des SOCO-Expertenkomitees gab Offe dem Programm entscheidende Impulse. Ebenso spielte er eine zentrale Rolle im langfristigen Forschungsschwerpunkt über Solidarität, den der Gründungsrektor Krzysztof Michalski 2004 am IWM etablierte. In all diesen Jahren war Offe auch ein viel gefragter Autor für die am Institut herausgegebene Zeitschrift Transit.
In einem Artikel, der im Winter 1999/2000 erschien, griff Offe – eindringlicher und ausführlicher, aber im Wesentlichen unverändert – genau dasselbe Motiv wieder auf, das ihn schon zehn Jahre früher beschäftigt hatte. In Anbetracht der Welle des Triumphes von neu entstehenden Demokratien weltweit, die prägend waren für die Geschichte im 4. Quartal des 20. Jahrhunderts, fragt der Autor, wie es sein könne, dass eine Staatsform, die an sich „farblos“ ist, solche Triumphe erlebt. Die Antwort, so Offe, ist „so überwältigend evident, dass die Frage selten gestellt wird: Die Einführung der Demokratie ist das Mittel, mit der Gesellschaften sich von ungerechten und bedrückenden Formen politischer Herrschaft befreien. Aber diese Antwort schafft sogleich das Problem, dass sie die Antwort auf die Anschlussfrage abschneidet. Diese lautet: Was leisten Demokratien sonst noch, d.h. über ihre Zweckdienlichkeit als Brechstange des Systemwechsels hinaus? Was spricht noch für die ‚Demokratie‘, wenn die Phase der ‚Demokratisierung‘ hinter uns liegt?“ (Transit Nr. 18, 1999/2000, S. 121) Die Demokratie ist also das, was entsteht, wenn andere, mit ihr rivalisierende Regimeformen sich überlebt haben. Allerdings führt der Zusammenbruch dieser unhaltbar gewordenen Herrschaftsstrukturen nach Offe „nur“ zur Demokratisierung, aber eben nicht auch zur Konsolidierung der Demokratie selbst.
Weitere fünf Jahre später schließlich konnte Offe in einem anderen Artikel für Transit dieser grundsätzlichen Sorge um die Demokratie nochmals eine konkretere Form geben, diesmal mit Blick auf die sich vergrößernde EU: Das „Dreigespann von zögerlichen Sozialdemokraten, aggressiven Marktliberalen und mehr oder weniger militanten Rechtspopulisten bildet den ideologischen Raum für den politischen Wettbewerb und die politischen Debatten in der EU-15, wobei zu erwarten ist, dass rechte anti-integrationistische Kräfte vom Übergang zur EU-25 eher noch profitieren werden.“ (Transit Nr. 28, 2004/2005, S. 197f.) Wieder sollte er recht behalten, und wieder erwies sich, wie treffend seine Warnung vor den Triumphgefühlen des Jahres 1990 war, wenn diese Transformation nicht zugleich von einem Bestreben um echte Konsolidierung der Demokratie getragen wird.
Bis 2015 war Claus Offe Professor für Politische Soziologie an der Hertie School of Governance in Berlin. Zuvor hatte er Lehrstühle für Politikwissenschaft und Politische Soziologie an den Universitäten Bielefeld (1975–1989) und Bremen (1989–1995) sowie an der Humboldt-Universität zu Berlin (1995–2005) inne. An der Humboldt-Universität wurde er in eben diesen politisch bewegten Jahren, die er so treffend analysierte, zu einer der herausragenden Persönlichkeiten einer Gründergeneration, die sich für die Neugestaltung der Sozialwissenschaften engagierten.
Offe wurde zu Forschungsaufenthalten von den renommiertesten Institutionen weltweit eingeladen, darunter das Institute for Advanced Study in Princeton, das Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences in Stanford, die Australian National University, die Harvard University, die University of California in Berkeley und die New School in New York. Er zählt zu den prominentesten Theoretikern der modernen Sozialwissenschaften und ist einer der meistzitierten Autoren der politischen Soziologie. Sein Werk wird unser Verständnis moderner Gesellschaften weiterhin prägen.
Mit dem IWM verband Claus Offe eine Vielzahl von gemeinsamen Aktivitäten, die sich nur kursorisch aufzählen lassen. Seit 1992 war er regelmäßig Fakultätsmitglied der jährlich in Cortona stattfindenden IWM-Sommerschulen. Und er war einer der ganz wenigen, der die beiden renommiertesten Vorlesungen des IWM bestritt. 2006 hielt er die IWM-Lectures in Human Sciences zum Thema „Soziale Macht: Formen, Kontrolle und Nutzen“. Im Jahr 2010 dann referierte er im Rahmen der jährlichen Jan-Patočka-Gedenkvorlesung „Über Verantwortung“. Sein letzter Besuch als Fellow am Institut erfolgte im Herbst 2021. Über drei Jahrzehnte war er ein verlässlicher Freund, Berater und unerschöpflicher Ideengeber.
Claus Offe hatte einen untrüglichen Blick für das Wesentliche in der Geschichte. Er hat, ganz nebenbei, auch die Geschichte des IWM entscheidend mitgeprägt. Sein Vermächtnis wird uns begleiten.
Ludger Hagedorn ist Philosoph und Permanent Fellow am IWM
