Im 20. Jahrhundert droht, so der spanische Philosoph José Ortega y Gasset, Europa an einer kulturellen Krise zu Grunde zu gehen. Dem Verständnis und der Überwindung dieser Krise widmet der Spanier sein Leben.
Vor 70 Jahren, am 18. Oktober 1955, starb José Ortega y Gasset, einer der brillantesten Geister, die Spanien je hervorgebracht hat. Ortega war nämlich nicht nur, wie Albert Camus ihn nannte, „der größte europäische Schriftsteller nach Nietzsche“, sondern auch eine herausragende Persönlichkeit innerhalb der philosophischen Zunft. So war es sein zentrales Anliegen, die Krise, in der sich Europa im 20. Jahrhundert befand, zu begreifen und durch die Begründung eines neuen Denkens zu überwinden.
Leben und Denken in Zeiten der Krise
Das prägende Ereignis im Leben des jungen Ortega, das seinem Denken bis ins späte Alter hinein seine Stoßrichtung verleihen sollte, war die Niederlage des Königreichs Spanien im Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898. Ortega, 1883 in Madrid geboren, war zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 16 Jahre alt, doch die düstere intellektuelle Stimmung infolge des Krieges begleitete Ortega durch seine gesamte Jugend hindurch. Mit dieser Niederlage nämlich verlor Spanien seine letzten bedeutenden Kolonien und besiegelte damit endgültig seinen Abstieg in die weltpolitische Bedeutungslosigkeit. Doch war dieser Macht- und Bedeutungsverlust keine plötzliche Katastrophe, sondern das Resultat einer allmählichen Entwicklung: Während Spanien im 16. und 17. Jahrhundert sowohl wirtschaftlich als auch politisch eines der einflussreichsten Länder der Welt war, begann bereits ab Ende des 17. Jahrhunderts eine gewisse Stagnation in wirtschaftlichen und kulturellen Dingen. Mit der spanischen Kriegsniederlage war der Tiefpunkt dieser Entwicklung erreicht, und das ehemals große Königreich war nicht viel mehr als ein relativ rückständiges Land an der Peripherie Europas.
Ortegas Philosophie ist nun eine Reaktion auf diese desaströse Entwicklung Spaniens, die er intellektuell zu durchdringen sucht. Doch spätestens seit dem Ende des Ersten Weltkriegs ist für Ortega klar, dass der spanische Niedergang nur ein Symptom einer umfassenderen Problemsituation darstellt: der Krise Europas. In Spanien selbst aber findet Ortega nicht das nötige philosophische Rüstzeug, um diese Krise verstehen zu können, weshalb er sich dem Land zuwandte, das damals die reichste philosophische Tradition besaß: Deutschland. So wie alle spanischen Intellektuellen seiner Generation war Ortega stark beeinflusst von Schopenhauer und Nietzsche, doch auch der Neukantianismus, Simmel, Husserl, Scheler, Hegel, Heidegger und Dilthey wurden im Laufe seines Lebens rege von Ortega rezipiert und ermöglichten ihm, ein eigenständiges Denken auf der Höhe der damaligen Zeit zu formulieren.
Ortega, mit gerade einmal 26 Jahren zum Professor an der Universität in Madrid ernannt, brachte den aktuellen philosophischen Diskurs Deutschlands nach Spanien und begründete dort die sogenannte „Schule von Madrid“. Ortegas Einfluss auf das Geistesleben Spaniens war enorm, doch mit Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs musste der liberal-konservative Ortega ins Exil, was sein kulturelles Wirken in Spanien abrupt beendete. Weder in seiner ersten noch in seiner zweiten Heimat, die nun von den Nationalsozialisten beherrscht wurde, fand Ortega zur damaligen Zeit ein Klima vor, in dem er wirken konnte oder wollte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte er nach Madrid zurück, doch wurde ihm die Lehre an der Universität unter der Franco-Diktatur verwehrt, und er konnte seine ehemalige Position im spanischen Kultursektor nicht wiederherstellen. Dafür aber sorgte sein Exil in Argentinien dafür, dass auch die lateinamerikanische Philosophie bis heute von dem Denken Ortegas profitiert.
Die Krise der europäischen Kultur
Ortega lebte und dachte in Zeiten großer Veränderungen und Krisen. Schon vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ahnte Ortega, dass die europäische Zivilisation kurz vor dem Kollaps stand, wie in seinem berühmtesten Buch Der Aufstand der Massen von 1930 nachzulesen ist. Obzwar dieser Text auch im deutschsprachigen Raum oft rezipiert wurde, bleibt er ohne die Kenntnis von Ortegas Gesamtwerk opak. Denn in Die Aufgabe unserer Zeit von 1923 oder in Im Geiste Galileis von 1933 wird klar, dass der Aufstand der Massen lediglich die Spitze des Eisbergs einer enormen kulturellen Krise ist. Der besagte Aufstand ist zwar ein besonders gefährliches Symptom, jedoch nicht Ursache oder Kern dieser Kulturkrise. So ist für Ortega früh klar, dass das Verständnis der Krise, um die es ihm seit seiner Jugend geht, abhängig ist von einem richtigen Verständnis von Kultur. Die Entstehung und historische Entwicklung von Kulturen als Hervorbringungen des Menschen ist ein zentrales Thema seines Denkens, weshalb Ortega sich an der Schnittstelle zwischen Anthropologie, Kultur- und Geschichtsphilosophie verorten ließe.
Die gesamte rationalistische Philosophie der abendländischen Tradition scheint Ortega aber nicht die nötigen Mittel zu liefern, um Kulturen und ihre Krisen tatsächlich verstehen zu können. Dies kann – so ist sich Ortega sicher – allein ein Denken, das das Leben des Menschen in seiner Unmittelbarkeit zu verstehen vermag. Nur ein solches Denken kann nämlich erklären, wie Kultur tatsächlich aus dem Leben hervorgeht. Daher entwickelt Ortega seine Kulturanalyse und Krisendiagnose unter dem Blickwinkel einer besonderen Lebensphilosophie, die er Ratiovitalismus nennt, da sie rationalistische und vitalistische Vereinseitigungen zu vermeiden sucht, und stattdessen Vernunft und Leben als symbiotische Einheit zu denken vermag.
Von diesem ratiovitalistischen Standpunkt aus zeigt sich Kultur als ein Konstrukt, das sich der Mensch erschafft, um sein Selbst- und Weltverhältnis einfacher organisieren zu können. Die Realität ist für den Menschen zunächst eine Frage ohne endgültige Antwort, und die Kultur – Kunst, Religion, Politik, Wissenschaft etc. – ist die institutionalisierte Suche nach Lösungen auf die praktischen und intellektuellen Rätsel des Daseins. Solche Antworten wiederum sind nicht unmittelbar Teil der Realität, sondern müssen vom Menschen kraft seiner Phantasie als kontingente Interpretationen hervorgebracht werden. Kultur ist zunächst genau dieser explikativ-interpretative Akt, sowie die Arbeit an und mit diesen Deutungen. Zugleich konstituiert sich Kultur aber auch aus den bereits bestehenden und konventionellen Lösungen selbst, die von einem Kollektiv alltäglich reproduziert werden, das heißt aus Standards des Denkens, Fühlens und Verhaltens. Kultur ist somit Sinnproduktion und Sinnprodukt zugleich, und somit ein sich wandelnder Sinnhorizont, der das chaotische Leben der Menschen orientieren kann. Ihr vitaler Zweck ist es, den Menschen über seine Welt aufzuklären und ihm so existentielle Sicherheit zu bieten.
Nichtdestotrotz kann es dazu kommen, dass die Menschen die eigentliche Funktion der Kultur verkennen und dem Glauben erliegen, dass sie reiner Selbstzweck sei. In diesem Fall wird Kultur um der Kultur willen produziert, und nicht mehr für den Menschen. So werden immer neue Erkenntnisse, Kunstwerke, Bräuche und Technologien hervorgebracht, die Fortschritte häufen sich und das Leben der Menschen wird reicher. Dies aber führt auch dazu, dass die Kultur immer komplizierter wird, so dass beispielsweise Kunst oder Wissenschaft für die breite Masse immer schwieriger nachzuvollziehen sind. Auf diese Weise entfremden sich die Menschen von ihrer Kultur, so dass diese ihren ursprünglichen Orientierungszweck nicht mehr erfüllen kann, da die Antworten, die die Kultur auf die Fragen des Lebens liefert, für die meisten nicht mehr verständlich sind. In solchen Situationen kommt es nach Ortega zu existentieller Verwirrung, gesellschaftlichen Unruhen, politischem und religiösem Extremismus, Demagogie und politisch-sozialen Machtkämpfen. Kurz: Es kommt zum Aufstand der Massen, der durch eine Entfesslung von Willkür und Gewalt die Fortschritte der Kultur zu zerstören vermag.
Gerade aber an einer solchen Kulturentfremdung leide, so Ortega, das Europa des 20. Jahrhunderts seit einiger Zeit. Daher benötige die europäische Kultur eine dringende Grunderneuerung. Eine solche versucht Ortega durchzuführen, indem er die – seit Beginn der Neuzeit herrschende und die Moderne charakterisierende – reine Vernunft durch die vitale Vernunft zu ersetzen suchte, die es vermag, ein radikal neues Denken zu begründen, und die europäische Kultur auf einen neuen Boden zu stellen. So war es die erklärte Lebensaufgabe des großen spanischen Philosophen, die reine Vernunft – und mit ihr die gesamte Moderne – zu überwinden und ein neues Zeitalter einzuläuten, gleichzeitig aber die Errungenschaften der Moderne zu bewahren. Oder in anderen Worten: Ortega sieht seine geistige Mission darin, Europa vor sich selbst zu retten und somit den Untergang des Abendlandes abzuwenden.
Alexander Strupp ist Doktorand in Philosophie an den Universitäten Wien und Kaiserslautern-Landau. Er ist Junior Fellow der Österreichischen Akademie der Wissenschaften am IWM (2025/26).
