Das neue, am IWM herausgegebene Buch von Rogers Brubaker zur Geschlechtsidentität stellt eine kritische Intervention in einer sehr kontroversen und ideologisierten Debatte der Gegenwart dar und gibt Anstoß zu einer umfassenden Reflexion über unsere Gesellschaft.
Im Frühjahr 2026 wird – noch vor der englischen Originalfassung – die deutsche Version des neuen Buches des Soziologen Rogers Brubaker im Buchhandel zu beziehen sein. Das Buch mit dem Titel Geschlechtsidentität: Die Karriere einer Kategorie beruht auf den IWM-Vorlesungen, die der Autor im Oktober 2025 in Wien gehalten hat.
Rogers Brubaker, Professor an der University of California, Los Angeles, ist einer der renommiertesten und einflussreichsten Soziologen der Gegenwart. Seine Arbeiten prägen seit Jahrzehnten die sozialtheoretische Diskussion maßgeblich. Analytische Schärfe, konzeptionelle Klarheit und Eleganz, robuste empirische Fundierung und eine klare und verständliche Sprache bei der Behandlung komplexer und in der Regel hochbrisanter Phänomene sind Markenzeichen seiner Schriften. Brubakers besonderes Interesse gilt der Wirkung sozialer Kategorien, die Erfahrung strukturieren und die er in Anlehnung an Pierre Bourdieu als principles of vision and division of the social world versteht. Seine Forschungen zu Ethnizität, Nationalität und Staatsbürgerschaft gehören längst zur Standardliteratur. Auch sein demnächst erscheinendes Buch ist einer sozialen Kategorie gewidmet.
Es ist freilich nicht das erste Mal, dass Brubaker seine Aufmerksamkeit auf Fragen von Geschlecht und Gender richtet. Vor dem Hintergrund der öffentlichen Debatten über Caitlyn Jenner und Rachel Dolezal in den USA erschien 2016 sein Buch Trans: Gender and Race in an Age of Unsettled Identities.1 Die Fälle von Jenner, einer Transfrau, die als Mann 1976 Olympiasieger im Zehnkampf wurde, und von Dolezal, einer Bürgerrechtsaktivistin, die sich als Schwarze fühlt und versteht, jedoch von ihren Eltern als Weiße „geoutet“ wurde, dienten Brubaker als Ausgangspunkte, um die Kategorien von Gender und Race unter die Lupe zu nehmen. Dabei wies er zum einen auf die wesentlichen Unterschiede im Hinblick auf die soziale Akzeptanz des Wandels von Gender- und Race-Positionen, zum anderen aber auch auf die zunehmende Kontingenz und Wandelbarkeit dieser Positionen hin. Hatte Brubaker 2016 auf den paradoxen Umstand aufmerksam gemacht, dass die Fluidität der Kategorie „Geschlecht“ auf eine größere Akzeptanz stößt als jene von Race, und dies, obwohl sie eine wesentlich stärkere biologische Fundierung hat, stellt er zehn Jahre später fest, dass Geschlechtsidentität zum Gegenstand äußerst kontroverser Debatten geworden ist, die sich nicht anhand einer traditionellen Rechts-Links-Polarisierung erklären lassen. Diese Entwicklung veranlasst ihn, sich erneut mit dem Gegenstand zu befassen. 
Brubaker konzentriert sich in seiner Analyse auf die Kategorie der „Geschlechtsidentität“ (gender identity) und nicht auf das innere Selbstgefühl, das die Kategorie bezeichnen soll. Dies erscheint nicht zuletzt als methodisch sinnvoll, sind doch die Wirkungsweisen der Kategorie reichlich beobachtbar. Denn unabhängig davon, ob „Geschlechtsidentität“ auf eine tiefe psychologische Realität verweist, hat ihre diskursive Ausarbeitung und institutionelle Verankerung in einer Vielzahl von Bereichen sie zu einer mächtigen und folgenreichen sozialen Realität gemacht.
Im ersten Teil des Buches analysiert Brubaker die Wirkungsweisen der Kategorie „Geschlechtsidentität“ und isoliert dabei vier Typen: performativ (wenn Individuen und andere gesellschaftlichen Akteure die Kategorie in Anspruch nehmen, um ein immer breiteres Spektrum von Dingen zu tun); produktiv (wenn die Kategorie neue Typen von Menschen in den Fokus rückt und sogar ins Leben ruft); interaktiv (wenn die Kategorie, aus ihrem ursprünglichen Kontext heraustritt, in den öffentlichen Diskurs gelangt und in Interaktion mit den „betroffenen“ Menschen neu verstanden wird); und regulativ (wenn Menschen gezwungen werden, sich mit Rückgriff auf diese Kategorie zu definieren). Damit ist das empirische Feld definiert.
Im zweiten Teil geht Brubaker der „Karriere“ der Kategorie nach. Auch wenn die Idee einer Diskrepanz zwischen „psychologischem“ und körperlichem „Geschlecht“ ihre Wurzeln in sexologischen Spekulationen des 19. Jahrhunderts in Europa hat, wurde die Kategorie „Geschlechtsidentität“ selbst – und die damit einhergehende Sprache – erst Mitte des 20. Jahrhunderts eingeführt. Institutionellen Eingang fand die Kategorie zunächst im hochspezialisierten und medikalisierten Kontext psychiatrischer Gutachten zu Intersexualität und Transsexualität, wo sie anfangs nur in seltenen Fällen als relevant angesehen wurde. Innerhalb weniger Jahrzehnte vermochte sie, sich in zahlreichen institutionellen Bereichen zu etablieren. Brubaker fokussiert insbesondere auf die Entwicklungen in den Bereichen der Medizin, des Rechts, der Verwaltung, der Datenerhebung und der Pädagogik und spricht von einer „stillen Revolution“: „still“, weil die institutionelle Verankerung der Kategorie auf wenig Widerstand stieß und kaum öffentliche Aufmerksamkeit erregte; „Revolution“, weil sie eine grundlegende Veränderung in der konzeptionellen Infrastruktur der sozialen Welt herbeiführte, indem sie eine neue Klassifikationsachse etablierte, die mit dem Geschlecht konkurrierte, es neu definierte oder sogar verdrängte.
Diese spektakuläre Erfolgsgeschichte der „Geschlechtsidentität“ lässt mehrere Fragen aufkommen: Wie wurde eine ursprünglich marginale Kategorie, die in einem sehr spezifischen und begrenzten Kontext eingeführt wurde und nur in seltenen Fällen relevant war, für alle relevant und sogar zentral für die Strukturierung sozialer Erfahrungen? Wie wurde aus einer spezialisierten medizinischen Kategorie eine allgemein verbindliche rechtliche und administrative Kategorie? Und wie kam es dazu, dass eine Kategorie, die ursprünglich als Ergänzung zu Geschlecht (sex) eingeführt wurde, in immer mehr Kontexten als grundlegender als das Geschlecht verstanden wurde? Brubaker identifziert fünf miteinander verflochtene Prozesse, die zur bemerkenswerten Entwicklung der „Geschlechtsidentität“ beigetragen haben.
Die großen öffentlichen Kontroversen über „Geschlechtsidentität“, die Mitte der 2010er-Jahre einsetzten, sind Gegenstand des dritten Teils des Buches. Brubaker stellt eine Verschiebung im öffentlichen Verständnis der Kategorie in dieser Zeit fest, die sie reif für moralische Panik und politische Ausbeutung durch die Rechte macht, ist jedoch der Überzeugung, dass die aktuellen Kontroversen mit Rückgriff auf eine Rechts-Links-Polarisierung nicht angemessen verstanden werden können, lässt diese doch einen wichtigen Teil der Geschichte unbeachtet. Er umreißt die kritische Haltung gegenüber geschlechtsidentitätsbejahender medizinischer Versorgung für Kinder und Jugendliche, die in den letzten zehn Jahren in einer Reihe von Ländern aus der liberalen Mitte hervorgegangen ist, und identifiziert drei allgemeinere Kritikpunkte an der Kategorie der Geschlechtsidentität – vorgebracht aus den Reihen genderkritischen Feminismus, der Lesben- und Schwulenbewegung sowie der Transgender-Bewegung –, die sich nicht auf einer Links-Rechts-Achse einordnen lassen. Diese Kritiken erkennen zwar an, dass soziale und medizinische Übergänge das Leiden vieler Transgender-Personen gelindert haben, und plädieren dafür, dass Transgender-Personen vor Diskriminierung in vielen Bereichen geschützt werden sollten, stellen jedoch die Verankerung der Geschlechtsidentität als zentrale medizinische, psychiatrische, therapeutische, rechtliche, bürokratische, pädagogische und statistische Kategorie in Frage.
Brubaker stellt fest, dass die stille institutionelle Verankerung der Geschlechtsidentität sowie die jüngste Welle öffentlicher Kontroversen in der gesamten westlichen Welt weitgehend ähnlich verliefen. Dennoch gab es sowohl hinsichtlich der Pfade der anfänglichen Institutionalisierung der Kategorie als auch hinsichtlich der Konturen, des Zeitpunkts und der Bedeutung ihrer Anfechtung erhebliche Unterschiede und nationale Besonderheiten. Wiewohl er sich in seiner Analyse in erster Linie (wenn auch nicht ausschließlich) auf die Vereinigten Staaten konzentriert, kann ein Großteil seiner Analyse auch auf andere Kontexte angewendet werden.
1 Deutsche Ausgabe: Trans. Gender und „Race“ in einer Zeit unsicherer Identitäten, übers. von Patricia Claire Kustenaar, Edition Patrick Frey, 2023)
