Martin Pollack: Leidenschaft für die Wahrheit

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Martin Pollack, der im Januar 2025 verstarb, war eine der großen, bestechenden Stimmen der österreichischen Publizistik und ein wahrer Freund des IWM. Im vergangenen Jahr noch hielt er auf Einladung des Instituts die Michalski-Memorial Lecture. Es war einer seiner letzten großen öffentlichen Auftritte und ein bewegendes Zeugnis seines Schaffens.

Martin Pollack hatte eine Leidenschaft für die Wahrheit. Es gab etwas Starkes, Unerbittliches in seiner Person, das danach drängte, weiter zu fragen, den Dingen nachzugehen, sich nicht zufrieden zu geben mit bloßen Beteuerungen, erst recht nicht Lügen und Verfälschungen zu akzeptieren. Diese Leidenschaft muss manchmal schmerzhaft gewesen sein – für andere, vielleicht mehr noch für ihn selbst. Dennoch war sie sein Antrieb und das, was den Weg ebnete für seine journalistische Karriere (u.a. als Redakteur und Auslandskorrespondent für den Spiegel), aber auch für sein schriftstellerisches Werk. Sein Buch „Der Tote im Bunker. Bericht über meinen Vater“ bescherte ihm im Jahr 2004 im Alter von 60 Jahren einen enormen, auch international viel beachteten Erfolg. Es war der Bericht über die wahre Geschichte seines Vaters, SS-Sturmbannführer Gerhard Bast, ebenso aber eine Geschichte über das Verschweigen und Vertuschen in den Familien wie auch in Österreichs öffentlichen Debatten nach dem Zweiten Weltkrieg.

Viele Jahre lang war Pollack Mitglied der Jury für das vom IWM zusammen mit der S. Fischer-Stiftung vergebene Paul Celan-Fellowship, ein Übersetzungsprogramm von wichtigen Werken der Geistes- und Sozialwissenschaften aus/in osteuropäische(-n) Sprachen. Seine besondere Expertise, ja seine Zuneigung galt allen Projekten, die mit Polen, Belarus und der Ukraine zu tun hatten. In Polen hatte er eine Zeit lang studiert, und seine emotionale Bindung an dieses Land (wie überhaupt seine Liebe zu Osteuropa) durfte man immer auch verstehen als eine späte und entschiedene Antwort auf seinen Vater, der gerade dort seine schlimmsten Verbrechen begangen hatte. Gleiches gilt für die Ukraine und für Belarus, deren Schicksal er besonders in den letzten Jahren – nach den Protesten in Belarus 2020/21 und dem russischen Überfall auf die Ukraine von 2022 – mit großem Interesse und einem bis zur Erschöpfung gehenden persönlichen Einsatz verfolgte. Sein Urteil, auch in der Jury, hatte Gewicht und wird schmerzhaft vermisst werden. Es war wie all sein Tun: unbestechlich und scharf, aber getragen von einem großen grundsätzlichen Wohlwollen.

Im Juni 2024 hielt Pollack die jährliche Krzysztof Michalski-Memorial Lecture am IWM. Sie war dem gewidmet, was über die Jahre zu seinem großen Thema geworden war: Österreichs teils nicht allzu unwillige, teils begeisterte Teilhabe am Aufstieg und an den Untaten des nationalsozialistischen Regimes sowie all das, was das Land nach dem Zweiten Weltkrieg daraus gelernt oder eben nicht gelernt hatte. Es war dies auf gleichermaßen bedrückende wie beeindruckende Weise auch die Geschichte seiner eigenen Familie. Die Aufdeckung dieser Geschichte und all das, was daraus als Aufgabe für weitere Nachforschung sowie nicht zuletzt auch an Verpflichtung und Verantwortung für das Geschehene erwuchs, beschäftigten Martin auch ganz persönlich. Immer aber war sein Fragen dabei so systematisch, dass es wie selbstverständlich auch auf die gesellschaftlichen und geschichtlichen Zusammenhänge ausgriff.

Der abendliche Vortrag in der Bibliothek des IWM, vorgebracht mit der ihm eigenen Disziplin, gezeichnet von seiner Erkrankung, war ein großer und bewegender Moment. Für Martin bedeutete er eine Anstrengung, aber bot auch die gern ergriffene Gelegenheit, seine große Geschichte noch einmal zusammenfassend zu beschwören. „The Long Shadow of a Sinister Past. A Never-Ending Story“, so betitelte er schließlich diesen Vortrag, und die akuten Bezüge auf die Gegenwart waren natürlich mitgedacht. Er war glücklich über die überwältigende Resonanz, glücklich auch, dass der Guardian den Vortrag sehr prominent und mit großem Erfolg in seiner Rubrik „The Long Read“ publizierte. „My family were all Nazis“, lautet der erste Satz dieses Artikels, ein Satz, der sich einbrennt.

Martin Pollack war scharf in seinen Urteilen, auch den Freunden gegenüber. Ebenso galt das für Nationen. Von seiner Liebe zu Polen war schon die Rede. Doch auch die hielt ihn nicht davon ab, die Entwicklungen im Lande seit der Regierungsübernahme der PiS im Jahre 2015 heftig zu kritisieren. Staatliche Institutionen erklärten daraufhin öffentlich, jede Zusammenarbeit mit ihm zu beenden. Ihn, den Botschafter der polnischen Kultur und Literatur, erzürnte das zurecht. Witzigerweise aber war er schon einmal in den 1980er Jahren von der damaligen kommunistischen Regierung in Polen wegen kritischer Äußerungen mit einem Einreiseverbot in das Land belegt worden war, und die Erinnerung daran konnte ihm nur Bestätigung sein, wie treffend sein Urteil offenbar war und wie sich die autoritären Reaktionen jeder Couleur ähneln.

Unzweideutig war auch Martins Solidarität mit der Ukraine. Er tat, was immer er tun konnte, um die Debatte in Österreich aus ihrer russischen Schräglage zu befreien (worin er übrigens nicht zufällig Parallelen und Überlappungen mit dem Diskurs über den Nationalsozialismus sah), um die ukrainische Literatur bekannter zu machen (im März 2022 organisierten wir als IWM zusammen mit ihm und dem Wiener Volkstheater einen Abend mit Stimmen für die Ukraine) oder um ganz praktisch befreundeten Menschen in der Ukraine zu helfen, kulturelle und journalistische Initiativen zu unterstützen etc.

Martin Pollacks Aktivitäten und sein Engagement waren über die Maßen beeindruckend. Als Schriftsteller, literarischer Übersetzer, Journalist und viel gefragte Person des öffentlichen Lebens war er nicht nur Teilnehmer und Begleiter von politischen und kulturellen Entwicklungen, sondern hat diese über Jahre maßgeblich geprägt. Noch im Jahr 2024, als ihm die Krankheit zunehmend zu schaffen machte, war seine Tätigkeit ruhelos. So rief er in diesem Jahr auch zur Solidarisierung mit dem Protest der Künstler:innen und Schriftsteller:innen in der Slowakei auf. Dazu schrieb er unermüdlich Emails. Die politischen Entwicklungen schienen ihm ein Fanal, dem entschieden entgegenzutreten ist. Und ohnehin haderte er mit der üblichen Ignoranz der Wahrnehmung für die Ereignisse in Bratislava, wo doch die Stadt kaum eine Stunde von Wien entfernt ist. Noch etwas ganz Wichtiges geschah aber in diesem Jahr, und es hängt ebenfalls mit der Slowakei zusammen: Es entstand ein Dokumentarfilm, in dem er den Spuren des mörderischen Tuns seines Vaters in der Slowakei folgte. Zur Premiere des Films fuhr er im August 2024 in die Slowakei. Noch ganz unter dem Eindruck dieses Besuches schrieb er mir am 10. September 2024 die folgenden Zeilen. Sie sind, wie Martin war: klar in der Benennung, präzise bei Ort und Zeit (die journalistische Schulung), perfekt bis aufs Komma (auch in der persönlichen Kommunikation) und – so wie diese Zeilen dastehen – Ausdruck seines Charakters und Spiegel seines Lebenswerkes. Er schrieb:

Am 27./28. 8. war ich (…) in Banská Bystrica, wo im Museum des Slowakischen Aufstandes erstmals der Fernsehfilm „Martin Pollack – Blick in den Abgrund“ für geladene Gäste gezeigt wurde. Am 29. 8., dem Jahrestag des Ausbruchs des Slowakischen Aufstandes [im Jahre 1944], wurde er dann im Fernsehen gezeigt. Mit großem Erfolg, wie ich höre und sehe. Für mich war das einerseits schön, andererseits aber natürlich auch sehr anstrengend und fordernd, sowohl physisch als auch, mehr noch, psychisch. Bei der Vorführung im Museum war eine alte Dame dabei, die in der kleinen Ortschaft Bully (bei Donovaly) Zeugin wurde, wie mein Vater und seine Männer Juden und Partisanen erschossen haben. Sie war damals sechs Jahre alt – neben ihr stand ein jüdischer Junge, zwei Jahre älter als sie, der von ihren Eltern versteckt wurde, und die beiden mussten das mitansehen. Wir haben einander umarmt und geküsst, sie hat geweint, ich habe geweint, es war wirklich beinahe kitschig, aber halt doch echt. Ach ja, mein Lieber, ich bin ja nun wirklich alt und einiges gewöhnt, doch an solche Szenen werde ich mich (Gott sei’s gedankt) nie gewöhnen.

Als IWM und ganz persönlich auch als Freunde sind wir tief betrübt über den Verlust von Martin Pollack. Seine unüberhörbare und unbestechliche Stimme ist verstummt, doch wir dürfen uns glücklich schätzen, dass er dem Institut über so viele Jahre eng verbunden war. „Lange Schatten“ erheben sich bedrohlich aus der Vergangenheit, Martins Mut und Leidenschaft aber strahlen herüber und werden uns begleiten.


Ludger Hagedorn ist Philosoph und Permanent Fellow am IWM.