Aussaat und Ernte in den Gärten Sarmatiens

IWMPost Article

Vor einem Jahr, am 23. Mai 2024, versammelten sich Freunde und Weggefährten zu Martin Pollacks 80. Geburtstag in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur. Wir kamen zusammen, um ihm zu gratulieren, ihn zu feiern, um ihm zu danken und um mit ihm zu sein. Aus seinen Texten und Übersetzungen wurde gelesen, aus den vielfältigen und  vielgestaltigen Zeugnissen seines Jahrzehnte langen Wirkens.

Ein Glück für uns, die wir in diesen hellen und heiteren Stunden dabei sein durften, und die er um sich haben mochte.

Ich lernte Martin Pollack 2004 kennen. Die gerade erst gegründete S. Fischer Stiftung hatte mit ihm verabredet, eine Anthologie mit Texten aus Belarus, Deutschland, Litauen, Polen und der Ukraine herauszugeben, die Sarmatische Landschaften. Martin Pollack lud 25 Autorinnen und Autoren ein, über ihr Sarmatien zu schreiben, über jene verschwundene Landschaft zwischen Weichsel und Wolga, Ostsee und Schwarzem Meer, über eine Weltengegend, die zum Mythos geworden ist – Sehnsuchtsraum und gleichsam Ort von Völkermord, Vertreibung und vergifteten Nachbarschaften.

Die Autorinnen und Autoren machten sich an die Arbeit, ihre Texte schlagen den Bogen aus der Vergangenheit in die Gegenwart, leuchten die sarmatischen Mythen aus, fragen nach Gemeinsamkeiten in diesem multiethnischen Gebiet – und dies mit einer von Hoffnung und Genauigkeit getragenen Haltung.

Martin Pollack war in den Monaten, als die Anthologie Gestalt annahm, viel auf Reisen, recherchierte für ein neues Buch vor allem in Belarus. Von unterwegs schickte er mir Postkarten mit Motiven, die alle irgendwie um Sarmatien und seine postsowjetischen Realitäten kreisten. Auch später erhielt ich dann und wann Postkarten von ihm, Grüße, Signale – wir sind in den 20 Jahren immer in Verbindung geblieben.

Und immer ging es im Miteinander mit ihm darum, das vermeintlich am Rande Liegende, das vermeintlich Abseitige (zurück) ins Zentrum zu holen. Unermüdlich bemühte er sich, verschwundene Welten wieder sichtbar zu machen, mindestens so wie Sarmatien galten ihm Galizien und Belarus, die Vielfalt der Ukraine und weitere Teile der polnischen Literatur als dringend auf die literarische und kulturgeschichtliche Tagesordnung Europas zu setzen. Dabei stellte er hohe Ansprüche an die erzählerische Qualität der Texte wie auch an die historisch-wissenschaftliche Genauigkeit. Das Politische allein reichte nicht aus, ging es ihm doch darum, falsche Mythen fundiert zu demaskieren und oktroyierte Tabus zu brechen.

Im Sommer 2020 begegnete ich Ludger Hagedorn. Martin Pollack meinte, wir sollten einander kennenlernen, da die Paul Celan Fellowships im IWM vielleicht ein gemeinsames Unterfangen von IWM und S. Fischer Stiftung werden könnten. Dies ist gelungen. Einige Jahre noch konnten wir gemeinsam mit ihm bei der Auswahl der Stipendiaten agieren, und wir sind entschlossen, dies auch weiterhin im gemeinsamen Sinne, wenn auch ohne ihn, zu tun. Martin Pollack war ein passionierter Gärtner. Auf seinem Hof in Bocksdorf im Südburgenland gedieh vielerlei Gemüse (eine Freude, ihn über die Qualität der neu-alten Salatsorten schwärmen zu hören), große Streuobstwiesen umgaben seinen Rückzugsort und die Bibliothek. Zum guten Gärtnern gehört wohl zu wissen, wann der richtige Moment zur Aussaat ist, wann ein Setzling gedeihen kann, und in welcher Erde was überhaupt, es bedarf der Geduld, des Langmuts, und es birgt das Geschenk der Ernte.

Am 17. Januar diesen Jahres ist Martin Pollack in Wien gestorben – der große Übersetzer, Mittler, Ermöglicher, der leidenschaftliche Erzähler und unbestechliche Historiker, der unaufdringliche Freund und Gärtner. Wir vermissen ihn sehr und wollen versuchen, die ausgelegten Fäden aufzunehmen und weiter am verbindenden Gewebe zu spinnen.

Im Mai 2025


Antje Contius ist Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der S. Fischer Stiftung.