Die Frage des Archivs „ist eine Frage von Zukunft, die Frage der Zukunft selbst, (…) eines Versprechens und einer Verantwortung für morgen.“ (Jacques Derrida, Dem Archiv verschrieben)
Schon länger angekündigt, macht das Archiv des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen in diesem Jahr seine Bestände zugänglich für Forschung und journalistische Recherche. Es ist mittlerweile das dritte Archiv am Institut. Das erste wurde in den 1980er Jahren aufgebaut und versammelt die Werke des tschechischen Philosophen Jan Patočka (1907 – 1977). Das zweite wurde nach dem Tod des Institutsgründers Krzysztof Michalski (1948 – 2013) eingerichtet und enthält seine philosophischen Schriften; es wurde 2019 eröffnet. Beide werden von Ludger Hagedorn geleitet.
Lange Zeit bewahrte das IWM seine Akten im Keller des Institutsgebäudes auf, ohne dass über eine Katalogisierung dieses über die Jahre beträchtlich angewachsenen Bestandes nachgedacht worden wäre. Der Blick war in die Zukunft gerichtet.
Der frühe Tod des Institutsgründers 2013 war ein Anlass, innezuhalten und zurückzublicken auf die bis dahin geleistete Arbeit – ein Kapital, das es zu bewahren und einzusetzen galt. Dafür sprach nicht zuletzt, dass das IWM 1989, wenige Jahre nach seiner Gründung, zu einem Ort nicht nur der Reflexion, sondern auch der Mitgestaltung der dramatischen Umbrüche wurde, die ganz Europa verändern sollten. Der Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft in Mittelosteuropa, der schließlich in der Erweiterung der Europäischen Union mündete – dieser komplexe und schwierige Prozess wurde in den zahlreichen Projekten des IWM aus jener Zeit wie in einem Hohlspiegel reflektiert. Die Papiere des Instituts dokumentieren so nicht nur dessen Geschichte, sondern stellen selbst historische Dokumente dar.
Unter dem Rektorat von Shalini Randeria einigte sich das Kollegium des IWM schnell darauf, die Unterlagen des Instituts zu bewahren, zu ordnen und in ein Archiv zu überführen. Dieses sollte zum einen als institutionelles Gedächtnis dienen, zum andern sollten seine forschungsbezogenen Bestände für alle Interessierten öffentlich zugänglich gemacht werden.
Die Archivarbeiten wurden von Hanna Fischer, Bibliothekarin des IWM, begonnen und liegen seit 2018 in den Händen ihrer Nachfolgerin, Katharina Gratz. Die umfangreichen Archivbestände des Instituts wurden in einer Tektonik gegliedert, die weitgehend der Struktur und Chronologie des IWM folgt. Dabei haben wir uns zunächst auf den Zeitraum 1982 (Gründung des Instituts) bis 2013 (Tod des Gründers) beschränkt. Die Struktur war bis 2013 relativ einfach: die meisten Aktivitäten des Instituts lassen sich Forschungsschwerpunkten zuordnen, die jeweils von den Permanent Fellows betreut wurden. Die Chronologie kann sich auf ein dichtes Berichtswesen stützen, das bis 2015 praktisch alle Aktivitäten des IWM lückenlos dokumentiert (Jahresprogramme, IWM Newsletter und die Nachfolgerin IWMpost, Tätigkeitsberichte und IWM-Websites). Im Mittelpunkt steht der die Forschung betreffende Teil des Archivs, der chronologisch nach Forschungsschwerpunkten gegliedert ist. Hinzu kommen u.a. die damit weitgehend korrespondierenden Veranstaltungen (Konferenzen, Workshops, Vorlesungsreihen, Vorträge, öffentliche Debatten, etc.) und die Publikationen.

Ein weiterer Teil des Archivs ist die Korrespondenz. Der umfangreiche Briefwechsel des Gründungsrektors wurde chronologisch und alphabetisch abgelegt und wird derzeit katalogisiert. Weitere Korrespondenz findet sich u.a. in den jeweiligen Projektordnern. Nicht zuletzt verfügt das IWM über eine unter der Ägide von David Soucek erstellte umfangreiche Veranstaltungs-Dokumentation in Gestalt eines Archivs von Photographien, die eingescannt und in einer Datenbank katalogisiert wurden, sowie eines Archivs von Tonaufnahmen, die digitalisiert und ebenfalls katalogisiert wurden. Die entsprechenden Digitalisate sind in einem online-Archiv gespeichert, das u.a. auch die oben genannten Chroniken, Dokumentationen sämtlicher Websites des Instituts, Working Paper-Reihen sowie andere Quellen enthält. Darüber hinaus wurden die 50 Nummern der von 1990 bis 2017 erschienenen Zeitschrift des Instituts, Transit – Europäische Revue, digitalisiert; sämtliche Artikel sind auf der IWM-Website zugänglich.
Die Papier-Dokumente wurden in der Regel in Aktenordnern abgelegt und aufbewahrt. Diese Ordner wurden so, wie sie überliefert sind, den Kategorien der Tektonik zugeordnet und mit entsprechenden Signaturen versehen, auf die sich die künftige Forschungsarbeit am Archiv beziehen kann.
Das bisher Gesagte bezieht sich auf physisch überlieferte Dokumente. Ab den 1990er Jahren wurde ein wachsender Teil der Unterlagen nur noch elektronisch auf dem Server des IWM abgelegt. Hier wurde eine erste Sichtung vorgenommen. Die Erstellung eines Archivs der digitalen Dokumente bleibt der nächsten Phase der Archivarbeiten vorbehalten.
Seit einiger Zeit ist das Archiv aus seinem Schattendasein als verstaubter Ort des Vergessens getreten. Denker wie Foucault oder Derrida haben einen „archival turn“ eingeleitet, der unsere Wahrnehmung dieser Institution tiefgreifend verändert hat. Man kann es nicht besser sagen als Aleida Assmann, die vom Archiv als Labor des Neuen spricht.
In diesem Geist sind die Archive am IWM konzipiert als Orte lebendiger Forschung. Kürzlich wurden Krzysztof Michalskis Reflexionen zu Nietzsche in deutscher Übersetzung publiziert, und letztes Jahr erschienen die Schriften Jan Patočkas zu Europa und Nach-Europa. Das Instituts-Archiv enthält einen reichen Fundus an Materialien, die noch der Erschließung harren. Und vielleicht wird eines Tages, gestützt auf diesen Bestand, eine intellektuelle Geschichte des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen geschrieben.
https://www.iwm.at/publications/list?category_id=40.
https://www.festwochen.at/das-archiv-als-labor-des-neuen.
Klaus Nellen ist Mitbegründer und ehemaliger Permanent Fellow des IWM.