Sprache und Krieg

IWMPost Article

Russland führt zur Rechtfertigung des Krieges im Donbas auch die Sicherheit der russischsprachigen Bevölkerung an. Ein Ukrainer aus Donezk berichtet über seine Erfahrungen im Land vor und nach der russischen Invasion.  

Für meine Familie und mich, die wir aus der Ostukraine geflüchtet sind, sowie für alle vernünftigen Ukrainer/-innen ist die „Spezialoperation“, wie der Kreml den groß angelegten Angriff auf die Ukraine nennt, eine logische Fortsetzung des „russischen Frühlings“ von 2014. Damals besetzten russische Freischärler, Söldner und Eliteeinheiten die Krim und die Ostukraine. In den russischen Massenmedien wurde dies als eine zwingend notwendige Spezialoperation zum Schutz der russischsprachigen Bevölkerung der Ukraine propagiert.

Natürlich gab es noch so manch andere Begründung zur Rechtfertigung der Eroberung des Gebietes, aber der Schutz der russischsprachigen Bevölkerung war wohl das Argument, das die Herzen der guten und humanistisch eingestellten Europäer/-innen zum Schmelzen bringen sollte. Die Eroberung von Territorien ist schließlich illegitim und eher untypisch für internationale Beziehungen. Aber was tun, wenn einem Großteil der russischsprachigen Bevölkerung Gefahr droht?

Ich bin in der Ukraine geboren, in der Stadt Donezk, einem Industriezentrum der Ostukraine. Die fünfundvierzig Jahre meines Lebens vor der Annexion des Gebietes durch Russland habe ich im Donbas verbracht. Meinen ersten Hochschulabschluss habe in russischer Philologie gemacht. Ich habe das Studium im russischsprachigen Donezk absolviert, wo niemand jemals jemandem verboten hat, Russisch zu sprechen oder zu schreiben. Meine ukrainischsprachigen Freunde/-innen in Donezk – denn die gab es in meinem Freundeskreis auch – hatten nie ein Problem mit meiner Russischsprachigkeit. Ich musste also weder vor meinen Freunden/-innen noch vor meinem Land beschützt werden. Als russischsprachiger Bürger lebte ich in völliger Sicherheit. Vielleicht ist es nicht bekannt, dass in unseren Pässen sogar Vor- und Nachname sowie Ausstellungsort und -behörde immer in beiden Sprachen angegeben waren.

Irgendwann in meinem Leben, zu Beginn der neunziger Jahre, fühlte ich mich zum Schreiben hingezogen. Nicht nur schrieb ich auf Russisch, mir wurden sogar internationale Literaturpreise in Moskau verliehen. Dort publizierte ich auch bedenkenlos in prominenten Zeitschriften und Verlagen. Auch dazu gab es in meinem Land nie abfällige Bemerkungen. Mir wurde nie zum Vorwurf gemacht, dass ich kein Ukrainisch spreche. Als Sprache der interethnischen Kommunikation war das Russische in Donezk die allgemein verbreitete Sprache. Aber die Dörfer und Kleinstädte in der Umgebung blieben noch lange rein ukrainischsprachig, und das trotz der Holodomor-Wellen der Jahre 1921-1923, 1932-1933 und 1946-1947, die in der Geschichte der russisch-ukrainischen Beziehungen die heftigsten, wenn auch nicht die ersten Episoden eines Genozids am ukrainischen Volk waren. Am schrecklichsten war der Holodomor 1932-1933. Fünf bis zehn Millionen Ukrainer/-innen kamen ums Leben, wodurch die Gebiete für die russischsprachigen Neuansiedler aus Russland und anderen Sowjetrepubliken „gesäubert“ wurden. Zieht man dazu die gewaltsame Kollektivierung der Landwirtschaft, die so genannte Entkulakisierung, die barbarischen Zwangsrequirierungen von Getreide und den Massenterror auf dem Land, die dem Holodomor vorausgingen, in Betracht, kann man über die Lebenskraft des ukrainischen Volkes, das unter diesen Bedingungen seine Traditionen und Sprache bewahrte, nur staunen.

Zudem stand fast das gesamte zweite Drittel des 20. Jahrhunderts unter dem Zeichen einer staatlich geführten Russifizierung und Verdrängung des Ukrainischen aus dem Alltag der Bevölkerung im Donbas. Was dem sowjetischen Machtapparat vor dem Krieg nicht gelungen war, wurde in beschleunigtem Tempo danach umgesetzt. Sprachgrenzen zwischen den verschiedenen Generationen ein- und derselben Familie waren recht verbreitet. In meiner Familie war Russisch die Muttersprache meiner Mutter und meines Vaters. Ihre Eltern hatten sich bemüht, mit ihnen nur Russisch zu sprechen, war dies doch die Sprache der Metropole. Leute, die kein Russisch sprachen, waren wie Parias und hatten keinerlei Bildungs- und Aufstiegschancen. Die Muttersprache meiner Großmütter war hingegen Ukrainisch. Deshalb las ich die ersten Bücher auf Russisch, hörte aber die ersten Märchen auf Ukrainisch oder genauer: auf Surschyk, einer Variante des Ukrainischen, die im Osten des Landes gesprochen wird.

Diese Sprachsituation war nicht nur für meine Familie bezeichnend. In unserer Region gab es keinerlei Anlass für sprachliche Konflikte und Missverständnisse. Wir waren alle wie eine Familie, und den Menschen im Donbas war das Ukrainische nie fremd. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen den verschiedenen kulturellen Zentren eines Landes. Der Westen und der Osten der Ukraine waren und sind recht verschieden. In den Städten der jeweiligen Region zeigte sich immer eine Tendenz zu diesen oder jenen kulturellen Bezugspunkten. Schließlich waren auch die kulturellen und historischen Entstehungsbedingungen der urbanen Agglomerationen unterschiedlich. Die russischen Eroberer kamen zu einem Zeitpunkt, als sich dieses Land mit den vielen Sprachen und der großen Ausdehnung gerade seiner selbst bewusst wurde; als positive und wirkmächtige Prozesse, die die verschiedenen Sprachen und kulturellen Traditionen miteinander verbinden sollten, in Gang waren. Für Russland war dies völlig inakzeptabel. Die Führung dieses panimperialen Gebildes krankte fortwährend an dem Traum von der Wiederherstellung der Sowjetunion, wenn auch in einer neuen Konfiguration. Der Kreml konnte der Ukraine einfach nicht erlauben, ein im besten Sinne freies europäisches Land zu werden. Deshalb machte ich mir 2014, als russische Kämpfer in meine Stadt kamen, keinerlei Illusionen, zumal ihre Parolen nichts als Entsetzen und Empörung auslösten. Ich musste nie beschützt werden. Niemals. Und da waren nun die Beschützer gekommen, vor denen ich so schnell wie möglich fliehen musste. Ein Blick auf diese „Befreier“ genügte, um zu begreifen, dass es meiner Stadt kein gutes Leben mehr beschieden war, zumindest nicht solange sie da wären. In meine Stadt, in meine Region waren Banditen gekommen. Sie drangsalierten und ermordeten ukrainischsprachige Einwohner/-innen, plünderten und erpressten Unternehmen, trieben sowohl den Industrie- als auch den Agrarsektor in den Ruin, und dabei derart haltlose Lügen verbreitet, die man wohl nur aus der sicheren Entfernung Österreichs oder Frankreichs für wahr halten konnte – und das, nur wenn man von der ukrainischen Realität überhaupt nichts verstand oder nicht verstehen wollte, was oft genug der Fall war.

Als ich 2014 mit meiner Familie nach Kyjiw kam, beschloss ich in Anbetracht der Lügen in den russischen Medien, die ukrainische Sprache auf einem Niveau zu erlernen, das mir erlauben würde, literarische Texte auf Ukrainisch zu verfassen. Ich wollte allen, die Augen und ein Gewissen haben, zeigen, dass die ukrainische Sprache und Staatlichkeit für eine/-n Ukrainer/-in, wenn auch eine/-n russischsprachige/-n, nie eine Bedrohung darstellten oder darstellen würden. Damals war ich fünfundvierzig. Ich las Ukrainisch, konnte es aber so gut wie nicht sprechen. Ukrainisch schreiben zu lernen war für mich eine gewaltige Aufgabe. Aber vor einigen Jahren schrieb ich meinen ersten Roman auf Ukrainisch, der im Februar dieses Jahres in einer englischen Übersetzung von Mark Andryczyk erschienen ist (Mondegreen: Songs about Death and Love, Harvard University Press). Die Tatsache, dass das Erscheinen dieses Buches mit dem russischen Angriff auf die Ukraine zeitlich zusammenfiel, steht im offensichtlichen Widerspruch zur Vorstellung, die russischsprachige Bevölkerung müsste beschützt werden.

Alle, die auch nur ansatzweise mit den Ereignissen im besetzten Donbas und auf der Krim vertraut sind, wissene schon längst, dass das Schicksal der Bevölkerung dieser Regionen die russischen Besatzern völlig kaltlässt. Zuerst wurden sie für Propagandazwecke, jetzt als militärische Ressource benutzt. In Donezk zwingen russische Soldaten alle Männer bis zum Alter von 65, gegen die Ukraine zu kämpfen. Meistens schicken sie diese Einheiten in den sicheren Tod, um herauszufinden, wo genau die ukrainischen Truppen und Verteidigungsanlagen positioniert sind. So wie die Russen diese unglückseligen und größtenteils russischsprachigen Menschen behandeln, würde man keine Tiere behandeln. Kanonenfutter oder lebende Schutzschilde – das ist der reale Status der Bevölkerung im besetzten Donbas für die russischen Eroberer. Das ist wohl ihre wirkliche Einstellung gegenüber jedem Volk, jeder Nation und jeder Sprache, außer ihrer eigenen.

Aus dem Ukrainischen von Lydia Nagel


Volodymyr Rafeyenko ist ein ukrainischer Schriftsteller und Literaturkritiker. 2017 war er Visiting Fellow am IWM.

This article appeared in the special Ukraine supplement to IWMPost 129