Leningrader Untergrund und die Rückkehr der Poesie

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Im Leningrad der Nachkriegsjahre wuchs eine Generation heran, welche maßgeblich an der Wiederbelebung der Poesie beteiligt war. Nach und nach formten der zukünftige Nobelpreisträger Joseph Brodsky und viele andere, heute vergessene Künstler:innen eine zweite, der offiziellen Kultur entgegengesetzte Strömung, die u.a. den Samisdat hervorbrachte.

St. Petersburg, Pompeji

Seit 1991 gibt es wieder ein St. Petersburg. Die politischen Ereignisse widerspiegelnd, wurde die Stadt im Lauf seiner jungen Geschichte in Petrograd und Leningrad umbenannt, was viele Bewohner nicht davon abhielt, sie liebevoll „Piter“ zu nennen. Von Zar Peter dem Großen aus den Sümpfen einer dem Menschen feindlich gesinnten nördlichen Landschaft gestampft, entwickelte sich die als Fenster nach Europa angelegte Stadt trotz ihrer überwältigenden Pracht zum Schauplatz eines tragischen Schicksals, welches man heutzutage vielerorts erahnen kann. Spaziert man den Newski-Prospekt – eine der Hauptstraßen und bekanntesten Flaniermeilen der Stadt – entlang in Richtung der „ewigen, kühlen Newa“, die goldene Spitze der Admiralität stets im Blickfeld, muss man genau hinschauen (und -hören), um hinter den Fassaden der Palais, Kirchen und Kaufhäuser das Pompeji vergangener Tage zu erkennen.

Eine ganz besondere Bedeutung wurde der Stadt in der russischen Literatur zuteil, die in dem Dichter Alexander Puschkin ihren Gründungsvater sieht. Den Stellenwert des Petersburger Mythos in der Selbstidentifizierung der Russ:innen hervorhebend, sprach der Kulturwissenschaftler Wladimir Toporow vom „Petersburger Text der russischen Literatur“ – einer textuellen Verkörperung der Stadt, in welcher sich das Reale und das Fiktive überschneiden, ergänzen und widerlegen.

Die Vergeudung der Dichter

Nach dem bolschewistischen Umsturz kam das literarische Leben der Stadt langsam zum Erliegen. Der Tod zweier Petersburger Dichter im August 1921 – Alexander Blok und Nikolai Gumiljow – leitete das Ende des sogenannten Silbernen Zeitalters ein, einer der ergiebigsten Phasen der russischen Literatur. Die literarische Evolution wurde von einer Generation unterbrochen, die „ihre Dichter vergeudet hat“. Es folgten die düsteren Jahre von Stalins Gewaltherrschaft, der Rote Terror sowie der Große Vaterländische Krieg mit der Leningrader Blockade. Mit wenigen Ausnahmen musste sich die Literatur dem während des ersten Allunionskongresses der sowjetischen Schriftsteller:innen im August 1934 proklamierten sozialistischen Realismus fügen, der fortan zur verbindlichen künstlerischen Methode wurde. Im engen Rahmen des Sozrealismus war künstlerische Freiheit nicht vorgesehen; jedes noch so schwache Aufleuchten von Individualität wurde als konterrevolutionär und systemkritisch erachtet. Der Staatsapparat zeigte damit abermals, dass die Unterdrückung der Meinungsfreiheit und des freien, den Anschluss an die Weltkultur suchenden Wortes sensu stricto zu seinen wichtigsten Kontrollinstrumenten gehörte. Dem künstlerischen Wort wurde in Russland von Anfang an der Kampf angesagt, sodass es immer wieder in den Untergrund flüchten musste. An der Zähmung des Wortes waren nicht nur staatliche Bürokraten beteiligt, sondern auch die Herrschenden selbst: 1826 erklärte Zar Nikolas I., er würde die Rolle des persönlichen Zensors des bereits erwähnten Alexander Puschkin übernehmen; 1934 erhielt Boris Pasternak, Dichter und zukünftiger Autor des Romans Doktor Schiwago, einen Anruf von Josef Stalin höchstpersönlich, der ihn über seinen Dichterkollegen Ossip Mandelstam befragte. Wie sehr mussten doch die Herrscher die Macht des Wortes fürchten, dass sie sich entschließen, direkt in den literarischen Prozess einzugreifen?

Die Anfänge des Samisdat

Die Nachkriegsjahre waren von Trostlosigkeit und Desillusionierung geprägt: Obwohl die Literatur nach dem Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion mehr Freiheiten genoss – es galt schließlich, einen Krieg zu gewinnen – und dadurch gewisse Hoffnungen geweckt wurden, wurde sie nach dem Krieg wieder dem repressiven Staatsapparat untergeordnet. Die Leningrader Literat:innen befanden sich in einer schwierigeren Lage als ihre Moskauer Kollegen:innen. Da der administrativ-ideologische Druck einerseits von der Zentrale in Moskau, andererseits von örtlichen Behörden ausging, blieben den Schriftsteller:innen in der „nördlichen Hauptstadt“ wenig künstlerische Freiheiten. Dies hatte zur Folge, dass sich eine inoffizielle kulturelle Strömung zu formieren begann, welche schließlich den Samisdat hervorbrachte – die Selbstverlegung, -vervielfältigung und -verbreitung von Texten, welche aus unterschiedlichen Gründen nicht in der offiziellen Kultur erscheinen konnten. Eine der wichtigsten Funktionen des Samisdat war folglich der Schutz des freien Wortes, sprich: Gedankens. Es war auch sein Verdienst, dass die Kultur der vorrevolutionären russischen Welt – einem verloren geglaubten Paradies – erhalten blieb und, wie Nadeschda Mandelstam, Ossip Mandelstams Witwe, bemerkte, ein neuer, äußert feinfühliger Leser geboren wurde, welcher imstande war, die Spuren des „Pompeji des Nordens“ zu bemerken und zu lesen.
 
Die inoffizielle Kultur der Nachkriegsjahre (spätere Selbstbezeichnungen waren u.a. „zweite Kultur“, „nonkonformistische Kultur“, „Andegraund“ [sic]) befasste sich zunächst nicht mit dem illegalen Kopieren von Texten, sondern von Musik. Vinyl war in der Sowjetunion Mangelware, was einige erfinderische Köpfe – allen voran Boris Tajgin (eigentlich Boris Pawlinow), der später auch einen Samisdat-Verlag gründete – dazu verleitete, von Krankenhäusern entsorgte Röntgenbilder zu verfremden und als Vinyl-Ersatz zu benutzen. Die Aufnahmen wurden zurechtgeschnitten und mit Musik bespielt: Auf diese Weise entstand „Musik auf Rippen“. Für diese Palimpseste der besonderen Art bezahlte Tajgin mit einigen Jahren Haft in einem GULAG-Lager.

Das Kontinuum der Dichtung

Tajgin gehörte einer außergewöhnlichen Generation an, der wir zu großem Dank verpflichtet sind, da sie an der Rückkehr der Poesie in den literarischen Kanon beteiligt war. Es war eine Generation, die vor allem mit dem Dichter Joseph Brodsky in Verbindung gebracht wird. Seine Zugehörigkeit zu dieser Generation unterstreichend – für den Individualisten Brodsky ein überraschendes Zugeständnis – zollte er ihr in seiner Rede an der Schwedischen Königlichen Akademie Tribut, als er 1987 den Nobelpreis für Literatur entgegennahm. Als monolithische Präsenz in der russischen Literatur wirft Brodsky allerdings einen Schatten auf andere Vertreter:innen seiner Generation, deren Jugend und frühes Erwachsenenalter in die sogenannte Tauwetter-Periode fallen, eine Zeit der Entstalinisierung und mäßigen Liberalisierung unter Nikita Chruschtschow. Dabei wird oft übersehen, dass kreative Tätigkeit selten in vollkommener Isolation stattfindet, sondern auf das Zusammenspiel mit anderen Akteur:innen angewiesen ist. In der Leningrader Kulturszene der frühen 1950er Jahre waren unterschiedliche Formen von Netzwerken (Kreise, Künstlergruppen, LITOs, d.h. literarische Vereinigungen meist an Hochschulen), die zunächst an der Grenze zwischen offizieller und inoffizieller Kultur existierten und dann in den künstlerischen Untergrund übergingen, maßgeblich an der Wiederbelebung der Poesie und literarischen Tradition beteiligt. Eines der ersten Netzwerke dieser Art war der kleine Arefjew-Kreis, der noch in den 1940er Jahren entstand. Alexander Arefjew und seine Freunde waren von der Akademie der Künste verbannte Maler:innen, welche sich meistens in der Kommunalwohnung des Dichters Roald Mandelstam trafen (der letzte von ihnen, Walentin Gromow, verstarb am 9. Oktober dieses Jahres in St. Petersburg). Der „dritte Mandelstam“, wie man ihn nennen könnte (nach Ossip Mandelstam und dem nach Paris emigrierten Jurij Mandelstam – familiäre Beziehungen sucht man hier vergeblich), war schwerkrank und starb im Alter von nur 28 Jahren. In seinem kurzen Leben schrieb er Gedichte, die in ihrer Form und Bildsprache an das Silberne Zeitalter erinnern und von Sehnsucht nach Weltkultur durchdrungen sind; kein einziges wurde zu seinen Lebzeiten publiziert. Manche nannten ihn den „letzten Dichter des Silbernen Zeitalters“. Mandelstam selbst sah sich als poète maudit: aus der Gesellschaft verbannt, in der Weltkultur verankert. Mandelstam ist einer von vielen, die (wieder-)entdeckt werden müssen, um eine der düstersten Perioden in der russischen Literaturgeschichte besser verstehen zu können und das literarische Kontinuum wiederherzustellen.


Julian Pokay ist Slawist und Doktorand an der Harvard University. 2022 war er Józef Tischner Junior Visiting Fellow am IWM.