Feministische Politik und Fürsorge

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Feministische Politik gewinnt in Demokratien wie auch autoritären Ländern, insbesondere aber in den gegenwärtigen Kriegssituationen zunehmend an Bedeutung. Fragen der Fürsorge kommt dabei eine zentrale Rolle zu.

Am 7. Juli 2022 erschien inmitten des Krieges das Ukrainische Feministische Manifest „Recht auf Widerstand“.  Es beginnt mit einem Aufruf zur internationalen feministischen Solidarität mit dem Widerstand des ukrainischen Volkes gegen den imperialistischen Angriff Russlands und enthält eine Reihe von Forderungen nach grundlegenden Menschenrechten. Das wichtigste Anliegen des Manifests ist jedoch, gerade auf die geschlechtsspezifischen Aspekte der Gewalt hinzuweisen. Deshalb fordern die Verfasserinnen neben dem Recht auf Selbstbestimmung, dem Schutz von Leben und Grundfreiheiten sowie dem Recht auf Selbstverteidigung des ukrainischen Volkes ausdrücklich, die Interessen und Rechte von Arbeiter*innen, Frauen und Mädchen, LGBTIQ+ Menschen, ethnischen Minderheiten und anderen unterdrückten und diskriminierten Gruppen zu berücksichtigen.

Die ukrainischen Feministinnen verbinden dies auch mit zwei weiteren Forderungen, die – über die unmittelbare Situation des Krieges hinaus – von besonderer Relevanz sind: erstens wird die Notwendigkeit angemahnt, nach dem Krieg beim Wiederaufbau der Ukraine dem Bereich der sozialen Reproduktion (einschließlich Kindergärten, Schulen, medizinischer Einrichtungen usw.) eine Priorität einzuräumen, zweitens soll insgesamt die Sichtbarkeit und Anerkennung der aktiven Rolle von Frauen hervorgehoben und die gleichberechtigte Einbeziehung von Frauen in alle gesellschaftlichen Prozesse in Kriegs- wie in Friedenszeiten sichergestellt sein.

Baerbocks „Feministische Außenpolitik“

Diese Forderungen der ukrainischen Feministinnen und ihre gesellschaftlichen Visionen weisen Ähnlichkeiten mit der „Feministischen Außenpolitik“ auf, die im Februar 2023 von der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock vorgestellt wurde. Das Dokument des Ministeriums stuft die Vergewaltigung in bewaffneten Konflikten unmissverständlich als Kriegsverbrechen ein. Ferner weist es auf den Umstand hin, dass die aktive Beteiligung von Frauen an Konfliktlösungen die Chancen auf einen nachhaltigen Frieden erhöht. Feministische Außenpolitik setzt sich für die Kontrolle der Produktion, der Verbreitung und des Exports von Waffen aller Art ein und fordert ein gendersensibles und genderspezifisches Krisenmanagement sowie entsprechende humanitäre Hilfsprogramme.

Interessant ist aber auch, dass das Dokument gerade mit dem Zitat einer Ukrainerin noch aus der Zeit vor der Eskalation des Krieges beginnt: „Solange Frauen nicht sicher sind, ist niemand sicher.“ Dieser Satz enthält in nuce die Grundüberzeugung feministischer Politik, dass die geforderte Rechts- und Chancengleichheit für Frauen letztlich einen gesellschaftlichen Zugewinn für alle bedeutet. Die Verwirklichung dieser Rechte von Frauen kann auch als ein Gradmesser verstanden werden, an dem sich der Zustand moderner Gesellschaften beurteilen lässt. 

Das Konzept einer feministischen Außenpolitik hat in der deutschen Gesellschaft eine breite Diskussion ausgelöst. Der Paritätische Wohlfahrtsverband Hamburg betonte, dass Deutschland neben einer feministischen Außenpolitik auch eine erneuerte feministische Innenpolitik brauche. Denn trotz der in Deutschland formal existierenden Gleichstellung der Geschlechter fehlten in vielen gesellschaftlichen und politischen Bereichen noch immer Mechanismen, die diese fördern. Ungleichheiten hätten sich seit der Covid-Pandemie teilweise sogar noch verstärkt. Deutsche Frauen stellten nur 16 Prozent der Eigentümer der 200 größten Unternehmen und besetzten nur 28 Prozent der Aufsichts- und Führungspositionen, verdienten im Durchschnitt 18 Prozent weniger als Männer, leisteten aber dabei anderthalbmal so viel unbezahlte Care-Arbeit.      

Care-Arbeit im feministischen Kontext

Dass die ukrainischen Feministinnen in ihrem Manifest gerade die Care-Arbeit hervorheben, ist alles andere als zufällig. Care-Arbeit ist eine grundlegende Säule der sozialen Reproduktion und heute einer der wichtigsten Kontexte im Kampf um weibliche Gleichberechtigung. Jüngste Massenproteste mit Frauen als sichtbaren Anführerinnen – in Polen, Belarus, Iran – und viele weithin sichtbare Praktiken des Widerstands von Frauen in autoritären Gesellschaften haben der Fürsorge eine neue mediale Aufmerksamkeit verliehen. In den Worten der belarussischen Kuratorin Antonina Stebur und des Künstlers Alexej Tolstow im Zusammenhang mit den Protesten in Belarus 2020: „In einer Situation, wo jede Bürgerin und jeder Bürger die Instabilität und Fragilität der eigenen Existenz erfährt, wird Fürsorge zur zentralen politischen Botschaft und zu einem Programm.“

Gerade die Protestbewegungen in Belarus können als gutes Beispiel für die Bedeutung der Care-Arbeit dienen. Die Fürsorge für die Anderen bekundete sich in einer Vielzahl von Praktiken der Solidarität und gegenseitigen Unterstützung. Menschen zu vernetzen, kleine oder größere Gemeinschaften der Fürsorge zu schaffen, war eine wichtige Stütze der Proteste. Verschiedene Plattformen der modernen Kommunikation spielten dabei eine wichtige Rolle, es entstanden Gemeinschaften, die manchmal rein situativ waren, manchmal auch nachhaltig verbunden blieben. Dies zeigt, wie wichtig Empathie und Achtsamkeit sind, um in Situationen staatsterroristischer Gewalt eine fürsorgliche Verbindung zwischen Menschen zu schaffen.

Elementarer Teil dieser Struktur der Fürsorge ist auch die Sorge für sich selbst. Besonders zeigt sich dies heute in den Gefängnissen und Strafkolonien von Belarus, wo derzeit mindestens 1700 politische Gefangene systematisch gefoltert werden. Praktiken der Fürsorge für sich selbst, wie sie sich in der Pflege des eigenen Körpers, in einem Lächeln oder in der bewussten Haltung des Körpers ausdrücken können, sind für Frauen eine Möglichkeit, ihr Selbstwertgefühl zu bewahren. Zugleich sind sie auch eine Form der Sorge um die anderen, weil sie Widerstandsfähigkeit vermitteln. Diese enge Verflechtung zwischen Achtsamkeit für sich selbst und für andere, zwischen (Selbst-)Fürsorge und Solidarität wurde nach der Befreiung aus dem Gefängnis von inhaftierten Frauen in Interviews immer wieder betont.

So wie die ukrainischen Feministinnen in ihrem Manifest schon an die Zeit nach dem Krieg denken und der Sphäre der sozialen Reproduktion besondere Priorität einräumen möchten, so geht es auch in den Überlegungen in Belarus heute schon um die zukünftigen demokratischen Transformationen des Landes. Die praktizierte Fürsorge, die eine tragende Kraft der Proteste von 2020 war, soll in institutionalisierter Form auch die zukünftige Gesellschaft bestimmen. Und sie ermöglicht es den Menschen ganz konkret, sich den unerträglichen Bedingungen der gegenwärtigen Repression zu widersetzen.

Die Infrastruktur der Fürsorge – sei es, dass sie von staatlichen Institutionen bereitgestellt wird, oder sei es, dass sie von Männern und Frauen in schwierigen Situationen auch ohne staatliche Unterstützung hergestellt wird – ist ein zentrales Anliegen der feministischen Politik von heute. Sie verbindet Gesellschaften in Kriegs- und Krisensituationen mit solchen in gefestigten Ordnungen, und es ist keineswegs so, dass sie in demokratischen Gesellschaften als selbstverständlich vorausgesetzt werden darf. In Schweden etwa gab die neue Regierung 2022 ihre feministische Außenpolitik mit der Begründung auf, sie stehe im Widerspruch zu „schwedischen Werten und Interessen“. Dabei war Schweden das erste Land, das 2014 offen eine feministische Außenpolitik verfolgte und damit beispielgebend für Kanada, Frankreich, Mexiko oder Deutschland war.

Asymmetrische Herrschafts-, Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse lassen sich am besten aus der Perspektive feministischer Politik und einer damit verbundenen Anerkennung gesellschaftlicher Fürsorgepraktiken sichtbar machen. Denn noch immer gilt, dass die unsichtbare und unbezahlte Hausarbeit vielfach von Frauen und gesellschaftlich marginalisierten Gruppen geleistet wird. Zugleich ist es aber gerade diese systematisch unterbewertete und unterbezahlte Care-Arbeit von Erzieher*innen, Sozialarbeiter*innen, Altenpfleger*innen und vielen anderen, die das Funktionieren und den Zusammenhalt einer Gesellschaft sichert. Dies unterstreicht einmal mehr die entscheidende Bedeutung der Fürsorge für die Politik und die Notwendigkeit, sie gegen Diskurse und Praktiken des Wettbewerbs, des Konsums und des unbegrenzten wirtschaftlichen Wachstums zu schützen.


Olga Shparaga ist belarusische Philosophin im Exil und Visiting Fellow am IWM.