Elemente des neuen Autoritarismus in Brasilien

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Obwohl Teil einer internationalen Welle des Rechtsextremismus, hat der neue Autoritarismus in Brasilien auch Schattierungen, die mit der (post-)kolonialen Geschichte des Landes zusammenhängen. Ricardo Pagliuso Regatieri stellt fünf Elemente dieses neuen vom Präsidenten Jair Bolsonaro und seiner Anhängerschaft vertretenen Autoritarismus vor.

Neben der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten und dem Referendum zum Brexit fand 2016 auch ein parlamentarischer Putsch in Brasilien statt. Knapp dreißig Jahre nach dem Ende der letzten Diktatur und im Anschluss an die Nichtannahme des Ergebnisses der Präsidentschaftswahl seitens des Verlierers Aécio Neves wurde eine mediale Lawfare-Kampagne gegen die wiedergewählte Präsidentin Dilma Rousseff und ihre Arbeiterpartei (PT), die 2014 ihren vierten Wahlsieg in Folge errungen hatte – gestartet. Obwohl sich die Korruptionsvorwürfe gegen Rousseff und den ehemaligen Präsidenten Lula da Silva als dreiste Lügen erwiesen hatten, endete das im Dezember 2015 eröffnete Amtsenthebungsverfahren im August 2016 mit der Entfernung der Präsidentin aus ihrem Amt. Als parlamentarischen Putsch bezeichne ich ein Verfahren, das, obwohl es formell gesetzeskonform ist, illegitimen Zielen dient, kurz: die Inanspruchnahme von normalen institutionellen Mechanismen, um den unzulässigen Sturz einer legitimen Regierung herbeizuführen. Bei der Entfernung der linken Arbeiterpartei aus der Regierung hat die traditionelle brasilianische Rechte die Büchse der Pandora geöffnet. Aus dieser Situation konnte vor allem der ehemalige Hauptmann der Armee und rechtsextreme Abgeordnete Jair Bolsonaro Kapital schlagen, war er doch bei der Wahl von 2018 am besten in der Lage, die freigesetzte antisystemische Energie zu kanalisieren. Im Folgenden möchte ich fünf Elemente des neuen Autoritarismus in Brasililen, der als bolsonarismo bekannt ist, vorstellen.

Zunächst wirkt der bolsonarismo wie ein Versuch, der politischen Entwicklung, die 1985 mit der Wiedereinführung der Demokratie bzw. 1988 mit der Annahme der neuen Verfassung begann, entgegenzuwirken bzw. diese rückgängig zu machen. Ungeachtet ihrer Unterschiede teilten die Regierungen zwischen 1985 und 2016 – eine Ära, die als Neue Republik bezeichnet wurde –  die Zurückweisung der Militärdiktatur von 1964-1985 und das Bekenntnis zur neuen demokratischen verfassungsrechtlichen Ordnung. Die Wiedereinführung der Demokratie wurde von einer umfangreichen politischen Amnestie begleitet: nicht nur die Gegner/-innen der Diktatur, sondern auch die in staatlicher Repression involvierten Personen kamen in die Gunst der Amnestie. Die brasilianische Gesellschaft hat die Diktatur nie richtig aufgearbeitet. Nun bietet Bolsonaro eine alternative Narration über die Nation und ihre koloniale wie postkoloniale Geschichte an. Diese alternative Fassung spielt die Gewalt der Diktatur ebenso wie die alltägliche Gewalt gegen Nichtweiße (ein Erbe der kolonialen Sklaverei) und gegen Arme (ein Zustand des Kapitalismus der Peripherie) herunter. 

Zweitens stellt Bolsonaro nicht nur die dreißigjährige Ära der Demokratie, sondern auch das Grundkonzept eines säkularen Staates in Frage. Ein Kernelement des bolsonarismo ist die heilige Allianz zwischen konservativem Katholizismus und Evangelikalismus. Es ist die Verteidigung der Familie und ihrer Werte, die diese religiöse Basis zusammenschweißt. Große Bedrohungen für sie stellen die Forderungen nach Gendergleichheit, LGBT-Rechten und die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruches dar. Dieser Backlash gegen sexuelle und reproduktive Rechte lässt sich als moralische Panik verstehen, die infolge des Aufstiegs der Linken in die Regierungsverantwortung in Lateinamerika und der damit einhergehenden Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe in Ländern wie Argentinien und Brasilien potenziert wurde. 

Drittens ist die Konstruktion der Gegnerschaft als Feindschaft zu nennen. Die Leitprinzipien der Nationalen Sicherheitsdoktrin, die von der Militärdiktatur während des Kalten Krieges formuliert wurden, werden von Bolsonaro umgesetzt und sogar ausgeweitet. Nun werden nicht nur Linke, sondern auch Liberale, NGOs, Feministinnen, LGBT, Schwarze, Ureinwohner/-innen, aber auch das „Establishment“ und die „Korrupten“ in die Kategorie der Feinde/-innen einbezogen. Die Konstruktion dieser Vielfalt von Feinden/-innen verweist auf eine Intersektionalität des Hasses. Somit bedeutet Politik nicht nur, bestimmte Auffassungen gegen jene der Gegner/-innen geltend zu machen, sondern auch letztere zu vernichten. Die Eliminierung der Gegner/-innen, die als gefährlich für die Integrität und den Zusammenhalt der Nation gelten, zielt auf deren moralische Läuterung ab. In starkem Kontrast zum klassischen lateinamerikanischen Populismus, der die Etablierung einer Hegemonie und die Bildung einer Nation für alle (das ganze „Volk“) anstrebte, verfährt Bolsonaro gemäß einer Logik der Spaltung, einer Logik der Feindschaft, wonach sich die Nation lediglich aus den wenigen Angehörigen einer moralischen Gemeinschaft zusammensetzt – eine Dominanz ohne Hegemonie. Als Krisenverwalter des zerfallenden Kapitalismus können Bolsonaro sowie andere autoritäre Führer der Gegenwart nicht konstruktiv, sondern lediglich destruktiv fungieren.

Damit hängt ein weiteres Element des bolsonarismo zusammen. Es ist der fortwährende Kulturkampf, der mittels anhaltender Agitation die Feinde/-innen der Nation ins Visier nimmt. Dieser Kulturkampf arbeitet mit falschen Behauptungen, baren Lügen und eklatanten Verschwörungstheorien. Bolsonaro hat kein Interesse an regulären Regierungsgeschäften. Permanente Agitation, Lüge und Verschwörungstheorien ersetzen das eigentliche Regieren. Soziale Angst, Verzweiflung und Frustration, die er sehr erfolgreich zum eigenen Vorteil zu mobilisieren wusste, werden institutionalisiert, damit die affektive Grundlage seiner Machtposition fortbesteht. Der politische Kampf wird mit „kulturellen“ Themen geführt, um die Affekte, die ihn an die Macht gebracht haben, aufrechtzuerhalten. Eigentlich hat Bolsonaro den Wahlkampf nach seiner Wahl nicht beendet.

Nicht zuletzt ist der bolsonarismo Teil der neuen globalen Welle der extremen Rechten. Er ist Ausdruck eines breiteren, global feststellbaren Phänomens, wenn auch in der brasilianischen Geschichte und Politik verwurzelt. Ohne den internationalen rechtsextremen Kontext, ohne die Verbindungen zwischen Führungspersonen, Mitgliedern und Bewegungen, ohne die von ihnen geteilten Strategien und Techniken der Sozialmedien wäre der Erfolg Bolsonaros schwieriger oder sogar unmöglich gewesen. Netzwerke wie die Conservative Political Action Conference oder Steve Bannons The Movement und Begegnungen mit politischen Führern wie Matteo Salvini, Viktor Orbán und Donald Trump zum gegenseitigen Informations- und Erfahrungsaustausch haben das Profil des bolsonarismo entscheidend geprägt. Mit Rücksicht auf die Struktur der sozialen Medien entwickeln Rechtsextreme diskursive Techniken, die flexibel genug sind, um in verschiedenen Sprachen und Kontexten wirksam zu sein. Was sie teilen, ist die Unterwanderung der Demokratie mit demokratischen Mitteln. Um seine globale Dimension und weltweiten Verflechtungen vor Augen zu führen, wurde dieses Phänomen als „sanfter Autoritarismus“ (Shalini Randeria), „Reaktionäre Internationale“ (Clara Ramas San Miguel), „Internationale ‚Familie‘ der extremen Rechten“ (Steven Forti) oder die „Vierte Welle der extremen Rechten“ (Cas Mudde) bezeichnet. Ich selbst nannte es die neue „Autoritäre Internationale“.

Die Präsidentschaftswahl im kommenden Oktober ist für die Zukunft Brasiliens von entscheidender Bedeutung. Nach seinem katastrophalen Management der Pandemie, aber auch der Wirtschaft, ist im Land die Unzufriedenheit mit Bolsonaro gewachsen. Dennoch zeigen Wahlumfragen, dass er noch Chancen gegen seinen Hauptgegner, Lula da Silva, hat. Allerdings, auch wenn Bolsonaro verliert, bleibt die Herausforderung der Aufarbeitung des persistenten Autoritarismus kolonialer Provenienz für die brasilianische Gesellschaft nach wie vor bestehen. Dies kann ohne eine aktive Gedächtnispolitik, die sich der Gewalt der Kolonisierung und der verschiedenen darauffolgenden autoritären Regime annimmt, wie auch ohne einen ständigen Kampf gegen Klassen-, Rassen- und Genderungleichheit nicht geschehen. Sofern der bolsonarismo Ausdruck eines globalen Phänomens ist, das mit den Ruinen des Neoliberalismus, der Reaktivierung des Freund-Feind-Verhältnisses und den neuen Wahrheitsregimen des Internets und der sozialen Medien zusammenhängt, stellen Gedächtnispolitik und das Gebot der Gleichheit freilich keinen definitiven Schutz gegen Autoritarismus und Rechtsextremismus dar; sie bilden aber zumindest einen guten Ausgangspunkt, um gegen sie vorzugehen.


Ricardo Pagliuso Regatieri ist Professor für Soziologie an der Bundesuniversität von Bahia, Brasilien. 2022 war er Visiting Fellow am IWM.