Ein „besonderes Verhältnis“ und die Notwendigkeit, es umzudenken

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Das besondere Verhältnis Deutschlands zu Russland hat historische Tiefe. Es ist dringend nötig, es unter Einbeziehung der Erfahrungen der „kleinen“ osteuropäischen Nationen, die oft die Leidtragenden dieser Beziehung waren, umzudenken.

Deutsche Prinzessin auf russischem Thron

Auf Angela Merkels Arbeitstisch stand das Porträt der russischen Zarin Katharina der Großen. Als junge deutsche Prinzessin heiratete sie den russischen Kronprinzen und wurde nach einem Palastputsch selbst zur Zarin. In Russland gilt sie als die größte Staatsfrau neben Peter dem Großen. Aber auch in Deutschland hat sie einen hervorragenden Ruf. Sie hätte „das rückständige Russland näher an Europa herangeführt“. Sie „reformierte Verwaltung und Justiz, schaffte grundlegende Gesetzeswerke, förderte Wissenschaften und Künste“.

Etwas ganz anderes verkörpert Katharina für die Ukraine. Sie schaffte die Reste der ukrainischen Autonomie in Form des Hetmanats ab, vernichtete, was von der Kosakenrepublik Sitsch übrig geblieben war, führte die Leibeigenschaft wieder ein. 

Nicht nur in der ukrainischen Geschichte spielte Katharina eine unheilvolle Rolle. Sie war es, die das Khanat der Krim eroberte und die größte von drei großen Vertreibungswellen der autochtonen Qirimli (Krimtataren) auslöste. Auch die seit Jahrhunderten von Nogaiern bewohnten Steppen nördlich der Krim wurden „gesäubert“. Nicht zu vergessen Katharinas unrühmliche Rolle in der polnischen Geschichte, teilte sie doch mit Österreich und Preußen das Territorium des Polnischen Königreichs dreimal, bis davon nichts mehr übrig blieb. 

Was empfindet wohl ein/-e Ukrainer/-in, wenn er/sie in einer deutschen Zeitung liest: „Das Bildnis der Zarin im Kanzleramt könnte einen neuen Horizont russisch-deutscher Phantasien aufscheinen lassen“? Veröffentlicht wurde der Artikel 2005, in einer Zeit, als Russland die Ukraine unter Druck zu setzen begann. Präsident Juschtschenko wurde während des Präsidentschaftswahlkampfes mit Dioxin vergiftet – höchstwahrscheinlich auf Putins Befehl; Russland begann, Gaslieferungen als Waffe gegen die Ukraine einzusetzen; in den staatlichen Medien Russlands startete die erste Kampagne zur Verleumdung der Ukrainer/-innen als „Faschisten/-innen“, „NATO-Prostituierten“ u.ä. Einen Krieg gegen die Ukraine konnte sich Russland aus geopolitischen Gründen kaum leisten. Während die Einnahmen aus dem Öl- und Gashandel fast die Hälfte des russischen Haushalts ausmachten, verlief die Mehrheit der russischen Pipelines durch die Ukraine. Deutschland zeigte sich jedoch bereit, Hilfe zu leisten. Gerade 2005 beginnt der Bau von Nord Stream. Dass die „kleinen“ osteuropäischen Völker zwischen Berlin und Moskau etwas dagegen hatten, störte die jahrhundertalte deutsch-russische Sonderbeziehung kaum.

Die Abenteuer des Baron Münchhausen im Zarenreich

Die Geschichte von einer deutschen Prinzessin, die es zur Impératrice einer Weltmacht schaffte, stellt nur den Gipfel einer für das 18. Jahrhundert üblichen Tendenz dar. Die Geschwindigkeit, mit der sich das Russische Reich ausdehnte, ging mit einem chronischen Mangel an Militär- und Verwaltungseliten einher. Das Moskauer Zarentum konnte diesem Problem zunächst durch die Absorbierung führungserfahrener tatarischer Eliten Herr werden. Seit der autokratischen Modernisierung Peters des Großen wurde der Bedarf an Eliten mit deutschen Adligen gedeckt. Es gab Zeiten im 18. Jahrhundert, in denen Deutsche den Hof in Sankt Petersburg beinahe komplett dominierten, was nicht selten im Unmut des russischen Adels mündete. 

Die Vorstellung, dass in Russland einem beliebigen Adligen aus Deutschland unglaublicher Erfolg beschieden sein konnte, schlägt sich in den Geschichten des Baron Münchhausen nieder. Nach langjährigem Militärdienst in Russland kam er mit jeder Menge unglaublicher Geschichten nach Hause. Zwar sind nicht alle Russland gewidmet, aber das Land nimmt einen zentralen Platz ein. Münchhausens Sichtweise ist phantastisch bis ins Skurrile und reflektiert, wie Russland von Deutschen jener Zeit wahrgenommen wurde: ein bisschen wild, aber vielversprechend; ein wunderbar wildes Eldorado.

Münchhausens Geschichten enthalten teilweise konkrete historische Details. Den Hintergrund seines Flugs auf der Kanonenkugel bildet die russische Einnahme der Otschakiw-Festung unter der Führung von Marschall Münnich. Münnich leitete auch den ersten großen russischen Angriff auf die Krim, was die Zerstörung von Städten und Dörfern und die erste Massenflucht der Qirimli nach Anatolien zur Folge hatte. In der langen Geschichte zaristischer Eroberungen und Aufstandsbekämpfungen stößt man immer wieder auf deutsche Familiennamen. Dasselbe gilt für Entwürfe zu Vertreibungen und „Pazifizierungen“. 

Kontinuitäten

Das Bild Russlands als wild und bewundernswert prägt die deutsche Wahrnehmung des Landes bis heute. Deutsche Politiker/-innen, Journalisten/-innen und „Kulturschaffende“ mögen zwar sehr wenig über den deutschen Beitrag zur Enstehung einer der mörderischsten europäischen Kolonialmächte wissen, ihr Russlandbild ist jedoch immer noch durch Vorstellungen geprägt, die in den Erfahrungen des 18. Jahrhunderts verwurzelt sind. Zu diesen Vorstellungen gehört die Metapher Russlands als „unser Nachbar“. Dabei ist es mehr als hundert Jahre her, als Preußen und das Russische Reich eine gemeinsame Grenze hatten. Die in Deutschland kaum erkannten Kontinuitäten werden in den Ländern zwischen Berlin und Moskau durchaus registriert. Es kommt nicht von ungefähr, dass der Molotow-Ribbentrop-Pakt in Polen oft als „die vierte Teilung Polens“ bezeichnet wird. Deutsche, welche die Ukraine gerne als „Brücke zwischen Ost und West“ sehen wollen, ahnen nichts von der Wut, die Ukrainer/-innen packt, wenn sie von solchen Plänen hören, die „große Völker“ für ihre Heimat entwerfen. Noch vor kurzem hat das gesamte politische Spektrum der Bundesrepublik wiederholt behauptet, dass es Deutschland nur dann gut ging, wenn das Land gute Beziehungen zu Russland pflegte. Ob sie darüber nachgedacht haben, wie sich diese Feststellung auf die „kleinen“ osteuropäischen Völker auswirkt?

Der Bau von deutsch-russischen Pipelines unter Umgehung der Ukraine und völliger Missachtung der Kritik aus Osteuropa ist freilich nicht dasselbe wie der Molotow-Ribbentrop-Pakt oder die Teilungen Polens. Dennoch gibt es Kontinuitäten, über die in Deutschland wenig reflektiert wird. Ob sich die Mitglieder der SPD fragen, warum sie immer noch keine guten Kontakte zu den politisch Gleichgesinnten in Tschechien oder Polen haben? Die als friedlich gemeinte „neue Ostpolitik“ der Bundesrepublik fußte auf der Anerkennung des russischen Einflusses in Osteuropa. Sie hatte mehr Probleme mit osteuropäischen Dissidenten- und Freiheitsbewegungen, als mit den Machthabern im Kreml. Man denke etwa an das Verhalten der Bundesregierung während der polnischen Krise 1980, an die unrühmliche gemeinsame Pressekonferenz von Schmidt and Honecker 1981, oder an Egon Bahrs Formel „Weltfrieden wichtiger als Polen“. Dabei scheint die deutsche Öffentlichkeit immer noch davon überzeugt zu sein, dass die damalige Politik des „Wandels durch Annäherung“ einen wichtigen Beitrag zu politischen Veränderungen in Osteuropa geleistet hat. Genau das Gegenteil ist der Fall: Die Unmengen von Petrodollars investierte die Sowjetunion in eine bis dahin noch nie dagewesene Aufrüstung. 

Ob unter Schröder oder Merkel, die Politik der Bundesregierung folgte einem „bewährten“ alten Model, das sich auf drei Pfeiler stützte: Externalisierung der Verteidigungskosten, lukrativer Handel mit Diktaturen, eine moralisierende Sonderstellung in der Außenpolitik. Letzterer Pfeiler ist besonders kritikwürdig und lässt sich als ideologischer Überbau eines ansonsten profitorientierten Models deuten. 

Nun sind alle drei Pfeiler ins Wanken geraten, und es sieht zunächst so aus, als ob der deutschen politischen Elite nichts außer einer erbitterten Kritik am ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk übrig geblieben wäre. Es wäre gut für alle Beteiligten, wenn Deutschland wieder einen wichtigen Platz in der europäischen Politik einnimmt. Das geht aber nicht mit einer schrittweisen Rückkehr zu business as usual. Die Suche nach neuen politischen Wegen erfordert eine gewaltige intellektuelle Arbeit, in der das Verhältnis Deutschlands zu Osteuropa eine zentrale Rolle einnehmen sollte. 


Kyrylo Tkachenko ist Doktorant an der Viadrina-Universität, Frankfurt/Oder. Er war 2016 und 2022 Visiting Fellow am IWM.

This article appeared in the special Ukraine supplement to IWMPost 129