Die Entscheidung für Freiheit im Gulag

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Ein junger Mann namens Myroslaw Marynowytsch wurde 1977 verhaftet, weil er die Wahrheit über sein Land gesagt hatte. Das Verbrechen, für das er verurteilt wurde, war die Verbreitung von Bulletins über Menschenrechtsverletzungen in der sowjetischen Ukraine. Seine Memoiren sind ein bescheidener und beeindruckender Erfahrungsbericht eines Mannes, der in der Hölle heranreifte.

Die Menschenrechte stellten in den 1970er Jahren eine unerwartete Herausforderung für die sowjetische Macht dar. Neben den Vereinigten Staaten von Amerika, Kanada und allen europäischen Staaten mit der Ausnahme Albaniens unterzeichnete die UdSSR 1975 die Schlussakte von Helsinki. Dieses Abkommen bestätigte bestehende Grenzen, bereitete den Weg für Rüstungskontrollverhandlungen und bekräftigte die Achtung der Menschenrechte.

In der Sowejtunion und ihren osteuropäischen Satellitenstaaten griffen Bürgerinnen und Bürger auf das Konzept der Menschenrechte zurück, um ihre öffentliche Tätigkeit zu bestimmen. Wenn Menschenrechte nunmehr zum Rechtsbestand des Landes gehörten, argumentierten sie, müsse es auch legal sein, Verstöße gegen sie zu dokumentieren.

Die Ukrainische Helsinki-Gruppe, der Marynowytsch 1976 beitrat, folgte dieser Logik. Ihre Mitglieder publizierten Informationsmaterialien über Schikanen, Inhaftierungen, Gerichtsverfahren und Urteilssprüche, von denen sowjetische Bürgerinnen und Bürger betroffen waren. Die Tätigkeit dieser Ukrainischen Helsinki-Gruppe führte unmittelbar zur Verfolgung ihrer Mitglieder, die wiederum von den Verbliebenen dokumentiert wurde.

Marynowytsch wurde 1977 inhaftiert, für beinahe ein ganzes Jahr verhört und 1978 vor Gericht gestellt. Er wurde zu sieben Jahren Gulag und weiteren fünf Jahren Verbannung verurteilt. Die Einrichtung, in die er verbracht wurde, Perm-36, war das vielleicht berüchtigtste Lager seiner Zeit und wurde für Menschen gebraucht, von denen behauptet wurde, sie hätten „besonders gefährliche Verbrechen gegen den Staat“ verübt: also für Gesinnungshäftlinge. In Perm-36 waren zu dieser Zeit, wie überhaupt im ganzen Gulag über seine gesamte Geschichte hinweg, eine überproportional große Anzahl der Gefangenen Ukrainer.

Schon bald nachdem Marynowytsch aus Perm-36 entlassen und nach Kasachstan verbannt worden war, wurde Michail Gorbatschow Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. In einer Zeit der Reformen wurde die Bestrafung von politischen Gefangenen zu einer peinlichen Angelegenheit. Marynowytsch wurde neben anderen Dissidenten 1987 freigelassen. Er kehrte in die Ukraine zurück, wo er im Dezember 1991 das Ende der Sowjetunion miterlebte. Sein zivilgesellschaftliches Engagement in der unabhängigen Ukraine ist bis heute ungebrochen.

Das Konzept der Menschenrechte, das für Marynowytschs Geschichte so zentral ist, kann in seiner Abstraktion hehr erscheinen: Es beinhaltet bestimmte Pflichten, die jeder Staat gegenüber allen Personen einhalten muss, und die einem ethischen Ideal entspringen, das keine Macht zu ändern vermag. Angesichts der formalen rechtlichen Verpflichtungen, die die kommunistischen Regime 1975 in Helsinki eingegangen waren, hätten die Menschenrechte ein zweckmäßiges Instrument gegen dieselben darstellen können.

Doch der edle Geist und die Zweckmäßigkeit erklären ihre Anziehungskraft nicht ganz: Entscheidend ist die Möglichkeit, ein individuelles Leben ungestört zu führen, und zwar mit all seinen unvohersehbaren Verbindlichkeiten. Die scheinbar abstrakte Idee der Menschenrechte lief darauf hinaus, dass ein Leben für individuelle Zwecke und nicht nach Gutdünken der Mächtigen gelebt werden sollte. Eine Dissitentin oder ein Dissident war in dieser Situation ein Mensch, der Uniformität nicht als Selbstzweck akzeptierte.

Die Sprache der Menschenrechte vermittelte die Erwünschtheit einer (engen) Beziehung zwischen dem Innenund dem Außenleben. Es sollte normal sein, dass eine Person wenigstens einige Präferenzen und Überzeugungen ausleben kann, anstelle sie bei sich behalten zu müssen und beständig zu lügen. Es sollte normal sein, dass Menschen einen gewissen Freiraum in ihrem Leben haben, ihre Sichtweisen kundzutun, ihre eigene Kultur zu wählen. Der Einsatz für die Menschenrechte bedeutete, eklatante Verstöße des Staates gegen sie zu dokumentieren – Verhaftungen, Repressionen, Deportationen –, oftmals nur, damit über Menschenrechte gesprochen wurde.

Die Menschenrechte boten einigen Sowjetbürgerinnen und -bürgern wie Marynowytsch und seinen Freunden der Ukrainischen Helsinki-Gruppe somit eine Möglichkeit, den impliziten sowjetischen Wert der Konformität direkt in Frage zu stellen, ohne die explizite Ideologie des Sozialismus zu hinterfragen. Indem sie ihre Tätigkeit offenlegten und behaupteten, ihre einzige Absicht bestünde darin, das Bekenntnis der Sowjetunion zum Recht zu würdigen, betonten diese Dissidentinnen und Dissidenten ihre eigene Rechtschaffenheit. Die sowjetischen Behörden erkannten sofort, dass darin eine implizite Bedrohung bestand und trachteten danach, die nach 1975 entstandenen Menschenrechtsnetzwerke zu zerschlagen. Der Menschenrechtsaktivismus wurde als die gefährlichste Form des politischen Verbrechens betrachtet.

Neben und in engem Zusammenhang stehend mit der Vorstellung der Menschenrechte, stellt in Marynowytschs Memoiren die Auseinandersetzung mit der Freiheit die vielleicht größte Herausforderung für die Leser dar. Für Menschen im Westen wird es verlockend sein, sich auszumalen, dass sie in den 1970er und 1980er Jahren frei waren und dass das Buch, das sie in den Händen halten, eine Schilderung sowjetischer Unfreiheit ist. Das entspricht nicht ganz Marynowytschs Position. Natürlich dokumentiert er die Schrecken des Lagers („die Zone“) und der Sowjetunion selbst („die große Zone“). Und doch spricht Marynowytsch von sich und seinen Gefährten als freie Menschen.

Zur Freiheit gehört eine Kohärenz zwischen dem Innenund dem Außenleben. Das bedeutet, dass es ein Innenleben geben muss, eine Reihe von Bekenntnissen zu religiösen, ethischen oder ästhetischen Werten, die sich auf die Welt, wie sie sein soll, richten – im Gegensatz zu der Welt wie sie ist. Freiheit würde folglich auch eine gewisse Fähigkeit voraussetzen, diese Werte in der Außenwelt zu verwirklichen, oder, falls dies nicht möglich ist, Risiken einzugehen oder für sie zu leiden. Das ist es, was Marynowytsch und seine Mitgefangenen aus Gewissensgründen taten.

Marynowytsch entschied sich für Werte, die er verteidigen wollte. Weil er eine Entscheidung traf, kann er seine eigenen Taten als Opfer beschreiben, als Leid, das Bedeutung hatte. Der Schmerz hatte einen Sinn, weil er die Lücke zwischen einer unzulänglichen Außenwelt und den Werten der Menschen zu schließen vermochte. Erbringt man ein Opfer dieser Art, schreibt er, behält der Leidende die Handlungsfähigkeit, während der Peiniger an den Rand gedrängt wird.

Freiheit, meinen wir heute, würde bedeuten, Impulsen nachzugeben und uns zu beschweren, wenn dies nicht möglich ist. Doch je impulsiver unsere Handlungen sind, je mehr sie also eine flüchtige Emotionsregung verwirklichen, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie die Macht von jemand oder etwas anderem widerspiegeln. Wenn wir Impulsen nachgeben, verkümmert unser Innenleben und die Außenwelt bestimmt alles. Dieser Prozess ist vollzogen, wenn wir das Wort „Freiheit“ selbst aufgeben und mit diesem lediglich Momente unserer besinnungslosen Wut und unseres bestialischen Selbst fassen. Die Geschichte von der Freiheit endet, wenn wir keinen Unterschied mehr erkennen zwischen Freiheit und Instinkt.

Es mag nicht wie Freiheit anmuten, den eigenen Kopf in eine Latrine zu stecken. Doch als ein russischer Dichter in Perm-36 Geburtstag hatte, verfasste jeder seiner Freunde ein Gedicht für ihn und trug es auf die einzige Art und Weise vor, auf die er es vernehmen konnte, nämlich durch die für die Exkremente gegrabenen Stollen. Die Gedichte zu hören bereitete dem Mann Freude. Nur freie Menschen waren in der Lage, sich eine Geste wie diese auszudenken und sie in die Tat umzusetzen. Marynowytsch ist sich darüber im Klaren, dass dieses Bild die Leser verwirrt zurücklassen wird und betont, dass eine solche Handlung damals vollkommen normal wirkte. Er zitiert aus Semen Hlusmans Memoiren: In Perm-36 „schufen wir unsere eigene Welt und wir waren frei“.

Marynowytsch unterdrückte seine elementarsten Instinkte. Er trat mehrmals in den Hungerstreik, eine Tat, die sich direkt gegen die physische Selbsterhaltung richtet. Einmal hungerte er zwanzig Tage lang aus Solidarität mit einem Mitgefangenen, der ebenfalls in den Hungerstreik getreten war. „Der Selbsterhaltungstrieb“, schreibt er, „schreit laut auf, wenn man in den Lauf eines Maschinengewehrs starrt, von bösartigen, abgerichteten Hunden umgeben ist, in überfüllten Fahrzeugen zu ersticken droht, durch Unterernährung so erschöpft ist, dass der Körper anschwillt. ... Aber so wie der Heldenmut nicht ewig währt, ist auch die Angst nicht unvergänglich.“

Marynowytsch glaubt, dass „das Leid, das ich ertragen habe, mir die spirituelle Kraft gab, die meinem Leben seinen wahren Sinn verlieh“. Dieser metaphysische Sinn ist eine Begegnung mit Gott. Der irdische Sinn erwächst für Marynowytsch aus der Gemeinschaft mit anderen: mit seinen Mithäftlingen, mit denen und für die er litt, mit ukrainischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, mit sowjetischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, mit all jenen, deren Menschenrechte verletzt wurden und werden. Solidarität ist Ausdruck einer freien Entscheidung.


Dieser Text ist eine gekürzte Fassung der Einleitung, die Timothy Snyder für die englische Ausgabe der Memoiren von Myroslaw Marynowytsch verfasst hat. Übersetzung ins Deutsche von Katharina Hasewend.