Was ist politisch am 18. Jahrhundert? 

IWMPost Article

In der Republik Belarus bezahlen WissenschaftlerInnen einen hohen Preis für ihre politische Haltung. Nach Protesten gegen staatliche Gewalt stehen sie im Exil vor dem Neubeginn. Ihre Erfahrungen zeigen, dass es unmöglich ist, keinen Standpunkt zur Verschärfung der Politik des Regimes von Alexander Lukaschenka einzunehmen. 

An der Nationalen Akademie der Wissenschaften in Minsk verloren Ende 2020 zwölf HistorikerInnen ihre Arbeit und ihre akademische Anbindung. Sieben von ihnen wurden die Arbeitsverträge mit dem Institut für Geschichtswissenschaften nicht verlängert, nachdem sie öffentlich an der Protestbewegung gegen Wahlfälschungen und Gewalt teilgenommen hatten. Fünf kündigten aus Solidarität.

Vadzim Anipiarkoŭ erklärt im elektronischen Interview für das Projekt „Stimmen aus Belarus“, das ähnlich dem Belarus Chronicle des IWM aktuelle Übersetzungen von belarusischen Texten anfertigt, warum es sich bei den Entlassungen zugleich um Berufsverbote handelte: „Ich glaube nicht, dass ich nach der Beteiligung an Petitionen, Streikposten, Videobotschaften, Medienberichten usw. in diesem System wieder eine Arbeit finden kann, ohne dafür im Gegenzug auf mein ethisches Rückgrat und mein Gewissen verzichten zu müssen. Andererseits betrachte ich das als eine neue persönliche und berufliche Herausforderung, die mich dazu zwingt, nach neuen Wegen zu suchen, um in der Wissenschaft zu bleiben.“ Anipiarkoŭ hat einen ersten Anschluss als Stipendiat des Deutschen Historischen Instituts in Warschau gefunden.

Seine Kollegin Kacjaryna Kryvičanina erhielt ein Kalinowski-Stipendium der polnischen Regierung für verfolgte WissenschaftlerInnen. Sie benennt die historischen Bezüge der derzeitigen Verfolgungen in der Republik Belarus ganz klar: „Sofort treten Parallelen aus der jüngsten Vergangenheit vor Augen – der totalitäre sowjetische Staat, in dem das Leben des Einzelnen mit seinem Standpunkt, seiner Meinung völlig wertlos war. ‚Verräter‘, ‚Spione‘, ‚gekauft‘ usw. – ebensolche Anschuldigungen bekommen die Protestierenden heute zu hören. Wie sehr das alles an die 1930er Jahre erinnert! Das Verkommen der Gerichte zu Straforganen; die Zerstörung des Gerichtsverfahrens als solchem; die Rückkehr zur Praxis anonymer Anzeigen; das Verwandeln der Sicherheitsstrukturen in Straforgane gegen das eigene Volk; die Erschaffung von staatlich besetzen ‚Taschenparlamenten‘, usw. Das ist die Usurpation der Macht durch eine kleine Gruppe von Menschen.“

Die Gewerkschafterin Kryvičanina ist überraschender Weise die einzige Historikerin unter den Entlassenen, die zum 20. Jahrhundert forscht. Alle anderen Opfer der jüngsten Repressionswelle sind Spezialisten für die Frühe Neuzeit oder das Mittelalter im Großfürstentum Litauen. So verlor etwa Aleś Žlutka seine Arbeit, obwohl er in Minsk der einzige Spezialist für Handschriften und frühe Buchdrucke in lateinischer Sprache war. Vadzim Aniperkau erklärt, dass just die Verträge derjenigen nicht erneuert worden, die offen und gemeinsam ihre politische Position zum Ausdruck gebracht und somit die symbolische Ordnung am Institut für Geschichtswissenschaften gestört hatten. Andererseits seien dies zugleich wichtige VertreterInnen zentraler Bereiche der Geschichtswissenschaften in Belarus: etwa der Heraldik, der Forschungen zum Buchdrucker und Übersetzer Francisk Skaryna, der Geschichte der ersten belarusischen Zeitung Naša Niva oder der Eindämmung der Folgen von Tschernobyl.

Vadzim Anipiarkoŭ forscht am Beispiel der Konföderation von Targowica zur Geschichte russischer Interferenzen in die Belange des Polnisch-Litauischen Reichs im Umfeld der zweiten Teilung 1793. Er ist überzeugt, dass aus der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Geschichte der Endphase des Reichs auch die politische Dimension dieser Geschichte klar hervorgeht. Darunter versteht Anipiarkoŭ „die russische Vorherrschaft, eine anhaltende Souveränitäts- und Legitimitätskrise, die Besonderheiten der Beziehung zwischen einer gewaltsam durchgesetzten politischen Macht und der Gesellschaft sowie unterschiedliche Strategien des Verhaltens von Menschen in instabilen politischen Verhältnissen.“ Allerdings fügt der Historiker selbstkritisch hinzu: „Ich glaube jedoch, dass die Versuchung, in all diesen Ereignissen nach direkten historischen Analogien zu suchen, die Achillesferse eines jeden Historikers ist.“

Bei der Begrüßung der belarusischen WissenschaftlerInnen am Manteuffel Institut der Polnischen Akademie der Wissenschaften im Februar 2021 fragt der Direktor Maciej Janowski nach der besonderen Bedeutung der Frühen Neuzeit für die belarusischen Kollegen. Der gerade aus Minsk eingetroffene Andrej Radaman antwortet: „Diejenigen, die sich mit dem 18. Jahrhundert beschäftigen, zeigen bei uns mehr Haltung als andere Kollegen, denn das Großfürstentum Litauen war eine besondere Zeit für die Geschichte unseres Landes.“ Radaman meint, das Polnisch-Litauische Reich habe eine Blütezeit der Souveränität dargestellt, die er vor den Teilungen durch Russland, Preußen und das Habsburger Reich als eine Form der Eigenstaatlichkeit versteht. Darin liegt der inhaltliche Minimalkonsens zwischen denen, die jetzt im Exil neu beginnen, um ihren Beruf weiter ausüben zu können, und denjenigen, die in Belarus in der Akademie der Wissenschaften die offizielle geschichtspolitische Linie verteidigen: Es habe eine längere Tradition staatlicher Eigenständigkeit gegeben, obwohl ein souveräner belarusischer Staat erst 1991 als Zerfallsprodukt der Sowjetunion entstand.

In der Diskussion an der Polnischen Akademie der Wissenschaften wird ein weiterer Grund deutlich, warum sich politisch denkende Historiker gerade der Frühen Neuzeit zuwenden. Die Bedeutung des 20. Jahrhunderts ist für die ideologische Substanz der Republik Belarus unter Alexander Lukaschenka so groß, dass kritische Forschung zu ganzen Themenbereichen nach 1919 heute unmöglich ist. Zu diesen gehören neben der jüngsten Geschichte von Lukaschenkas Herrschaftssystem die Geschichte des westlichen Territoriums der Republik Belarus als eines Teils der Republik Polen von 1919 bis 1939, der sowjetischen Besatzung dieses Gebiets vom September 1939 bis zum Juni 1941, des Holocausts sowie der lokalen Beteiligung an der deutschen Besatzungsherrschaft in der Sowjetunion und den anschließenden sowjetischen Repressionen in der Belarusischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Die an der Nationalen Akademie der Wissenschaften in Minsk angesiedelte Oberste Attestierungskommission schließt diese thematischen Korridore, in dem sie wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten nicht bestätigt. Iryna Kaschtaljan etwa musste ihre Dissertation zur Alltagsgeschichte im westlichen Belarus nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nach einer Ablehnung durch diese Kommission nochmals an der Freien Universität Berlin verteidigen. Dem langjährigen wissenschaftlichen Leiter des Nationalen Archivs der Republik Belarus, Anatoly Vjaliki, wurde die Verteidigung seiner Habilitationsschrift über die sowjetisch-polnischen Beziehungen während des Zweiten Weltkrieges verwehrt, weil er nachweist, dass die Besatzung der Ostgebiete der Polnischen Republik im September 1939 durch die Sowjetunion völkerrechtswidrig war. Als er im Frühjahr 2021 unbezahlten Urlaub beantragte, um seine Habilitation in Warschau einzureichen, wurde er vom Nationalen Archiv nach über dreißig Dienstjahren zur Kündigung gezwungen.

Die zentrale ideologische Bedeutung des 20. Jahrhunderts bewirkt, wie schon vor 1991 in der Sowjetunion, dass es für WissenschaftlerInnen interessanter und weniger gefährlich ist, sich mit früheren Epochen zu beschäftigen. Zwar existieren auch für das 18. Jahrhundert ideologisch geprägte rote Linien, aber es gibt dennoch insgesamt mehr Freiheit zur Entwicklung eigener Fragestellungen. Diejenigen, die jetzt in Warschau und Wilna die Hilfsangebote für belarusische Wissenschaftler wahrnehmen, nutzen den Aufenthalt im Exil, um ihren eigenen Forschungen nachzugehen. Solange sich die politische Situation in Belarus nicht verändert, wird ihnen die Rückkehr in die Wissenschaft in Belarus verwehrt bleiben. 


Felix Ackermann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut Warschau. Er lehrte von 2011 bis 2016 an der Europäischen Humanistischen Universität, einer belarusischen Universität im litauischen Exil. Über die Arbeit an der EHU erschien im Suhrkamp-Verlag Mein litauischer Führerschein. Im August 2020 gründete er mit Nina Weller das Übersetzungsprojekt „Stimmen aus Belarus“.