Übersetzung und Politik

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Übersetzung ist „unsichtbar“ aber nicht harmlos. Übersetzen ist immer mehr als das bloße Abtippen eines Texts in einer anderen Sprache. Es ist wie Schreiben ein politischer Akt.

Im April 2019 hatte ich Gelegenheit, auf Einladung des deutschen Goethe-Instituts mit dem angolanischen Schriftsteller José Eduardo Agualusa in Luanda aufzutreten. Was ist daran bemerkenswert? Wir stellten seinen gerade in deutscher Übersetzung erschienenen Roman Die Gesellschaft der unfreiwilligen Träumer (Verlag CH Beck) vor, der im Original, wie die meisten Bücher des Autors, in Portugal erschienen war und nicht in Angola. In dem Roman, aus dem wir nun auf der Bühne eines alternativen Theaters lasen, geht es unter anderem um eine Gruppe Jugendlicher, die wegen einer politischen Aktion ins Gefängnis gehen. Am Ende bringt die kollektive Kraft der Träume ein autokratisches Regime zum Einsturz. Inspiriert ist dieser Strang der Handlung vom Hungerstreik einer Gruppe junger Leute, die 2015 in Angola wegen der Beteiligung an einem Lesekreis zu gewaltlosem Widerstand inhaftiert und der angeblichen Vorbereitung eines Staatsstreichs beschuldigt wurden. Nach unserer Lesung stand ein junger Mann aus dem Publikum auf, grüßte die Anwesenden und dankte dem Autor. Er sei einer der damaligen Gefangenen und sehr bewegt, auch wenn er den Roman noch nicht habe lesen können. Etwas mehr als ein Jahr zuvor war der frühere Langzeitpräsident Angolas und Kopf der autoritären Kleptokratie, gegen die im Roman wie im Leben junge Leute aufbegehrt hatten, friedlich abgelöst worden. Im ganzen Land war die Hoffnung auf einen politischen Neuanfang zu spüren.

Der legendäre Übersetzer Curt Meyer-Clason erzählt in seinen portugiesischen Tagebüchern (zuletzt bei A1 1997), wie er als Leiter des Goethe-Instituts Lissabon, noch unter der dort erst 1974 gestürzten faschistischen Regierung, gezielt verfolgte Autor:innen in sein Institut einlud und übersetzte. Auch die vor den Nazis nach Portugal geflohene Schriftstellerin Ilse Losa und der Literaturwissenschaftler Óscar Lópes versuchten in den 1960er und frühen 1970er Jahren, so viele Texte oppositioneller Autor:innen wie möglich ins Ausland zu bringen. Eine Veröffentlichung in einem der beiden deutschen Staaten konnte eine Lebensversicherung sein. José Eduardo Agualusa – der sich in mehreren Büchern bis Ende 2018 frontal mit dem Regime in Angola anlegte – betont in zahlreichen Interviews, wie wichtig das Erscheinen seiner Bücher im Ausland gewesen sei, weniger wegen der Bücher an sich, die man in seinem Land mangels Buchhandlungen kaum zu lesen bekäme, sondern, weil ihm die Bekanntheit ermögliche, als (politische) Stimme Gehör zu bekommen. Ein Mehrwert der Literatur und der Übersetzung.

Literarische Übersetzung gilt als unsichtbare Tätigkeit. Idealerweise versucht die Übersetzung hinter dem Text zu „verschwinden“, auch wenn Übersetzende regelmäßig genau diese mangelnde Sichtbarkeit auf anderer Ebene beklagen. Andererseits gilt der Begriff „kongenial“ als ein hohes Lob. Doch bedeutet dies im Extremfall nicht, nicht nur Text, sondern auch die Person des Autors oder der Autorin zu adaptieren? Ein perfekter Übersetzer wäre wohl Leonard Zelig aus dem gleichnamigen Fake-Dokumentarfilm von Woody Allen, der sich kongenial stets seiner Umgebung anpasst bis zur Unverwechselbarkeit. Das meiste von dem, was ich über Angola weiß, und einen Großteil meiner politischen Meinung dazu verdanke ich dem von mir übersetzten José Eduardo Agualusa. Viele der Ansichten, die ich in den letzten zehn Jahren über Brasilien entwickelt habe, decken sich mit denen des Autors Luiz Ruffato, dessen Romanwerk ich seit 2012 (für den Verlag Assoziation A) übersetze und den ich seitdem Jahr für Jahr auch auf Lesereisen begleite.

Es gibt Gegenbeispiele: In der Kontroverse um problematische Passagen in den Tagebüchern des Literaturnobelpreisträgers José Saramago (Hofmann und Campe 2010) mussten sich zwangsläufig auch dessen Übersetzerinnen Marianne Gareis und Karin von Schweder-Schreiner positionieren und jeweils für sich entscheiden, wie weit sie mit einzelnen Äußerungen des Autors mitgehen konnten. Ich selbst bekam nach der sehr schönen Novelle Fünf Tage, fünf Nächte (Verlag Teo Ferrer de Mesquita 1999) des unter dem Pseudonym Manuel Tiago schreibenden langjährigen Generalsekretärs der Portugiesischen Kommunistischen Partei, Álvaro Cunhal, von einem anderen Verlag den Auftrag, seinen Roman zum Spanischen Bürgerkrieg zu übersetzen, dessen doktrinäre politische Ausrichtung ich nicht teile. Vor allem aufgrund dieses Romans sollte ich später auf Veranstaltungen sprechen, und es fiel mir schwer, mich differenziert von dem historisch für den antifaschistischen Widerstand wichtigen Autor und Politiker zu distanzieren. Mit dem Brasilianer Luiz Ruffato wiederum, der sich als Schriftsteller lange gegen das Attribut „politisch“ verwahrte, obwohl er als einer von ganz wenigen seines Berufsstandes authentisch die Lebenswelt des brasilianischen Prekariats und der Arbeiterschaft literarisiert, durfte ich seit Amtsantritt des rechtsextremen Präsidenten Brasiliens 2019 mehr politische Auftritte zum „neuen Faschismus“ absolvieren, als zu seinem epochalen Romanwerk Vorläufige Hölle (5 Bände bei Assoziation A, zuletzt: Sonntage ohne Gott 2021), mit dem er Literaturgeschichte schrieb. Die Rede, die Luiz Ruffato 2013 (als Brasilien noch sozialdemokratisch regiert war) zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse hielt und in der er schon damals Geschichte und Gegenwart seines Landes kritisch unter die Lupe nimmt, sei sein inzwischen meistgelesener Text, behauptet der Autor nur bedingt ironisch. Im eigenen Land wahrgenommen wurde sie, weil sie im Ausland gehalten, übersetzt und dort potenziell rezipiert wurde.

In der aktuellen Identitätsdebatte, die auf dem Gebiet der literarischen Übersetzung geführt wird, also die Diskussion darum, wer wen übersetzen kann und vor allem darf, geht es nur selten um einen politischen Standpunkt der Rede beziehungsweise der Übersetzung. Und selbstverständlich tritt die Rolle der Übersetzenden bei einer zunehmend vom „Markt“ bestimmten Auswahl auch von Autor:innen aus dem globalen Süden auf einer weiteren Dimension in den Hintergrund. Dennoch stellt sich auch hier die Frage der Legitimität, die an anderer Stelle verbissen geführt wird. Im Kern geht es auch hier darum, dass ein Text eben nicht nur ein Text ist, sondern einen Wust von Kontexten transportiert, der unter Umständen auch die Person der Autorin, des Autors sowie die des Übersetzers oder der Übersetzerin einschließt. Es ist kein unschuldiger Akt mehr (und war es nie), als Mann eine Autorin, als Mittfünfziger eine Mittzwanzigerin, als weißer Europäer ein Schwarze Autorin aus Afrika oder Portugal zu übersetzen. Es war immer ein politischer Akt, der auch mit Hegemonien zu tun hat, nur wird dies mittlerweile wahrgenommen und diskutiert. Wenn Curt Meyer-Clason seinerzeit Autorinnen und Autoren aus dem faschis-tischen Portugal „rettete“, geschah dies auch mit dem entsprechenden Autoritätsgefälle. Das Übersetzen von etwa afrikanischen Autorinnen und Autoren war spätestens seit den 1970er-Jahren auch mit der Vorstellung von „Förderung“ behaftet und der Idee, man täte ihnen (und ihrem Land) mit dieser Sichtbarkeit auch etwas Gutes; die Übersetzung lateinamerikanischer Literatur war etwa in den 1980er-Jahren oft unmittelbar mit politischen Kämpfen verbunden. Die Kehrseite, die damit verbundenen Vereinnahmung analog zur Plünderung von Rohstoffen des Globalen Südens thematisierte Ngũgĩ wa Thiong’o unter anderem in seinem 1986 erschienenen Standardwerk Dekolonisierung des Denkens (übers.: Thomas Brückner, Unrast Verlag 2017).

Ein Text, zumal wenn er sich nicht nur als harmlose Unterhaltung versteht, ist immer mehr, als die bloße Aneinanderreihung von Buchstaben. Kulturelle Vermittlung oder Kannibalisierung – der Konflikt zieht sich bis in die Wortwahl. Übersetzung ist immer mehr als das bloße Abtippen eines Texts in einer anderen Sprache. Übersetzen ist wie Schreiben ein politischer Akt, und nicht immer zeigt sich dies derart eindrucksvoll, wie wenn wenn plötzlich der Protagonist eines Buches bei einer Lesung im Publikum steht.


Michael Kegler ist Literaturübersetzer aus dem Portugiesischen. Er war Fellow des Programms World Literature Fellowship for Translators am IWM (2021).