Sie sollen sich erinnern, wen sie vergessen sollen 

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Am 22. Oktober 2020 hat das albanische Parlament eine Ergänzung des Sondergesetzes Nr. 10242 verabschiedet. Damit wird dem staatlichen Institut für das Studium der Verbrechen und Folgen des Kommunismus (ISKK) untersagt, Ereignisse vor November 1944 zu untersuchen. Was aussieht wie eine administrative Petitesse, ist tatsächlich das jüngste Zeichen eines erbitterten Kampfes, der in Albanien um die Vergangenheit geführt wird. 

Am Anfang dieser Episode steht ein Buch, Kriegsverbrechen kommunistischer Partisanen, geschrieben von dem Historiker Çelo Hoxha, veröffentlicht vom ISKK. Schon der Titel ist ein Sakrileg. Partisanen werden als Helden verehrt. Sie sind Protagonisten beliebter Filme, Romane und Volkslieder, Schulklassen unternehmen Wanderungen auf den überlieferten Pfaden berühmter Partisanen, ihre Denkmäler sind allgegenwärtig. Das Problem ist, dass die Partisanenfolklore untrennbar mit der Diktatur verbunden ist. Nicht nur waren die meisten Führungskader bis 1990 ehemalige Partisanen, sondern der unter dem Namen „Nationaler Antifaschistischer Befreiungskrieg“ formalisierte Kampf schuf in der kommunistischen Historiographie die Grundlagen für den Aufbau des Sozialismus. Er ist, in Ermangelung einer Revolution, der mythische Geburtsakt der befreiten Nation. Funktionäre der Diktatur werden so zu Befreiern Albaniens.

Gleichzeitig wird heute versucht, die Diktatur von der Befreiung zu trennen. Das kommunistische Regime, heißt es in der Gesetzesvorlage, könne „nicht mit der Zeit des Antifaschistischen Nationalen Befreiungskrieges in Verbindung gebracht werden, der mit dem Blut Tausender Märtyrer gewonnen wurde und die Unabhängigkeit des Landes sicherte“. Dieser geistige Spagat, der Aspekte des Totalitarismus auf legitimen Untergrund holt, durchzieht die gesamte offizielle Erinnerungskultur: Es wurde zum Beispiel nur wenig Anstoß daran genommen, dass zum 75. Jahrestag der Befreiung im November 2019 der Boulevard der Märtyrer der Nation in Tirana mit Bildern kommunistischer „Märtyrer“ geschmückt wurde.

Die Erinnerungsarbeit wird zusätzlich erschwert: Weil die „Patriotenrente“ ehemaliger Partisanen deutlich über der üblichen Rente lag, versuchten Tausende Albaner, dem Staat Belege zu liefern, dass sie oder ihre Eltern im Krieg auf der richtigen Seite gekämpft hatten. Das Verhalten im Krieg, die persönliche Biografie gewann eine ungeheure Bedeutung. Während eine „gute Biografie“ spürbare Privilegien mit sich brachte – etwa eine besser bezahlte Arbeit oder die Erlaubnis zu studieren –, bedeutete eine „schlechte Biografie“ ein lebenslanges und generationsübergreifendes Stigma. Davon zeugt nicht nur die Sippenhaft, die Familien von Oppositionellen teils jahrzehntelang in Internierungslager verbannte. Auch die Staatssicherheit begann ihre Dossiers immer mit einer Biografie und einer akribischen Auflistung der Angehörigen.  

Hunderte Anträge, alle ohne Erfolg  

Çelo Hoxhas Buch wurde, als es 2014 erschien, kaum öffentlich kritisiert. Der Sohn eines darin erwähnten prominenten Partisanen bat sogar um eine signierte Ausgabe. Fünf Jahre später reichte derselbe Mann Klage wegen Verleumdung und Beleidigung ein. Was war geschehen?

Das Jahr 2019 markiert einen vorläufigen Höhepunkt im Kampf zweier staatlicher Institutionen, dem ISKK und der sogenannten Dossierbehörde. Letztere war geschaffen worden, um nach dem ausdrücklichen Vorbild der Gauck-Behörde die Archive des Sigurimi zu öffnen. Der damalige Direktor des ISKK, Agron Tufa, beklagte aber bald, dass seine Anfragen unbeantwortet blieben; er habe Hunderte Anträge auf Akteneinsicht gestellt, alle ohne Erfolg. Weil ihm für seinen Auftrag, die Verbrechen des Kommunismus zu studieren, die nötigen Quellen vorenthalten wurden, konzentrierte er sich auf Erinnerungen politisch Verfolgter, die er in einer mehrbändigen Buchreihe publizierte. Dabei fragte er aber immer auch explizit nach Namen von Sigurimi-Offizieren – und machte sie öffentlich: darunter Personen, die heute hohe Polizeibeamte sind, bekannte Schriftsteller, der Chef der auf Druck der EU eingesetzten Antikorruptionsbehörde. Schließlich trat der sozialistische Abgeordnete Spartak Braho eine massive Kampagne gegen das ISKK los, nannte Tufa einen Verräter, verlangte seine Entlassung und brachte eine Gesetzesinitiative in Gang. Tufa, selbst nicht zimperlich, veröffentlichte daraufhin ein ihm zugespieltes Gerichtsurteil aus dem Jahr 1985. Ein 16-Jähriger namens Gjergj Hani hatte den verzweifelten Versuch unternommen, über den Ohridsee nach Mazedonien zu schwimmen. Das Urteil lautete auf „Vaterlandsverrat“: fünf Jahre im Gefängnisbergwerk von Qafë Bari. Unterzeichnet: Richter Spartak Braho.

Am Ende musste Tufa aber aufgeben. Nach Morddrohungen gegen ihn und seine Familie suchte er im Dezember 2019 Asyl in der Schweiz. Sein Nachfolger Çelo Hoxha sieht sich nun denselben Widerständen gegenüber. Zwar wurde die Verleumdungsklage eingestellt. Aber im Oktober 2020 wurde er trotzdem abgestraft.  

Der Staat ist ein unzuverlässiger Erzähler  

Die ganze Hilfslosigkeit der albanischen Erinnerungskultur zeigt sich im Nationalen Historischen Museum in Tirana. Der „Pavillon des Antifaschistischen Nationalen Befreiungskampfes“ hat sich seit 1990 kaum verändert; in Vitrinen werden Reliquien ausgestellt: die Zahnbürste von Nazmi Rushiti, eine Handstickerei von Margarita Tutulani, der Regenmantel von Enver Hoxha, trocken kommentiert mit dem Satz: „Er führte den Nationalen Antifaschistischen Krieg an und leitete nach dem Krieg den albanischen Staat. Er starb am 11. April 1985.“ Wenige Schritte entfernt dann der „Pavillon des kommunistischen Terrors“. Dieselbe Konzeption, in Vitrinen TShirts, Brillenetuis, ein versteinertes Stück Brot, an dem jemand vor seiner Hinrichtung gegessen hat. Ein skurriles Nebeneinander unvereinbarer Positionen, in dem es keine Einordnung gibt, keine qualitative Unterscheidung der Opfer.

Besonders eindrucksvoll zeigt sich dieser Kampf der Narrative in den persönlichen Briefen, die Albaner zwischen 1947 und 1985 an das Zentralkomitee der Partei oder direkt an Enver Hoxha schrieben. Diese privaten Schreiben beginnen fast alle mit einer ausführlichen Autobiografie, denn ihre Autoren wissen, dass sie ihre Anliegen allein durch die Bekräftigung des staatlichen Narrativs geltend machen können. Die Empfänger hingegen versuchen, die Autoren zu entlarven (wobei sie immer zuerst die Biografie prüfen, indem sie Erkundigungen bei der Staatssicherheit einholen). Was sich zwischen den revolutionären Grüßen, den euphorischen sozialistischen Floskeln, dem egalitären Duzen herauslesen lässt, ist ein tiefes gegenseitiges Misstrauen – das zusehends größer wird, weil das staatliche Narrativ sich regelmäßig ändert. Denn auch der Staat ist ein unzuverlässiger Erzähler. Etwa alle zehn Jahre kommt es zu Säuberungswellen: erst die „Kriegsverbrecher“, später die Trotzkisten, die Titoisten, russische Revisionisten, chinesische Revisionisten, Indefferenzialisten. Die Hochzeit mit einer Serbin oder ein Studium in Moskau – ehemals ein Privileg – konnte über Nacht zur Belastung werden. Über die Jahre und Jahrzehnte entwickelte sich ein beinahe calvinistischer Providenzgedanke. Menschen durchkämmten panisch ihre Biografien und suchten nach Indizien dafür, dass sie zu den Auserwählten gehörten und nicht zu den Verdammten.  

Mein Vater war Kommunist, und er stand auf der richtigen Seite der Geschichte  

Die übergeordnete Bedeutung der Biografie hat sich bis heute erhalten. So stellt etwa die Verleumdungsklage, die 2019 gegen Hoxha eingeleitet wurde, gleich im ersten Satz auf die gute Biografie des Klägers ab, seinen „sehr guten Namen und Ruf in der öffentlichen Verwaltung und unter seinen Freunden und Verwandten“. Die eklatanteste Demonstration lieferte aber der sozialistische Premierminister Edi Rama selbst, als er sich im Juli 2020 in einer live übertragenen Debatte im Parlament zu der Aussage hinreißen ließ: „Mein Vater war, wie viele andere, Kommunist, und er stand auf der richtigen Seite der Geschichte.“ Jeder Albaner weiß, wer Edi Ramas Vater war. Als bekannter kommunistischer Kader hatte er 1988 den Hinrichtungsbefehl für den systemkritischen Dichter Havzi Nela unterzeichnet.

Die Politik des verordneten Vergessens hat in Albanien eine lange Geschichte. Nach jeder Säuberungswelle wurden die staatlichen Publikationen bereinigt, die „Feinde des Volkes“ wurden wegretuschiert, alte Bücher mit neuen ausgetauscht. Menschen verschwanden, als hätte es sie nie gegeben. Auch solche, die jeder kannte, Minister, Architekten, beliebte Schlagersänger, Menschen, die gestern noch „Volkshelden“ waren, wurden über Nacht aus der öffentlichen Erinnerung getilgt. Im House of Leaves, dem kleinen Sigurimi-Museum in Tirana, zeigt ein Video die Erinnerungen von Irina Sollaku. Nachdem ihr Mann verhaftet wurde, habe die Staatssicherheit alle Fotografien von ihm mitgenommen, erzählt sie. Natürlich vergaß sie ihn deshalb nicht, im Gegenteil, der leere Platz an der Wand erinnerte sie viel schmerzlicher als jedes Foto. Die Logik des Terrors: Sie soll sich erinnern, wen sie vergessen soll. Es ist eine Demonstration der Macht – und der Ignoranz. Denn paradoxerweise hat diese Methode zur Folge, dass die zahlreichen parallelen, konkurrierenden, privaten Narrative so beharrlich erhalten bleiben. 


Nikolai Antoniadis arbeitet als freier Journalist und Autor in Hamburg. Er war vom November 2020 bis Januar 2021 Milena Jesenská Visiting Fellow am IWM.