Ludger Hagedorn im Gespräch mit Vesna Velkovrh Bukilica

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Ich habe einige der besten Romane des 20. Jahrhunderts geschrieben.

Ludger Hagedorn: Vesna, neben deinen vielen anderen Beschäftigungen bist du auch Übersetzerin. Warum hältst Du Übersetzen für wichtig?

Vesna Velkovrh Bukilica: Die Geschichte liefert uns die Antwort. Die geistige und spirituelle, ja sogar die physische Landschaft Europas und der ganzen Welt wäre ohne Übersetzung eine andere, unvorstellbar anders sogar. Das ist keine Übertreibung. Nicht nur die Bibel, deren Bedeutung man nicht hervorzuheben braucht, wurde erst durch Übersetzung verbreitet, sondern beispielsweise auch die Werke des Aristoteles. Diese waren für die westliche Welt schon verloren, und es war hauptsächlich dank der arabischsprachigen Übersetzung und dann wiederum der europäischen Übersetzung aus dem Arabischen, dass Europa sie wiederentdeckte.

Um die Bedeutung der Übersetzung zu ermessen, muss man sich also nur umschauen. Was sehen wir? Ohne Übersetzungen wäre die Umgebung, die wir wahrnehmen, wahrscheinlich unlesbar, weil es nicht die Begriffe gäbe, aufgrund derer sie sich entwickeln konnte.

Hagedorn: Das ist ein gutes Argument, aber ein historisches. Wie siehst du denn die heutige Situation? Viele würden sagen, dass es – besonders in der Wissenschaft – vollkommen ausreichend ist, wenn wir alle auf Englisch miteinander kommunizieren.

Velkovrh Bukilica: Jede Zeit hatte ihre lingua franca, und heute ist es eben das basic English. In gewisser Weise würde es ausreichen – wenn es tatsächlich nur um den Austausch von technischem Wissen ginge. Aber das Anwachsen eines solchen Wissens – und des rein faktischen Wissens überhaupt – ist nicht notwendigerweise gleichbedeutend mit einem Fortschritt im Wohlergehen (das immer stark von immateriellen Werten abhängt), oder mit Fortschritt im Sinne der kulturellen Entfaltung und einer umfassenden und bereichernden Erfahrung der Welt.

Sprachen, einschließlich der Dialekte, sind die direkte Widerspiegelung einer grundlegenden Mentalität der Gemeinschaft, aus der sie entspringen. Sie sind auch wesentliche Identitätsmarker – in manchen Fällen, wie für die slowenische Nation, sind sie vielleicht sogar die einzig relevanten Identitätsmarker, ganz sicher aber der wesentliche Kohäsionsfaktor. Wenn sie unterdrückt werden – was auch durch schleichende und graduelle Ersetzung geschehen kann, ganz besonders wenn diese Ersetzung in Bereichen wie der Ökonomie geschieht, die mit Souveränität und Macht assoziiert werden –, dann wird diese Identität mit ihren einzigartigen historischen und kulturellen Bezügen langsam erodieren und irgendwann sich auflösen.

Wenn wir also über die Relevanz der Übersetzung reden, könnten wir uns ebenso gut die Frage stellen: welche Relevanz hat es, nationale Identitäten zu wahren? Und das wäre in der Tat eine legitime und äußerst interessante Frage, die aber den Rahmen dieses Interviews weit übersteigen würde.

Wie ich übrigens schon andeutete, ist die heute international verwendete Verkehrssprache ein basic English, eine traurig verarmte Version des Englischen, und es liegt wirklich eine besondere Ironie darin, dass diese Art der Kommunikation, vermittelt insbesondere über das Internet, am Ende sogar das Englische selbst aushöhlen könnte, womit dann niemandem mehr gedient wäre.

Hagedorn: Wie steht es hier um die sogenannten „kleineren Sprachen“? Um ihre sprachliche Eigenständigkeit zu wahren, sind sie in besonderer Weise auf Übersetzungen angewiesen. Das bedeutet zugleich, dass in Relation zur Größe der Bevölkerung überdurchschnittlich viel übersetzt wird. Übersetzerinnen und Übersetzer sind also gefragt und werden mehr als anderswo als essentiell für die jeweilige Sprache und Kultur begriffen.

Velkovrh Bukilica: Im gegenwärtigen Europa ist eine „kleine“ Sprache – also eine, die von einer nummerisch kleinen Nation oder Gemeinschaft gesprochen wird – eher Segen als Fluch. Je „kleiner“ die Sprache, umso größer die Chance, dass ihre Sprecher dem Provinziellen entkommen. Das klingt paradox, ist es aber nicht: damit eine kleine Sprache blüht, muss sie importieren und schauen, was es „da draußen“ sonst noch gibt. Auf der anderen Seite aber ist es für echte Souveränität – die immer mit der Frage der Identität verwoben ist – ganz wesentlich, die sprachlichen Werkzeuge zu entwickeln und weiter zu verfeinern, die für den jeweiligen Diskurs zu einem bestimmten Thema notwendig sind. Allein von daher sollte offenkundig sein, wie zentral und absolut unerlässlich die Bedeutung der Übersetzung – ganz besonders im Milieu einer „kleinen“ Sprache – für das intellektuelle und kulturelle Wachsen einer Gesellschaft ist.

Hagedorn: Übersetzung kommt einem oft wie die Quadratur des Kreises vor: Was auch immer man anstellt, niemals wird das Resultat eine eins-zu-eins Entsprechung des Originals sein. Aber zugleich öffnet Übersetzung auch kreative Räume.

Velkovrh Bukilica: Selbstverständlich. Übersetzung ist ein schriftstellerischer Akt, eine Tätigkeit, die zwangsläufig den Einsatz von Intellekt, Intuition und persönlicher Erfahrung verlangt; sie ruft alles ab, was man weiß und was man ist. Oft werden Übersetzer gefragt, ob sie auch selbst „schreiben“, oder warum sie es nicht tun. Ich scherze dann gerne: „Was meinen Sie, ob ich schreibe? Ich

habe einige der besten Romane des 20. Jahrhunderts geschrieben. Nur, ich habe sie auf Slowenisch verfasst.“ Und diese Bemerkung funktioniert als Witz nur deshalb so gut, weil eine tiefe Wahrheit drinsteckt. Übersetzung ist das Neu-Schreiben eines Textes durch einen intensiv beteiligten KoAutor. Man muss die Bedeutung so genau treffen, wie es nur menschenmöglich ist – aber die ganze Bedeutung eines literarischen Werkes vermittelt sich eben nicht nur über das, was gesagt wird, sondern auch dadurch wie es gesagt wird. Man muss auch die „Textur“ der Autorenstimme, ihr Timbre, den Ton des Werkes erfahrbar machen. In gewisser Weise ähnelt das Übersetzen stark einer musikalischen Interpretation, nur mit der zusätzlichen Schwierigkeit, dass eine Partitur, die beispielsweise für Klavier geschrieben wurde, transponiert und auf dem Cello gespielt werden muss, wenngleich

dieses Cello immer noch irgendwie so klingen soll wie das Klavier. Meiner Meinung nach sollte eine Übersetzung de facto als ein eigenständiges literarisches Werk in der Zielsprache gesehen – und auch so präsentiert und beurteilt – werden, jedoch als ein Werk, das auch den Ton und die Wortschöpfungen eines anderen verrät, eben des ursprünglichen Autors.

Jedes Nachdenken über Übersetzung ist auch eine gute Gelegenheit, sich mit den unvermeidlichen Lücken in der ganz alltäglichen Semantik zu befassen, über die man sich wenig Gedanken macht, außer in der Theorie, und auch da nicht tiefgehend genug. Wörter sind in einem sehr realen, wörtlichen Sinne die Bausteine unserer Welterfahrung und damit ein Gefängnis, ebenso aber auch ein Raum der Freiheit.

Hagedorn: Während deines Aufenthalts am IWM im Rahmen des Paul Celan-Fellowships hast du an der Übersetzung von Thomas Pikettys Le Capital au XXIe siècle gearbeitet. Was waren die besonderen Herausforderungen dieser Übersetzung und wie zufrieden bist du eigentlich mit dem Resultat?

Velkovrh Bukilica: Ich werde meinem Verlag auf immer dankbar sein, dass er mir die Chance zur Übersetzung dieses Buches geboten hat. Von den mehr als fünfzig Büchern, die ich übersetzt habe, ist es eines der wenigen, von denen ich sagen würde, dass sie wahrscheinlich „mein Leben verändert“ haben, insoweit ein Buch das eben kann. Es hat mich klüger gemacht nicht nur dadurch, dass es mir Fakten vermittelt hat, sondern auch weil es ein Bewusstsein für die inneren Mechanismen der Ökonomie im Allgemeinen schafft. Genau das war auch die Absicht des Autors: er wendet sich eben nicht nur an Ökonomen, sondern will jeden befähigen, ein besseres Verständnis für das ökonomische Gefüge zu gewinnen, das täglich unser Leben prägt, und irgendwann ermöglicht dies dann vielleicht auch, selbst eine größere Kontrolle darüber zu gewinnen.

Bei der Übersetzung selbst bestand für mich die größte Herausforderung darin, bestimmte Begriffe überhaupt erst zu prägen, weil die Ökonomen in Slowenien (wie in vielen anderen Ländern) oft die englischen termini technici unübersetzt verwenden. Die Notwendigkeit, über eigene linguistische Werkzeuge zu verfügen, um politische oder soziale Diskurse formulieren zu können, ist wohl zu offensichtlich, um das noch weiter kommentieren zu müssen. Auf der anderen Seite gab es da aber die ebenso offensichtliche Notwendigkeit, diese Begrifflichkeiten, und die Sprache im Allgemeinen, geläufig und praktisch zweckmäßig zu halten.

Ausnahmsweise gab es bei diesem Buch ein Zusammenwirken von nicht weniger als drei Lektoren sowie einem weiteren Korrektor, was natürlich für lebhafte Diskussionen (und manchmal ziemlich wenig Schlaf ) sorgte. Ich darf mit Sicherheit sagen, dass ich diesen brennend heißen Wiener Sommer des Jahres 2015 so schnell nicht vergessen werde. Am Ende aber stand ein Buch, das eine grundlegende Referenz für mindestens eine ganze Generation slowenischer Ökonomen bleiben wird – beziehungsweise für alle Ökonomen, die slowenisch schreiben.

Hagedorn: Du musst doch einigermaßen froh gewesen sein, als das Buch dann plötzlich als Nummer 1 der slowenischen Bestsellerliste geführt wurde?

Velkovrh Bukilica: Natürlich war ich froh, aber auch nicht besonders überrascht, wenn man den Erfolg des Originals bedenkt. Was mich aber wirklich umgehauen hat, war die Nachricht, dass es Fifty Shades of Grey von der zuvor unangefochtenen Spitzenposition verdrängt hat. Im Herbst 2015 war das ein ganz schöner Erfolg!

Hagedorn: Es gibt einen besonderen Tag im Kalender zu Ehren der Übersetzung: 30. September, der Hieronymustag, ist der International Translation Day. Hilft so etwas, um Aufmerksamkeit zu erzeugen?

Velkovrh Bukilica: Die bloße Tatsache, dass ein solcher Tag existiert (und ich bin dankbar dafür!), ist schon vielsagend. So wie Frauen oder bedrohte Spezies scheint die Übersetzung einen Tag zu benötigen, um ein Bewusstsein für ihre Bedeutung und ihre Notlage zu stärken. So wie in den anderen Fällen auch, scheint das nicht wirklich zu funktionieren. Und in diesem Fall sagt uns schon der Name, wieviel „Aufmerksamkeit“ hier tatsächlich fehlt, denn der Tag ist nicht den Übersetzerinnen und Übersetzern gewidmet, sondern „der Übersetzung“ – anscheinend ist das eine sich selbst generierende Tätigkeit, eine Art mechanische Parthenogenese.1

Ganz nüchtern: natürlich hilft so ein Tag, bei manchen eine stärkere Aufmerksamkeit zu gewinnen, allerdings sind das meist diejenigen Menschen, die sich der Bedeutung der Übersetzung sowieso schon bewusst sind: Menschen, die lesen, in Bibliotheken arbeiten usw. Mir kommt ein schöner Ausdruck im Englischen dafür in den Sinn: Preaching to the choir.

Was allerdings helfen würde, das Bewusstsein für die Bedeutung der Übersetzung zu stärken, und zwar sofort, wäre der Versuch (und sei es nur optisch), für einen Tag oder auch nur ein paar Stunden alle übersetzten Bände aus den Regalen der Bibliotheken und Buchläden zu entfernen; oder über die Medien alle Menschen aufzufordern, dies bei sich zu Hause zu versuchen: Entfernen Sie alle Übersetzungen aus den Regalen und schauen Sie, was übrigbleibt.

Was auch enorm hilfreich wäre – und dafür bedarf es wirklich keiner radikalen Einschnitte –, wäre die Verpflichtung (nicht bloß die Option), bei allen Buchbesprechungen und in allen Online-Shops und Bücherforen den Namen der Übersetzerinnen und Übersetzer zu erwähnen und diesen den standardmäßigen bibliographischen Angaben hinzuzufügen (Autor/in, Übersetzer/in, Jahr und Ort der Publikation). Es geht da nicht um irgendeinen Egotrip, sondern schlicht um basale Dinge und Information: Anerkennung für die Arbeit der Übersetzerinnen und Übersetzer, aber auch eine Geste der Fairness und Transparenz gegenüber der Leserschaft und den Autorinnen und Autoren der Originalbücher.

Und zugegeben, natürlich hat es schon Fortschritte gegeben. Vor einigen Jahrzehnten war es noch undenkbar oder zumindest eine riesige Ausnahme, dass der Name des Übersetzers oder der Übersetzerin auf dem Buchcover erwähnt worden wäre. Heute ist es – zumindest in vielen europäischen Ländern, auch in Slowenien – fast Standard. Es gibt sogar eine wachsende Leserschaft, die sich wegen einer Übersetzerin bzw. eines Übersetzers und nicht nur wegen des Autors bzw. der Autorin für ein bestimmtes Buch interessieren.

Trotz allem, beim entscheidenden Punkt der Bezahlung zeigt sich dann schnell, wie drastisch unterbewertet die Übersetzerarbeit noch immer ist, und das nicht nur in der Literatur, denn dasselbe gilt auch für Untertitelungen, einem Segment, das einen starken Einfluss auf die Zielsprache hat, weil mehr Menschen Filme schauen als Bücher lesen. Das ist der Grund, warum Programme wie das Paul Celan-Fellowship – das ganz einzigartig ist, weil es die Übersetzung von Sachbüchern fördert – so enorm wichtig sind. Dadurch dass es der Übersetzerin oder dem Übersetzer einen Schutzraum gewährt, vorübergehend unbelastet von den drängendsten finanziellen Sorgen, anerkennt und würdigt das Programm die Arbeit des Übersetzens und ihre elementare Rolle für die Gesellschaft.

1Im Gegensatz zum Englischen und Französischen heißt der Tag im Deutschen „Internationaler Übersetzertag“.


Vesna Velkovrh Bukilica ist eine slowenische Übersetzerin. 2015 war sie Paul Celan Visiting Fellow am IWM.