Die Geburt der Watchdog-Parlamente*

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In einer Zeit, in der die demokratische Bedeutung von Parlamenten zunehmend in Frage gestellt wird, weist John Keane auf parlamentarische Entwicklungen hin, die eine Erneuerung der repräsentativen Demokratie ankündigen.

Haben Parlamente eine Zukunft? Die Frage stellt sich, weil es wachsende Anzeichen dafür gibt, dass sich die Renaissance der Parlamente, die nach 1945 eingesetzt hat, ihrem Ende neigt. Zynismus, Nörgelei, Ressentiments und Proteste wütender Bürger gegen Politiker fügen den Parlamenten von außen her Schaden zu. Gleichermaßen beunruhigend sind die Triebkräfte der Dekadenz innerhalb der Parlamentsgemäuer. Zu erwähnen sind nicht nur der lauthals kundgetane Groll, die Frauenfeindlichkeit und Ignoranz einer nicht unbeträchtlichen Anzahl von Politikern oder die „tote Hand der Parteidisziplin“.  Ebenso besorgniserregend ist die Korruption der Parlamente durch die vereinten Kräfte von Lobbyisten, Schwarzgeldhändlern und jenen, die vom Drehtür-Effekt profitieren.

Tatsächlich legt sich ein dunkler Schatten auf viele Parlamente der Welt. Es wäre daher naheliegend anzunehmen, dass wir in das Zeitalter der Phantomparlamente und der Herrschaft der Exekutive eintreten, in dem die Gesetzgeber, die den Anspruch erheben, dem Volk zu dienen, in Wirklichkeit von begrenzter oder überhaupt keiner demokratischen Bedeutung sind. Einige Kreise mögen einen solchen Übergang willkommen heißen, aber wir wollen hier die entgegengesetzten Trends betrachten und ergründen, warum die parlamentarische Regierungsform weiterhin unentbehrlich bleibt.

Blicken wir auf das dänische Folketinget: Sein mächtiger Ausschuss für europäische Angelegenheiten verfolgt in Sitzungen, die als Konsultationen (samråd) bezeichnet werden, die Tagungen des Rates der Europäischen Union in Brüssel und Luxemburg in Echtzeit und nimmt die teilnehmenden Minister unter die Lupe. Die Nationalversammlung der Republik Korea hat die weltweit ersten umfassenden Gesetze gegen verbalen Missbrauch und Bullying („gapjil“) durch Familienkonzerne und andere mächtige Organisationen verabschiedet. Das rumänische Parlament wird jetzt mit Hilfe von ION, einem intelligenten Roboter, der angeblich in der Lage sein soll, die „Intelligenz“ von Politikern zu verbessern, digital mit Vorschlägen und Beschwerden der Bürger versorgt. Und der Deutsche Bundestag soll künftig unverbindliche Berichte von Bürgerräten erhalten, deren Mitglieder per Losverfahren ermittelt wurden.

Darüber hinaus befassen sich Parlamente intensiv mit der Vergangenheit und der Zukunft. Die walisische Legislative berät sich regelmäßig mit dem weltweit ersten Future Generations Commissioner. Mit Blick auf eine ungewisse Zukunft hat das Europäische Parlament das erste KI-Gesetz der Welt ausgearbeitet. Das neuseeländische Parlament (Aotearoa) hat Ökosystemen „die Rechte, Befugnisse, Pflichten und Verbindlichkeiten einer juristischen Person“ eingeräumt. Das grenzüberschreitende nordische Netzwerk der samischen Parlamente, das Sámediggi, ist ein Beispiel für interparlamentarische Zusammenarbeit und verfügt über Beratungsorgane, die den Auftrag haben, die Selbstbestimmung der Ureinwohner zu fördern und zu bewahren.

Wie ist diese neue Welle von Experimenten zu verstehen? Offensichtlich hauchen sie alten Institutionen neues Leben ein; Institutionen, deren Zweck ursprünglich darin lag, dass Gesetzgeber als die Vertreter der verschiedenen gesellschaftlichen Interessen im Sinne des Gemeinwohls verbindliche Vereinbarungen treffen. Wir könnten sagen, dass diese parlamentarischen Experimente heute das tun, was Parlamente mehr als acht Jahrhunderten lang getan haben: Sie repräsentieren die Forderungen und Interessen der von ihnen Vertretenen, und sie erinnern uns daran, dass parlamentarische Repräsentation eine verzwickte Angelegenheit ist.

Populisten und Demagogen seien gewarnt: Repräsentation ist kein einfacher, von Angesicht zu Angesicht geschlossener Vertrag zwischen einem Vertreter und einem imaginären Volk oder einer Nation. Repräsentation ist keine Mimesis. Sie hat eine treuhänderische Qualität, was mit sich bringt, dass, wenn Wähler einen Vertreter wählen, die Vertretung gleichermaßen ein Ende wie einen Anfang darstellt. Wie uns die neue Welle parlamentarischer Experimente vor Augen führt, ist Repräsentation ein offener Prozess, der von der Zustimmung, der Enttäuschung und dem Unmut der Vertretenen abhängig ist. Wenn Repräsentanten hinter den Erwartungen zurückbleiben oder gar versagen, werden sie im Handumdrehen aus dem Verkehr gezogen.

Diese Grundsätze der Repräsentation sind in den neuen parlamentarischen Experimenten quicklebending. Aus diesem Grund steht in den Lehrbüchern nach wie vor, die wichtigste Aufgabe der Parlamente bestehe darin, die Interessen der Bürger abzubilden, basierend auf freien und fairen Wahlen. Aber diese Lehrbücher sind fehlerhaft: Wenn wir uns genauer anschauen, was die raffinierten, aktivistischen Parlamente von heute tun, sehen wir eine Abweichung von großer historischer Bedeutung, die von den Lehrbüchern ignoriert wird.

Parlamente sind nicht nur Kammern oder „kleine Räume“ (Winston Churchill), in denen gewählte Politiker ihre Wähler vertreten. In unserem Zeitalter der Monitordemokratie werden Legislativen zu Watchdog-Parlamenten. Im Namen des Gemeinwohls fungieren sie als Whistleblower, schlagen Alarm, warnen vor schlimmen Problemen und verabschieden Gesetze mit dem Ziel, willkürliche Machtausübung einzudämmen oder zu verbieten.

Der Gegensatz zu den Parlamenten von gestern könnte nicht deutlicher sein. Das allererste Parlament, das 1188 n. Chr. in León einberufen wurde (Cortes of León), war das Ergebnis einer militärischen Eroberung. In jüngerer Vergangenheit waren Parlamente allzu oft Schlösser der Aristokratie, Herrenhäuser der Bourgeoisie, Salons der männlichen Privilegien und Motoren des Imperiums. Im Gegensatz dazu stellen sich die heutigen Watchdog-Parlamente, sofern sie gut funktionieren, gegen jegliche Art von Eroberung. Watchdog-Parlamente spezialisieren sich auf die Ausübung öffentlicher Kontrolle und Zügelung räuberischer Macht, insbesondere wenn sie über umfassende Ressoucen verfügen.

Sie leisten nicht nur Widerstand gegen törichte Regierungen, die ihre Macht missbrauchen. Watchdog-Parlamente sprengen die Ketten der Majoritätsherrschaft, stellen sich gegen die blinde Anbetung der Zahl, indem sie Minderheiten, die von der hohen Politik ausgeschlossen sind, Stimme und Rechte gewähren. Diese Parlamente verändern unser kollektives Zeitempfinden. Sie erweitern das Wahlrecht auf bedrohte Spezies, benachteiligte Vorfahren und künftige Generationen. Indem sie sich beispielsweise gegen räuberische Konzerne, profitgierige Banken und skrupellose Bergbauunternehmen stellen, schützen und fördern sie die Einhaltung demokratischer Spielregeln. Nicht zu unterschätzen ist die Tatsache, dass sie sich um die Lösung langfristiger Probleme bemühen, die durch das kurzfristige Denken in Wahlzyklen in den Hintergrund gedrängt werden.

Watchdog-Parlamente sind mehr als nur die Hüter der Wahlintegrität. Als Meister öffentlicher Machtüberwachung nehmen sie  vertrackte Probleme ins Visier. Ihre Aufgabe ist es, im Hinblick auf künstliche Intelligenz, Steuerparadiese, Umweltverschmutzung, Seuchen, die Notlage staatenloser Menschen, den unregulierten Waffenhandel und endlose Zermürbungskriege gerechte Lösungen zu finden. Paradoxerweise gehen Watchdog-Parlamente dabei nicht nur den „parlamentarischen Weg“ und frönen nicht alleine dem Fetisch regelmäßiger Wahlen. Vielmehr tragen sie dazu bei, die Demokratie neu zu definieren und ihr Biss zu verleihen. Die Wahldemokratie (electoral democracy) wird zur Monitordemokratie (monitory democracy). Demokratie ist damit nicht mehr nur gleichbedeutend mit freien und fairen Wahlen, sondern beinhaltet weit mehr: eine Garantie der Freiheit der Bürger vor räuberischer Macht in all ihren abstoßenden Ausprägungen, einschließlich unseres rücksichtslosen Umgangs mit der Erde, auf der wir leben.

Es stimmt, dass die neuen Überwachungsparlamente fragil sind. Sie arbeiten ohne große intellektuelle Unterstützung. Es gibt keine großen politischen Theorien, die ihnen Schutz gewähren, wie es einst François Guizots Vorlesungen über die Ursprünge der repräsentativen Regierung in den frühen 1820er Jahren, oder John Stuart Mills Betrachtungen über die Repräsentativregierung 1861 taten. Diesen Watchdog-Parlamenten fehlt es an Handbüchern und Bedienungsanleitungen. Das hat zur Folge, dass sie in der Wissenschaft kein Aufsehen erregen und keine historischen Erfolgsgarantien genießen. Nur künftigen Historikern, nicht aber uns, sind ihre Überlebenschancen bekannt. Das Einzige, was sicher ist, ist, dass der Geist dieser Watchdog-Parlamente jene Kraft ist, die wir Menschen benötigen werden im Bemühen um einen klugen, gerechten und demokratischen Umgang mit den reichhaltigen Möglichkeiten und den sich häufenden Gefahren unseres unruhigen Jahrhunderts.


* Ausschnitt einer Grundsatzrede in Anwesenheit von König Felipe VI. auf der Konferenz zur Feier des Internationalen Tages des Parlamentarismus, die von Inter Pares: EU Global Project to Strengthening the Capacity of Parliaments veranstaltet wurde (Cortes Generales, Léon, Spanien, 30. Juni 2023). Vollständige Fassung (auf Englisch und Spanisch): https://www.eurozine.com/why-parliaments/https://www.eurozine.com/por-que-importan-los-parlamentos/

John Keane ist Professor für Politik an der Universität Sydney und regelmäßiger Fellow am IWM.