Eine Anti-Migrationspolitik befeuert den Aufstieg des Autoritarismus zehn Jahre nach der Flüchtlingsbewegung von 2015. Dabei könnte Migrationspolitik zur Demokratisierung und einer neuen Humanität beitragen.
Wir alle erinnern uns. Genau vor zehn Jahren begann das, was von einigen euphorisch als „Sommer der Migration” bezeichnet wurde, während andere es nur wenig später missgünstig als „Flüchtlingskrise” verunglimpften. Menschen, die meist mit wenig mehr als ihrem eigenen Sein, manchmal von Sicherheitspersonal geleitet, über abseitige Straßen an den Grenzen Europas wanderten, auf Bahnhöfen ausharrten, bis sie es nicht mehr aushielten, und vor Grenzzäunen in ganzen Trauben warteten, bis sie durchgelassen wurden, bis sie irgendwann sich nach Norden aufmachen konnten. Sie kamen hauptsächlich aus von Kriegen zerrütteten Ländern wie Syrien, Afghanistan und dem Irak. Ein Schlüsselmoment war, als Tausende Menschen vom Budapester Hauptbahnhof aus über die Autobahn Richtung Österreich und Deutschland und manchmal noch weiter nach Schweden zogen. Das sprengte das durch mehrere Runden der Zersetzung und Entrechtlichung inzwischen dysfunktional gewordene europäische Asyl- und Grenzregime. Entgegen der kampangenhaften Wiederholung wurden die Grenzen nicht aktiv geöffnet. Sie wurden – zur Überraschung vieler, die in diesem Moment mit diesen Menschen bangten und sich um sie fürchteten – nicht geschlossen.
Die enorme Solidarität und Hilfsbereitschaft von Millionen Menschen in Deutschland war eine weitere große Überraschung. Wir alle erinnern uns, dass viele zu den Bahnhöfen strömten und oftmals klatschend Nötigstes und machmal auch Liebevolles überreichten. Der Sommer der Flucht war ein Sommer der Solidarität. Die Unterstützung kam wie aus dem Nichts und sie kam von überall: aus Nachbarschaftshilfen, neu aufkeimenden Initiativen und von großen Organisationen. Langsam zogen auch die staatlichen Stellen nach. Große Firmen lancierten Fonds und Diversitätskampagnen. Eine Welle der Sympathie und Hilfsbereitschaft machte sich in der Bevölkerung breit. Ein eindeutiger Wandel fand im Alltag und in den Medien statt und wurde von allen verstanden. Studien zur deutschen Willkommenskultur besagen, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland auf die eine oder andere Weise geholfen hat. Alle diese Menschen haben intuitiv verstanden, dass die Betroffenen Unterstützung brauchten. Und nicht nur sie. Auch die Gesellschaft brauchte Unterstützung. Sie musste mit einer Situation zurechtzukommen, die sie so vorher nicht erlebt hatte, hatte sie es doch über Jahrzehnte versäumt, eine angemessene Aufnahmeinfrastruktur aufzubauen. Diese Leute gaben an, dass ihre hauptsächliche Motivation darin lag, dass es sie glücklich gemacht habe, dies zu tun.
Wenn wir an die Willkommenskultur denken, sollten wir darum nicht nur an die Solidarität gegenüber Geflüchteten denken, sondern auch an eine praktische Solidarität mit unserer Gesellschaft. Die Menschen haben intuitiv verstanden, dass hier etwas nicht vorgesehen ist und dass deshalb die Bedingungen dafür geschaffen werden müssen, es möglich zu machen. Es war ein schöner Moment, denn er verband eine Hommage an die Willkommenskultur gegenüber Geflüchteten mit einer Hommage an die eigene Gesellschaft. Denn Bedingungen dafür zu schaffen, dass Menschen aufgenommen werden können, sind notwendigerweise gemeinsame Bedingungen.
Zehn Jahre später steht dieser Solidarität eine aktuelle deutsche und europäische Abschottungspolitik gegenüber. Es macht sich eine Anti-Migrationspolitik breit. Geflüchtete werden zurückgewiesen, Menschenrechte mit Füßen getreten und jahrzehntelange Vereinbarungen, die regeln, wie mit Menschen umgegangen werden soll, die auf der Suche nach Schutz umherirren, infrage gestellt. Seit 2015 sind 30.000 Menschen im Mittelmeer gestorben. Die vielen medialen Hetz- und Desinformationskampagnen, die immer unerträglicher werden, muss ich nicht einzeln aufführen.
Wie kam es dazu? Die Covid-Pandemie muss als erheblicher Einschnitt betrachtet werden. Zunächst führte sie im Frühjahr 2020 zwar zu breiter Solidarität, aber natürlich auch zu Verunsicherung – eine Stimmung, die von rechten Kräften mit verschwörungstheoretischen Ideologien instrumentalisiert werden konnte. Wer hätte sich damals vorstellen können, dass die Leugnung der Pandemie durch die Querdenker, durchsetzt mit rechtsextremem Gedankengut, Jahre später so viel Aufwind erhalten würde? Hier wurde auch die Kritik an demokratischen Institutionen einstudiert, der wir uns heute in Form von Angriffen auf zivilgesellschaftliche Organisationen gegenübersehen, auch auf Organisationen, die sich seit Jahrzehnten für die Einhaltung eines humanitären Asylrechts einsetzen.
Während der Pandemie wurde jedoch auch die Frage aufgeworfen, wer das Recht zu leben hat – und wer nicht. Der Brand im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos vor genau fünf Jahren machte deutlich, wie in einer solchen Situation die Frage aufkommt, ob angesichts der Pandemiekrise überhaupt noch geholfen werden könne. Es dauerte auch ein ganzes Jahr, bis nur ein kleiner Teil der Menschen, die unter den dortigen elenden Verhältnissen lebten, nach Deutschland gebracht wurden. Im Vergleich zu der Hilfsbereitschaft und Solidarität, die 2015 gezeigt wurde, hatten wir es hier mit einer völlig anderen gesellschaftlichen Antwort zu tun, die die Ansicht stärkte, dass die Asylfrage nur durch Grenzschließungen gelöst werden könne. Es ist dann der unmittelbare zeitliche Übergang von der Pandemie zum Angriffskrieg auf die Ukraine im Jahr 2022, der die Diskussionen über eine Militarisierung und die neue geopolitische Lage massiv intensivierte.
Aber nicht nur. Die Hilfe gegenüber den Geflüchteten aus der Ukraine zeigte sich in Deutschland und Europa in nun wiederholter, großer Solidarität. Nicht nur nahm Deutschland bis heute 1,2 Millionen Flüchtende auf, diese Aufnahme verlief auch relativ geräuschlos. Die Solidarität beruhte dabei sehr stark auf der zivilgesellschaftlichen Erfahrung und den Mustern der Solidarität von 2015. In kürzester Zeit konnten erneut jene Infrastrukturen des Ankommens regeneriert werden. Ein wesentlicher Unterschied zu anderen Flüchtlingsgruppen war die Anwendung der EU-Massenzustrom-Richtlinie für Menschen mit ukrainischem Pass. Diese Richtlinie ermöglichte es, ihnen sehr schnell einen Aufenthalt zu gewähren, ohne dass sie langwierige und komplizierte Verfahren durchlaufen mussten. Die Erfahrung kann als ein gesellschaftliches Experiment im positiven Sinne bezeichnet werden, das zeigte, wie eine Aufnahme anders laufen könnte.
Und trotzdem gibt es einen beständigen „Mismatch” zwischen dieser solidarischen Arbeit und den unzureichenden institutionellen Veränderungen in Bereichen wie Bildung, Wohnen und Gesundheit – ja, und eben auch im Bereich des Rechts. Seit 2015 erleben wir eine massive Verschärfung des Flüchtlings- und Asylrechts. Und das erleben auch jene, die mit ihrem kontinuierlichen solidarischen Einsatz und in ihrer Hilfeleistung gegen Behörden und rechtliche Hürden ankämpfen. Das erschöpft.
Die Vorstellung, Migration sei eine Ausnahmeerscheinung, spielt rechtsextremen Kräften in die Hände. Sie verbreiten dehumanisierende Debatten und befördern eine systematische Enthemmung, um sich von Bildern leidender Menschen unberührt zu halten. Wir erleben eine erschütternde Empathielosigkeit sowie soziale Härte und Kälte in der Gesamtgesellschaft, die sich insbesondere gegen Geflüchtete richtet.
Die restriktive Grenzpolitik und der Hass gegen Migranten, „Invaders“, wie der US-amerikanische Präsident sie nennt, sind ein inzwischen global zu beobachtendes Phänomen, gepaart mit einem Erstarken des Nationalismus. Der Diskurs der extremen Rechten kontrastiert die imaginierte Degradierung Europas mit einer tristen Nostalgie, in der eine tiefe Verbindung zwischen der gegenwärtigen „Migranteninvasion” und der Sehnsucht nach einer vermeintlich friedvollen Vergangenheit hergestellt wird. Eine verkitschte Vergangenheit, die es nie gegeben hat, die aber in sozialen Medien mit Ausschnitten aus alten Filmen heraufbeschworen werden kann. Zugleich sehen wir eine transnationale Zusammenarbeit rechter Kräfte, die sich institutionell, finanziell sowie ideologisch verstärken. Der Aufstieg des Autoritarismus ist die Schwäche demokratischer Kräfte. Letztere verstehen viel zu selten, dass ihre Bevölkerung nicht einfach sesshaft und national einheitlich ist. Paradoxerweise wird so der Zulauf zu rechtsextremen Kräften noch weiter verstärkt.
Das ist unsere gegenwärtige Situation. Wir alle wissen, dass den autoritären Projekten kein utopisches, sondern ein destruktives Moment innewohnt. Migration kann jedoch, wie die Solidaritätsbewegungen gezeigt haben, ein Ausgangspunkt sein, um Demokratisierung zu betreiben und Demokratie neu zu erfinden. Ein stetiges Beharren darauf, Humanität neu zu behaupten, um demokratisierende Horizonte praktisch zu eröffnen.
Manuela Bojadžijev ist Professorin am Institut für Europäische Ethnologie und am Berliner Institut für Migrationsforschung (BIM) der Humboldt-Universität zu Berlin. In 2025 war sie Gast am IWM.
