Shalini Randeria: In der Welt zuhause

IWMPost Article

Am 13. September verabschiedete das IWM in Anwesenheit vieler Freunde und Förderer seine Rektorin, die nach knapp sieben Jahren als Leiterin des Instituts an die Spitze der Central European University wechselte. Evangelos Karagiannis, Chefredakteur der IWMpost und langjähriger Freund, widmet ihr eine persönliche Würdigung.

Shalinis Werdegang ist auf den ersten Blick höchst ungewöhnlich. Für eine in den USA geborene und in Indien aufgewachsene Frau, mit native English und Studien in Neu-Delhi und Oxford war eine Karriere in Mitteleuropa recht unwahrscheinlich. Noch unwahrscheinlicher ist jene Entwicklung, die sie nach jahrelanger Forschung in und über Indien nach Wien geführt hat, wo sie Leiterin eines Instituts wurde, das seine Reputation der Pflege der Begegnung zwischen dem Westen und dem sozialistischen bzw. postsozialistischen Osteuropa verdankt.

Ich kenne Shalini seit langer Zeit. Zum ersten Mal begegnete ich ihr Ende der 1980er Jahre, als sie eine junge Assistentin am Institut für Ethnologie der Freien Universität Berlin war. Nach diesem ersten Zusammentreffen kreuzten sich unsere Wege immer wieder, obwohl wir in unserer Forschung keine Berührungspunkte hatten. Schon früh verstand ich: Shalini ist gleichermaßen omnipräsent wie unumgänglich.

Je mehr sie mir vertraut wurde, desto deutlicher erkannte ich den Schlüssel zu ihrer Entwicklung in ihrer Heimatlosigkeit. Heimatlosigkeit tendiert dazu, das Leben von Menschen in unvorhergesehene Bahnen zu lenken und ungewöhnliche Lebensläufe zu ermöglichen, die heimatgebundenen Menschen versperrt bleiben. Shalini ist in einem grundlegenden und existentiellen Sinne heimatlos. Es gibt für sie keinen Kleinkosmos der Vertrautheit und Geborgenheit, keine Teilwelt, in der sie Wurzeln geschlagen hat und mit der sie sich exklusiv identifiziert. Sie ist weder in einem Land noch in einer Sprache oder in einer wissenschaftlichen Disziplin permanent „beheimatet“. Sie schafft sich ihr Zuhause immer wieder aufs Neue im Bewusstsein, dass die Welt, die wir bewohnen, viel größer ist, als die kleine Ecke, in der wir uns im Moment aufhalten. Shalinis Heimat ist die Welt. Das wiederum bringt mit sich, dass sie eigentlich keine andere Wahl hat, als sich die Fragen, die die Welt aufwirft, anzueignen. Nichts verabscheut Shalini mehr als selbstgefällige und selbstgenügsame Ignoranz. Osteuropa und Indien gehören für sie derselben Welt an. Tief geprägt von dieser Überzeugung kam sie ans IWM.

Die Besonderheit des Profils des Instituts, dessen Leitung Shalini im Jahr 2015 übernahm, geht über einen Osteuropa-Bezug jedoch bei weitem hinaus. Die Sonderstellung des IWM unter den Institutes for Advanced Study ist im Wesentlichen darin begründet, dass es sich in seiner Mission nicht nur der Spitzenforschung, sondern auch der Stärkung und Vertiefung der Demokratie und der wissenschaftlichen Nachwuchsförderung verschrieben hat. Das IWM hat die erste Generation von public intellectuals im postsozialistischen Osteuropa maßgeblich geprägt und verleiht als eines der wenigen Institutes for Advanced Study eine große Zahl von Fellowships an Nachwuchswissenschaftler:innen. Shalini entspricht diesem Profil nahezu perfekt, hat sie doch während ihrer gesamten akademischen Laufbahn Nachwuchsförderung betrieben, eine Synthese von Wissenschaft und Advocacy vertreten und die Bedeutung zivilgesellschaftlichen Engagements für die Stärkung demokratischer Partizipationsrechte untersucht.

Auch aus einem anderen Grund war sie für die Leitungsposition am IWM prädestiniert. Ihre ganz große Stärke lag, bei aller Anerkennung der zweifelsohne bemerkenswerten Leistungen, die sie in ihrer über vierzigjährigen akademischen Karriere in Forschung und Ausbildung erbracht hat, immer im Wissenschaftsmanagement. Unter Managementqualitäten ist hier kein bürokratisches Talent zu verstehen. Shalini ist keine gute Bürokratin, ganz im Gegenteil. Sie liegt beständig im Widerstreit mit Routinen, Konventionen und Ordnungspflege im Allgemeinen. Und trotzdem ist sie eine der wenigen echten Führungspersönlichkeiten, die mir im Wissenschaftsbetrieb je begegnet sind. Was ich damit meine, ist, dass sie, ohne dies jemals beigebracht bekommen zu haben, genau weiß, wie Macht produktiv eingesetzt werden kann. Darin ähnelt sie ihrem Doktorvater, Georg Elwert. Shalini hat Ideen, zahlreiche Ideen, und in aller Regel auch sehr konkrete Vorstellungen darüber, wie sich diese verwirklichen lassen oder genauer gesagt, was ihrer Verwirklichung im Wege steht. Lange Zeit war ich der Auffassung, nur mir würde es schwerfallen, Shalini etwas abzuschlagen, bis ich realisierte, dass es sich dabei um einen sehr gewöhnlichen Umstand handelt. Zweifelsohne vermag Shalini Menschen zu mobilisieren, zu inspirieren, zu fordern und zu fördern, bis sie ihr Potential voll entfaltet haben. Nicht zuletzt spricht für ihr Leitungstalent auch ihre bemerkenswerte Gabe, Ressourcen jedweder Art schöpferisch zu kombinieren, und in diesem Prozess Neues entstehen zu lassen. Ob in Budapest, Zürich, Genf oder Wien, sie hat in ihrer Laufbahn immer wieder Neues in die Wege geleitet und dieses Neue in Strukturen verfestigt.

Shalini identifiziert sich mit der jeweiligen Institution, der sie vorsteht. Diese ist in ihren Gedanken ununterbrochen präsent. In ihrem Fall ist es daher mehr als eine Sprachkonvention zu sagen, dass sie eine Institution verkörpert. Sie hat einen erstaunlichen Überblick über Problemlagen, Personen und Ressourcen und sieht überall Verbesserungsbedarf. Darin macht sich eine grundlegende Haltung bemerkbar: Jeder ist dazu angehalten, den Blick nach „oben“ und niemals nach „unten“ zu richten. Als Maßstab und Vergleichsgröße dienen die Besten. Die Tatsache, dass es vielleicht einige gibt, die schlechter sind als man selbst, übte auf Shalini nie beruhigende Wirkung aus. Aus ebendieser Überzeugung speisen sich ihre hohen Ansprüche, die für ihre Mitarbeiter:innen mitunter herausfordernd sein können, die die Arbeit mit Shalini aber auch lohnend machen. Denn die hohe Qualität des Ertrags ist gewiss.

Shalini hat dem IWM einen kosmopolitischen Schub verliehen, es für neue Themen und Kollaborationen geöffnet und sich unermüdlich und erfolgreich für seine angemessene Ressourcenausstattung eingesetzt. Ihr besonderes Interesse galt der Stärkung der Position des IWM im intellektuellen Leben Wiens, wofür sie Kooperationen mit anderen Kultureinrichtungen der Stadt suchte. Gemeinsam mit dem Wien Museum und dem Diskussionsnetzwerk Time to Talk initiierte sie eines der erfolgreichsten Projekte politischer Bildung der letzten Jahre, das Vienna Humanities Festival, das seit 2016 jährlich Experten aus Wissenschaft, Kunst, Kultur und Zivilgesellschaft zu einem dreitägigen urbanen Salon rund um den Karlsplatz versammelt. Ähnlich hat sie die Zusammenarbeit des IWM mit den Wiener Festwochen angestoßen und pflegte auch eine der etablierten Veranstaltungsreihen, die „Europa im Diskurs“-Debatten am Wiener Burgtheater, mit großem Engagement.

Während ihrer Amtszeit absolvierte sie eine Vielzahl öffentlicher Auftritte und wurde aufgrund ihres Einsatzes und ihrer gewinnenden Art zum gleichermaßen populären wie unverwechselbaren Gesicht des IWM in der Öffentlichkeit. Weniger spektakulär, aber nicht weniger ergiebig waren ihre Bemühungen um eine hochkarätige Nachwuchsförderung. Sie rief neue Formate wie die ERC Mentoring Initiative ins Leben, belebte alte Formate wie die IWM Summer School neu, und führte Stipendienprogramme wie das SEE Graduate Scholarship ein, das insbesondere jungen Sozial- und Humanwissenschaftler:innen aus Südosteuropa zugutekommt.

Shalini ist einzigartig. Allein schon deshalb ist am IWM mit ihrem Abschied eine Ära zu Ende gegangen.


Evangelos Karagiannis ist Research and Publications Coordinator am IWM und Chefredakteur der IWMpost.