Russlands Schwäche

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Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ist auch das Ergebnis einer Legitimationskrise des Systems Putin sowie der fehlenden Handlungsbereitschaft von Moskaus Gegnern. Innere Schwäche ist der entscheidende Treiber für russische Aggressionen, nicht vermeintliche Stärke.

Der Schockmoment für Wladimir Putin liegt bereits einige Jahre zurück, hat aber fundamentale Auswirkungen auf die russische Innen- und Außenpolitik bis heute. Massendemonstrationen in großen russischen Städten gegen die Wiederwahl Putins für eine dritte Amtszeit als Präsident Ende 2011/Anfang 2012 sind ein entscheidender Treiber für die russischen Aggressionen nach innen und außen. Die Demonstrant:innen forderten nicht nur das Ende der Ära Putin, sondern auch politische Beteiligung mit einem echten Parteienwettbewerb bei freien Wahlen. Die Zustimmungsraten für Putin selbst und vor allem der Regierungspartei „Einiges Russland“ gingen weit unter die 50 Prozent-Marke, was für ein personalistisches, autoritäres System problematisch ist. Für Putin war das eine vom Westen, vor allem von den USA, organisierte „Farbenrevolution“. Die russische Führung hatte jedoch bereits seit der Finanzkrise 2008/09 den Gesellschaftsvertrag, der auf dem Tausch ständig wachsender Einkommen gegen politische Inaktivität der Bevölkerung beruhte, nicht mehr erfüllen können. Es wurde immer klarer, dass das System Putin eine neue Legitimationsressource brauchte, und der Konflikt mit dem Westen, allen voran den USA, sollte sie bieten.

Systematisch wurden der Repressions- und Kontrollapparat ausgebaut, die ausländische Finanzierung der organisierten Zivilgesellschaft und unabhängiger Medien gesetzlich immer weiter eingeschränkt. Gleichzeitig investierte die russische Führung in den Desinformations- und Propagandaapparat, erst im Inland und dann zunehmend im Ausland. Der „Westen“ und universelle Normen wurden diskreditiert, während das Regime seine eigene antiliberale, reaktionäre und imperialistisch Ideologie weiterentwickelte. Putin hatte erkannt, dass ein Wertewandel vor allem in jüngeren städtischen Teilen der Gesellschaft gefährlich werden könnte. Vermeintliche traditionelle Werte, Anti-LGBT Propaganda, das Narrativ einer Entfremdung von den eigenen Werten, von moralischem Verfall und der Schutz der russischen Minderheiten weltweit wurden zu zentralen Elementen dieser Ideologie. Die EU und die USA mussten in ihrer Handlungsfähigkeit weiter geschwächt und diskreditiert werden, damit sie für die russische Bevölkerung nicht mehr als Modell dienen konnten. Eine Demokratisierung der Ukraine, eines Schlüsselstaats in Russlands traditionellem Einflussraum, sollte mit allen Mitteln verhindert werden.

Doch erst die Annexion der Krim, gefolgt vom Krieg im Donbass seit 2014, brachte einen Umschwung bei den Zustimmungsraten in der russischen Bevölkerung. Plötzlich konnten die Russ:innen trotz schlechter wirtschaftlicher Perspektiven wieder stolz auf ihr Land sein. Ihr Staat konnte sich einfach ein Stück Land eines anderen Staates mit Gewalt einverleiben, und der Westen war nicht dazu in der Lage bzw. willens, die russische Führung dafür tatsächlich zu sanktionieren. Die Begeisterung hielt jedoch nur bis 2018 an, als angesichts der demographischen und ökonomischen Krise, fehlender Arbeitskräfte und sehr niedrigen Wirtschaftswachstums, die russische Regierung eine Rentenreform beschloss, die das Renteneintrittsalter um fünf Jahre schrittweise anhob, für Frauen auf 60 und für Männer auf 65 Jahre. Es kam erneut zu massiven Demonstrationen, die Bevölkerung hatte das Gefühl, der Staat greife in den privaten Bereich ein, waren doch viele Familien aufgrund des fehlenden Sozialsystems auf die Frühverrentung der Großeltern angewiesen, damit diese sich um die Enkelkinder kümmern. Ferner kritisierten viele, dass sie vor dem Hintergrund der niedrigen Lebenserwartung mit einem höheren Eintrittsalter kaum etwas von der Rente haben würden. Auf diese Reaktionen folgte die nächste Welle von Repressionen gegen die organisierte Zivilgesellschaft.

Dabei hatte die Führung erkannt, dass Krieg als Mittel der Ablenkung und Mobilisierung funktionierte und gleichzeitig weder die USA noch die EU bereit waren, sich auf einen größeren Konflikt mit Russland einzulassen. Im Gegenteil, nachdem US-Präsident Obama trotz des Einsatzes von Giftgas gegen Rebellen 2013 durch das Assad-Regime in Syrien nicht militärisch reagiert hatte, beschloss Russland 2015, in den Konflikt zu intervenieren. In Kooperation mit dem Iran konnte Russland die syrische Führung unter Baschar al-Assad militärisch stabilisieren und somit einen internationalen Prestigeerfolg vorweisen. Während der Westen erneut nicht handlungsfähig war, war Putin bereit, Risiken in Kauf zu nehmen, um zu gewinnen. Die Anerkennung der russischen Forderungen bei den beiden Minsker Abkommen 2014/15 zum Krieg in der Ostukraine, in denen Russland nicht zur Kriegspartei erklärt wurde, sondern gleichberechtigt als „neutraler Akteur“ am Verhandlungstisch saß, zeigten dem Kreml erneut, dass er mit seinen Manipulationen Erfolg hat. Die Europäer kauften weiterhin russisches Gas, und selbst der Krieg im Osten der Ukraine führte zu keinen hohen Sanktionskosten für den russischen Staat.

Während das russische Regime keinerlei Ideen für die Zukunft Russlands hat, wurde es immer besser darin, durch die Anwendung von militärischer Stärke, von inneren Entwicklungsdefiziten abzulenken. Die Ukraine wurde zum zentralen Element einer Machtdemonstration nach außen, und die russische Gesellschaft fand Gefallen an diesen Erfolgen. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine seit Februar 2022 muss deshalb auch als Teil einer nach innen gerichteten Legitimationsstrategie des Systems Putin gesehen werden. Die schnellen Erfolge in der Ukraine seit 2014 und in Syrien seit 2015 haben Putin ermutigt, seinen Krim-Coup mit einem Blitzkrieg viel größeren Ausmaßes zu wiederholen. Mit solch einer Machtdemonstration konnte er nicht nur eine weitere Demokratisierung und schleichende Annäherung der Ukraine an die EU und die NATO verhindern, sondern auch die vermeintliche Überlegenheit des russischen Modells unter Beweis stellen. Es war vor allem die Untätigkeit der USA und der europäischen Staaten angesichts seiner vorherigen Aggressionen, die ihm die Gewissheit verschafften, dass er erneut mit geringen Kosten aus einer Aggression kommen wird.

Dabei hatte Russland bereits nach Putins Wiederwahl 2012 dem Westen einen hybriden Krieg erklärt. Der russische Staat förderte mit Desinformationskampanien Parteien und Akteure, die Gesellschaften in europäischen Ländern und den USA polarisieren und demokratische Institutionen diskreditieren. Das Ziel war, den Gegner handlungs- und entscheidungsunfähig zu machen und dabei die Schwäche des Westens zu demonstrieren. Russische Akteure nutzten Unsicherheiten und Trends in demokratischen Gesellschaften, um Polarisierung weiter zu befördern. Dadurch sollten die eigenen Schwächen im Bereich wirtschaftliche Entwicklung, demographische Krise und schlechter Regierungsführung überdeckt werden. Auch hier handelte Putin aus einer Position der Schwäche heraus, da das Land nicht dazu in der Lage gewesen wäre, die NATO militärisch herauszufordern. Russland stand plötzlich sowohl nach innen als auch nach außen als starker Akteur da, an dem kein westlicher Staat vorbeizukommen schien. Das russische Regime konnte erneut den fehlenden Willen zu handeln und die Selbstzweifel europäischer Eliten unter dem wachsenden Druck von Rechtspopulisten nutzen, um Stärke zu demonstrieren. Russlands Macht speiste sich aus der falschen Kosten-Nutzen Kalkulation seiner Gegner, die der Illusion unterlagen, Nichthandeln und Appeasement führen zu niedrigeren Kosten.

Nachdem die Ukraine als Staat und Gesellschaft einen viel größeren Widerstand leistet, als der Kreml erwartet hatte, und Europa und die USA unter der Führung von US-Präsident Biden massiv Sanktionen gegen Russland verhängt und die Ukraine mit Waffen ausgestattet haben, war es für das russische Regime umso wichtiger, die Handlungsfähigkeit des Westens zu schwächen. Das Schüren von Angst mit einem Nuklearkrieg und einer möglichen Eskalation fand Resonanz in den europäischen Gesellschaften, die sich zu großen Teilen aus Krieg und Konflikten heraushalten möchten. Der Umstand, dass Putin mit US-Präsident Biden und dem deutschen Bundeskanzler Scholz zwei risikoscheue Unterstützer der Ukraine gegenüber hatte, spielte ihm zusätzlich in die Hände. Jetzt ist es Donald Trump, der versucht den Krieg auf Kosten der Ukraine zu beenden, in einer Phase, wo die Unterstützung für den Krieg in Russland weiter zurückgeht, die wirtschaftliche Krise zunehmend in der Gesellschaft ankommt und die menschlichen Kosten für alle immer sichtbarer werden. Russlands Stärke könnte sich erneut aus der Schwäche seiner Gegner speisen.


Stefan Meister ist Leiter des Zentrums für Ordnung und Governance in Osteuropa, Russland und Zentralasien der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. 2025 war er Gast am IWM.