Wie sieht das Geschichtsbild autoritärer Regime aus? Am Beispiel von Belarus geht Timothy Snyder auf grundlegende Fragen der Geschichtsschreibung und ihres Zusammenhangs zur Politik ein.
Im 21. Jahrhundert werden wir Zeugen einer sonderbaren Kombination aus einer erstarrten Vergangenheit und dem Fehlen einer Zukunft, die mit einer Art postmoderner Gleichgültigkeit Fakten gegenüber einhergeht. Autokraten wie Wladimir Putin in Russland oder Alexander Lukaschenko in Belarus folgen stets demselben Schema: Sie suchen sich ein Ereignis in der Vergangenheit aus und behaupten, dies sei der Moment der vollkommenen Unschuld ihres Volkes gewesen; seither sei nichts mehr von Bedeutung geschehen. Mit Bezug auf einen vermeintlich perfekten Ausgangspunkt erheben Diktatoren den Anspruch, für immer an der Macht zu bleiben. Doch die Geschichte entspricht nicht jener erstarrten Vergangenheit, die Autokraten proklamieren. Die Geschichte ist komplex, vielschichtig und hält Überraschungen bereit.
Im Übrigen gilt für die Geschichte das Prinzip der Widerspruchsfreiheit. Es ist nicht zulässig zu behaupten – wie die derzeitige belarussische Staatsideologie es tut –, ein Bündnis eines Landes mit Nazi-Deutschland sei der Beweis dafür, dass sich das Land dem Nationalsozialismus widersetzt habe. Die Geschichtswissenschaft schließt auch Ethik mit ein, und sowohl die ethische Verpflichtung des Historikers zur Objektivität als auch die ethischen Überzeugungen der Menschen in der Vergangenheit sind Teil des Gegenstands.
In der Regel sind es die jüngsten Nationen, die sich am intensivsten mit Dingen beschäftigen, die weit in der Vergangenheit zurückliegen. Russland, das sich nach wie vor im Prozess der Nationswerdung befindet, ist geradezu besessen von Geschehnissen, die sich vor tausend Jahren ereigneten. Doch in der Tat ist die Geschichte einer Nation zum größten Teil nicht national, sondern handelt von Ereignissen vor ihrer Entstehung und hat mit Begegnungen, globalen Strömen, Migrationsbewegungen und überhaupt mit einer Vielschichtigkeit der tiefen Vergangenheit zu tun, die uns kaum bewusst ist. Hinzu kommt die Geschichte der Zentralisierung und des Versuchs der Herstellung von Homogenität. Dies ist die Geschichte der Moderne – der Imperien, des Kapitalismus und der heutigen digitalen kapitalistischen Imperien – und schließt die Art und Weise, wie das Partikulare auf diese Generalisierungsbestrebungen reagiert, mit ein. Das Partikulare, mit dem ich mich hier beschäftige, ist Belarus.
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Auf dem Gebiet von Belarus existierten einst zwei große antike Zivilisationen: die griechischen Welt des 7. bis 3. Jahrhunderts v. Chr. und die Welt der Wikinger des 7. bis 10. Jahrhunderts n. Chr. Beide sind für die Menschheitsgeschichte und für unsere Vorstellungswelt auch in der Gegenwartskultur überaus bedeutend.
Wenn wir an das antike Griechenland denken, stellen wir es uns als ein abgeschlossenes Gebiet vor. Doch das uns bekannte Athen konnte nur aufgrund eines viel größeren politischen und wirtschaftlichen Netzwerks existieren. Wirtschaftlich betrachtet gab es kein Griechenland als solches. Es gab ein viel größeres Gebiet, das Griechenland und Skythien umfasste; eine Handelszone, die sich über das Schwarze Meer bis hin zur nördlichen Schwarzmeerküste erstreckte.

Griechen und Skythen erreichten das Schwarze Meer zur exakt gleichen Zeit: die Griechen auf Schiffen, die Skythen – sie sind Nomaden – zu Pferd. Die Skythen bevölkerten den Raum der Steppe, die heute die Ukraine und den Süden von Belarus bildet. Sie erkannten, dass sie mit den küstennahmen griechischen Städten Handel treiben konnten und dass die Steppe ein Ort war, der bewirtschaftet werden konnte. Es kam zu einer Interaktion zwischen Griechen und Skythen, aber auch zwischen Skythen und einem von Archäologen als Milograd-Kultur bezeichneten, möglicherweise frühbaltisch-slawischen Volk. Auf diese Weise entstand eine große Wirtschaftszone, ohne die es weder Griechenland noch Skythien in der uns bekannten Form gegeben hätte.
Die Globalisierung der Wikinger war in der Tat noch umfangreicher als die griechische. Sie gelangten auf alle Kontinente mit Ausnahme Antarktikas und Südamerikas, und sie erreichten sie alle auf dem Wasserweg. Die für die Wikinger bedeutendste Route war die sogenannte Ostroute. Dem Reichtum der Araber folgend, wanderten sie zunächst nach Osten und anschließend nach Süden. Ab dem 7. und frühen 8. Jahrhundert ziehen sie durch die östliche Ostsee, entweder durch den Finnischen oder durch den Rigaischen Meerbusen, in den die Dwina, die durch das heutige nördliche Belarus fließt, mündet. Auf diesem Weg durchquerten die Wikinger über einen Zeitraum von etwa 500 Jahren hinweg Gebiete, die von Sprechern baltischer, finnischer und slawischer Sprachen bewohnt waren und die wir heute als die baltischen Staaten, Belarus und Russland kennen. Auf diesen wochen- und monatelangen Reisen passieren sie Gebiete, die noch heidnisch waren und in denen heidnische Rituale und Identitäten gepflegt wurden. Diese vielfältigen Begegnungen sind der Grund, warum die nordische Mythologie derart interessant ist. Die nordischen Götter Odin und Thor beispielsweise sind wesentlich komplexer und facettenreicher als ihre deutschen Entsprechungen. Der Reichtum der nordischen Mythologie lässt sich nur verstehen, wenn man sich vor Augen führt, dass die Wikinger jahrhundertelang mit Finnen, Balten, Slawen und anderen Völkern in Kontakt kamen.
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Das Wort Rus bedeutete ursprünglich „östliche Wikinger“. Später bezeichnet der Begriff einen Staat, den einige dieser östlichen Wikinger mit Hauptstadt in Kiew gründeten, danach wird er allmählich zum Namen einer Elite und schließlich zu dem eines Volkes.
Mitte des 10. Jahrhunderts lebte ein Wikingerfürst, dessen Namen wahrscheinlich Svainald war, der aber als Swjatoslaw in Erinnerung blieb. Zu seiner Zeit führten Armeen von Wikingern Feldzüge gegen die Byzantiner sowie gegen die Wolga-Bulgaren und kämpften auf einem Gebiet von etwa 8.000 Kilometern. Nach seinem Tod gelang es seinem Sohn Waldemar (bzw., Wladimir oder Wolodymyr, wie er in der Ukraine heute genannt wird), die Macht an sich zu reißen. An dieser Stelle kehrt die Geschichte in den griechischen Raum zurück. Es war Waldemar, der der Nestorchronik zufolge das westliche Christentum, den Islam und das Judentum ablehnte und das „östliche Christentum“ des byzantinischen Reichs annahm.
Der christliche Monotheismus war auf dem Weg zur Schaffung eines zentralisierten Staates zweckdienlich, bot er doch die Möglichkeit, die Rivalität der heidnischen Kulte des Thor und Odin zu überwinden. Der Moment, in dem Waldemar sein Volk dazu zwang, das Christentum anzunehmen, um sie zu unterwerfen, ist jener Augenblick, von dem Putin behauptet, dass er den Beginn der Staatentriade Russlands, der Ukraine und Belarus markiere. Doch die Taufe Waldemars im Jahr 988 ist kein Moment, in dem etwas Neues entstand, sondern einer, in dem das, was zuvor bestand, auf das Christentum traf und sich von dort an weiterentwickelte.
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Als die Kiewer Rus, die einige hundert Jahre Bestand hatte, 1241 mit der Invasion der Mongolen zusammenbrach, war es das Großfürstentum Litauen, das einige Elemente der Zivilisation der Rus bewahrte. Das Großfürstentum Litauen integrierte den größten Teil der Gebiete der Rus. Die litauischen Herrscher beanspruchen den Titel „König der Rus“ für sich. Einigen der Familien der Rus gelang es, ihren Besitz zu bewahren. Die Hofsprache in Vilnius, der Hauptstadt Litauens, war eine slawische Sprache, und auch die Gesetzbücher wurden in einer slawischen Sprache verfasst. Diese Kontinuität steht im Gegensatz zu den Entwicklungen in Moskau, das für deutlich längere Zeit unter mongolischer Herrschaft stand, und wo im Wesentlichen beliebige Personen aufgrund ihrer Fähigkeit, Tribut einzutreiben, zu Anführern wurden. Ihre Kinder wurden in Sarai erzogen und übernahmen die mongolischen Verwaltungsgewohnheiten. Ein weiterer Unterschied bestand darin, dass sich einige Zeit später im Großfürstentum Litauen – nicht jedoch in Moskau – Juden niederließen, sodass belarussische Städte in weiterer Folge weitgehend jüdisch wurden.
Noch bevor die litauischen Großfürsten über Polen herrschten, unterhielten sie einen Hof, an dem eine slawische Sprache gesprochen wurde, und einige von ihnen waren selbst Slawen. Als sie auch die Herrschaft über Polen übernahmen, sorgten sie dafür, dass die Gebiete des historischen Litauens eine gewisse Sonderstellung genossen. Grund und Boden konnten in Litauen nur von Litauern besessen werden, also von großen, aristokratischen – heute würde man sagen oligarchischen – Familien der Rus. Die litauischen Gesetzbücher, die aus der Rus stammen und in einer slawischen Sprache verfasst worden waren, blieben weiterhin in Kraft.
Einen Wendepunkt stellt das Jahr 1569 und die Gründung der Polnisch-Litauischen Union dar, in der polnisches Recht in der Ukraine, nicht jedoch in Belarus und Litauen angewendet wurde. Damit entsteht eine neue Trennlinie, die den Ausgangspunkt für die Unterscheidung zwischen Belarus und der Ukraine bildet. Dieser Staatenbund, der den größten Teil der Rus beheimatete, sollte bis zum Jahr 1795 und der dritten Teilung Polens Bestand haben.
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Es folgt die Zeit des Imperiums und der Sowjetunion, in der auch Nationalbewegungen aufkamen. Im 19. Jahrhundert entstanden in Polen, Litauen, Belarus und in der Ukraine Nationalbewegungen, die einander im Grunde ähnelten. Sie alle lehnten die russische Herrschaft entschieden ab; sie lehnten auch die Polnisch-Litauische Union ab, die zwar eine Republik war, jedoch von Eliten regiert wurde. Für eine moderne Nationalpolitik war es erforderlich, eine größere Zahl von Menschen zu erreichen und eine Herrschaft der Adeligen konnte nicht länger toleriert werden. Alle vier Nationen – Polen, Litauen, Belarus und die Ukraine – gingen diesen Weg. Sie suchten nach einem Zeitpunkt in der Vergangenheit, in der die Menschen, die dieselbe Sprache sprachen, vereint waren. Historisch gesehen ist das sehr problematisch, und auch politisch kann dies problematische Implikationen haben. Die belarussischen Nationalaktivisten des 19. Jahrhunderts folgten diesem Muster ebenso, wenn auch in abgemilderter Form. Sie waren sich, genauso wie belarussische Aktivisten heute, im Allgemeinen dessen bewusst, dass jede denkbare Zukunft auch Litauer, Polen und Juden miteinschließen muss.
Die belarussische Nationalbewegung hatte gegenüber der litauischen, polnischen und sogar der ukrainischen jedoch einige objektive Nachteile. Ukrainer, Polen und Litauer waren zwischen verschiedenen Imperien aufgeteilt. Eines dieser Imperien war zu jedem gegebenen Zeitpunkt weniger repressiv als die anderen, woraus sich Handlungsmöglichkeiten ergaben. Das gesamte heutige Belarus hingegen gehörte zum russischen Imperium und war somit einer einzigen Macht unterworfen. Die Lektion des 19. Jahrhunderts ist: Es ist besser, geteilt als von einem mächtigen Staat absorbiert zu werden.
In den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts war Belarus zwar geteilt – der westliche Teil gehört zu Polen, der zentrale und östliche Teil zur Sowjetunion –, aber Polen verfolgte der belarussischen Kultur gegenüber eine deutlich konsequentere Unterdrückungspolitik als beispielsweise gegenüber der ukrainischen. Hinzu kommt, dass viele Nationalbewegungen – die tschechische mit Prag, die ungarische mit Budapest oder die polnische mit Warschau – ihre aus ihrer Sicht größte und wichtigste Stadt in ihr Territorium einbeziehen konnten, während Belarus Vilnius an Polen und später an Litauen verlor.
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Im Zweiten Weltkrieg war Belarus zweifellos das Zentrum des Grauens. Und doch ist dies nicht vielen bewusst. An dieser Stelle möchte ich eine Hypothese formulieren. Oftmals gilt: Je weniger wir über etwas wissen, desto wichtiger ist es. Wir erfahren von Ereignissen aus der Vergangenheit nicht aufgrund ihrer Bedeutung, sondern aufgrund der organisatorischen Fähigkeit nachfolgender Generationen, sie zu vermitteln.
Das Grauen begann nach einer Zeit des Terrors, den Jahren 1937 und 1938, als die Blüte der belarussischen Intelligenz ermordet wurde. Im Jahr 1939 verbündete sich die Sowjetunion mit Nazi-Deutschland, wodurch die deutsche Streitmacht bis an die Grenze des sowjetischen Belarus vorrücken konnte. Als die deutsche Invasion begann, konnte sie direkt durch Belarus, die Hauptinvasionsroute, rollen.
Belarus ist das Zentrum von Verbrechen, von denen wir wissen, und Verbrechen, von denen wir nichts ahnen. Es ist das Zentrum des Holocausts, der mittels Schusswaffengebrauchs verübt wurde, und das Zentrum des Aushungerns sowjetischer Kriegsgefangener. Die sogenannten Anti-Partisanen-Operationen Deutschlands konzentrierten sich ebenfalls auf Belarus und führten zur Zerstörung unzähliger Dörfer. Der Zweite Weltkrieg hatte für viele Nationen die schreckliche Konsequenz, dass Minderheiten ausgelöscht wurden, im Falle von Belarus waren dies vor allem die Juden. Für viele Nationen hatte er die schreckliche Folge, dass überproportional viele gebildete Menschen ermordet wurden. Das gilt auch für Belarus. Für einige Nationen hatte er die grauenhafte Folge, dass ein sehr großer Teil der Gesamtbevölkerung getötet wurde. In Belarus war dieser Anteil größer als in jedem andren Land.
Die Ironie dabei ist, dass das derzeitige Regime uns dazu auffordert, uns an den Molotow-Ribbentrop-Pakt und den Beginn des Zweiten Weltkriegs als etwas Positives zu erinnern. Der 17. September ist ein offizieller nationaler Gedenktag. Zwar wurden an diesem Tag Gebiete, die heute zu Belarus gehören, ebenso wie die Westukraine, formal in die Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik eingegliedert, aber es ist auch jener Tag, an dem das militärische Bündnis zwischen der Sowjetunion und Nazi-Deutschland zustande kam, und an dem die Sowjetunion als Verbündete Nazi-Deutschlands in Ostpolen einmarschierte. Dies ist ein zentrales Ereignis des 20. Jahrhunderts. Es ist nur sehr schwer vorstellbar, dass der Zweite Weltkrieg ohne dieses Bündnis in jener Form hätte stattfinden können, in der er sich tatsächlich ereignete.
Dieses Bündnis war eine Katastrophe. Es schuf eine Situation, in der die deutsche Armee bereits in den ersten Tagen des Krieges bis tief ins Landesinnere vordringen konnte, und in der Stalin fälschlicherweise verkannte, dass die Invasion durch Nazi-Deutschland unmittelbar bevorstand. Mit anderen Worten: Der Tag, der heute vom Lukaschenko-Regime als Tag der Volkseinheit von Belarus gefeiert wird, ist wahrscheinlich das Schlimmste, was der belarussischen Nation, aber auch den anderen Völkern, die in Belarus lebten, passieren konnte.
Der Holocaust beginnt in der Molotow-Ribbentrop-Zone. Dies ist eine Ironie der heutigen belarussischen Erinnerungspolitik, die dem Völkermord am belarussischen Volk gedenkt, gerade um nicht an den Massenmord an den Juden zu erinnern. Diese Ironie verweist auf den postmodernen Nihilismus des 21. Jahrhunderts: Diejenigen, die sich wie Nazis verhalten, sind diejenigen, die die Gegenseite als Nazis verunglimpfen. Einer Allianz mit Nazi-Deutschland feierlich zu gedenken und gleichzeitig für sich in Anspruch zu nehmen, dies zu tun, weil man den Nazismus ablehnt, mündet letztlich in einer Verharmlosung Nazi-Deutschlands und in einem eklatanten Widerspruch im Zentrum dessen, was eigentlich das nationale Gedächtnis des Landes darstellen sollte.
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Im Falle Russlands ist der vom Autokraten gewählte Moment nicht 1939, sondern 988 und die Taufe Waldemars. Waldemar war ein Wikinger, der mordete, vergewaltigte und Sklavenhandel trieb, und nicht der liebenswürdige Charakter, als der er oft dargestellt wird. Die Vorstellung, dass Russland, Belarus und die Ukraine im Jahr 988 zu einer ewig unveränderlichen nationalen Union zusammengeschlossen worden wären, ist falsch. Nicht nur deshalb, weil es sich im Wesentlichen um eine skandinavische Geschichte handelt, sondern auch, weil so ziemlich alles in der Nestorchronik aus einer anderen skandinavischen Sage plagiiert wurde. Die gesamte Nestorchronik, die die Grundlage für den Putinismus und den russischen Imperialismus bildet, ist ein Patchwork aus skandinavischen Texten, das zufällig in kirchenslawischer Sprache verfasst wurde. Aber diese Behauptung ist auch deshalb unrichtig, weil es 988 noch keine Nationen gab, die für immer hätten vereint werden können. Und sie ist grundlegend falsch, weil es in der Geschichte keine Momente – Taufen, Kriege oder andere Ereignisse – gibt, wo alles von Neuem beginnt; wo Menschen unschuldig waren, und es von diesem Zeitpunkt an für alle Zeit bleiben.
Historisch betrachtet ist es zutreffender zu sagen, dass es erst seit ein paar hundert Jahren Nationen gibt. Sie entstanden in Kontakt mit der Vergangenheit und in Kontakt miteinander. Belarus und die nationale Geschichte des Landes sind geprägt von slawischen, aber auch baltischen, finnischen und später jüdischen sowie in gewissem Maße auch von mongolischen, tatarischen und anderen Einflüssen. So ist die Geschichte nun einmal: Es gibt keine singuläre Quelle der Geschichte einer Nation.
Damit komme ich zum Dilemma des nationalen Wiederaufbaus. Konfrontiert mit Imperialismus und einer imperialen Erzählung, die ein mächtiges Volk immer als unschuldig und daher in der Gegenwart und für alle Zukunft als unfehlbar stilisiert, könnte ein Volk versucht sein, diese Erzählung zu reproduzieren, wenngleich in kleinerem Maßstab. Doch das würde bedeuten, die eigene Geschichte zu leugnen. Es würde bedeuten, den Imperialismus obsiegen zu lassen unter dem Deckmantel, ihn herauszufordern.
Obwohl die nationale Geschichte von Belarus die nationale Geschichte der Belarussen ist, ist sie auch die Geschichte all dessen, was in den Jahrhunderten und Jahrtausenden vor ihrer Existenz geschah. Sie ist auch die Geschichte sämtlicher Begegnungen, die es in der Neuzeit zwischen Belarussen und anderen Völkern gab. Und diese Erkenntnis ist bedeutsam, weil die postmodernen Tyranneien in Russland und Belarus die Komplexität, die Unschärfe und die Vielschichtigkeit der Vergangenheit leugnen, um eine Zukunft zu verunmöglichen, die ebenso komplex und vielschichtig ist und die Begegnungen zulässt – und damit die einzige Form der Zukunft, die demokratisch sein kann.
Der vorliegende Aufsatz ist eine gekürzte Fassung eines Vortrags, den der Autor am 27. Juni 2025 im Wien Museum gehalten hat.
Timothy Snyder ist Professor für Geschichte an der Munk School of Global Affairs & Public Policy, Toronto, und Permanent Fellow am IWM.
