For The Atlantic, Nataliya Gumenyuk argues that Ukrainian society’s response to the Russian invasion reveals a deep commitment to the daily practice of democracy. As she has traveled around the country across the past five months, she has found that
“Ordinary people have been confronted with autocracy and opted against it. They have not simply taken up arms, but made demands of their leaders. Officials have addressed citizens’ needs and requests with creative and responsive government. Activists I spoke with would complain about their elected representatives but still worked with them, reaching compromises and finding solutions. With the central government in Kyiv often overloaded and under-resourced, local administrators, mayors, and governors have had to band together and devise their own solutions.
Over time, I saw that the war hadn’t just forced us to defend our land and our freedom; it has accelerated our progress as a democracy. Ukraine was far from perfect when the war began—we struggled with corruption, mismanagement, and centralization of power. In responding to Putin’s invasion, however, we have become more democratic, more decentralized, more liberal.“
Gumenyuk discusses the importance of this civic engagement and the ways in which the war has pushed Ukrainians to strengthen democracy in their country with Volodymyr Yermolenko on UkraineWorld’s Explaining Ukraine podcast.
For the Jewish Review of Books, Marci Shore writes of Jewish Ukrainians’ engagement in this communal project to defend and strengthen Ukraine as a state and society. “living refutations of Putin’s shameless claim that the Kremlin’s ‘special operation’ is necessary to ‘denazify’ Ukraine. They join the Russian-speaking Soviet-educated grandmothers in eastern Ukraine coming out in front of the Russian troops to shout ‘Go home! No one wants you here!’”
Closely related to Gumenyuk’s argument about Ukrainian democracy, Timothy Snyder argues on Substack that there is a tight link between self-rule and survival: the former can be seen as a precondition for the latter. Pointing to the ways in which Ukrainians should serve as an example for all of us committed to democratic values, Snyder underscores the global significance of Ukrainian resistance to Russian aggression.
It is this global dimension that Olga Shparaga takes up in the essay below, an original contribution to the Ukraine in Focus blog. Reflecting on the selective application of the concept of human rights, Shparaga criticizes those who advocate an end to the war on the grounds that it destabilizes the global order, without engaging in efforts to deconstruct the hierarchies and power asymmetries that the current order – including Russia’s war against Ukraine – is based on. “Without this sort of full solidarity, concern for the global order is nothing but self-deception and a lie that legitimizes the right of the more powerful.” Understanding Ukrainian society, including its deepening commitment to democracy, can help envision a more just global order.
Globale Asymmetrien und der Krieg in der Ukraine: Es geht um die Verteidigung der Menschenrechte
Olga Shparaga, IWM
Ende Juni erschien in der Wochenzeitung Die Zeit der neue, zweite Aufruf von deutschen Intellektuellen mit der Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand in der Ukraine. Begründet wird die Forderung hauptsächlich damit, dass den Unterzeichneten ein Sieg der Ukraine unrealistisch erscheint, die westlichen Waffenlieferungen somit das Unvermeidliche nur hinauszögern und nichts anderes bewirken als eine weitere militärische Eskalation. Die Folgen des Krieges werden vor allem im internationalen Maßstab gesehen und vor diesem Hintergrund mit Warnungen vor einer Hungerkatastrophe in Afrika sowie anderen Formen „einer Destabilisierung der globalen Lage“ verbunden.
Es ist zweifellos wichtig, solch eine Sorge um die globale Situation und das Wohlergehen der Menschen weltweit zu manifestieren. Für mich persönlich sollte sich dort aber auch ein erneuertes Bekunden für die Wertschätzung der Menschenrechte artikulieren, deren allgemeine Konzeption seit 1948 in Folge von Holocaust und Zweitem Weltkrieg existiert. Diese Konzeption der Menschenrechte fordert, von der Perspektive jedes einzelnen Menschen auszugehen sowie die zwischen verschiedenen sozialen Gruppen und Staaten existierenden Hierarchien und Machtasymmetrien in Frage zu stellen und für Konflikte Lösungen zu finden, die ohne Gewalt auskommen. Meine Sozialisation und mein ganzes Leben in Belarus wurden geprägt von der gesellschaftlichen Überzeugung, dass es diese Konzeption der allgemeinen Menschenrechte war, die seit 1948 für die Überwindung der Gewalt und für eine Epoche des Friedens in Europa seit 1948 maßgeblich war.
Der gegenwärtige russische Krieg in der Ukraine (besser gesagt: die im Februar 2022 einsetzende neue Phase und weitere Eskalation eines viel längeren Krieges) führt uns einmal mehr vor Augen, wie trügerisch dieser Glaube an die Verbindlichkeit der Menschenrechtskonvention war. In Europa selbst hätte uns das schon mit dem Krieg im ehemaligem Jugoslawien 1991– 2001 oder aber mit der kriegerischen Einmarsch Russlands in die Ukraine im Jahr 2014 bewusst sein können, aber mehr als das: Dieser Glaube war eigentlich immer falsch, weil auch die unzähligen Kriege in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich außerhalb Europas ereignet haben, aus der Perspektive der Menschenrechte ebenso mit Europa zu tun haben. Dies geht schon aus der Grundannahme einer Idee der allgemeinen, d.h. für die ganze Welt geltenden Konzeption der Menschrechte hervor (die UN vereint 193 Mitgliedsländer) und hat sich weiter verstärkt durch die Prozesse der Globalisierung, durch welche die Länder weltweit auf verschiedene Weise und leider nicht immer im Interesse der Demokratie verbunden sind.
Das aber bedeutet nichts anderes, als dass die Konzeption der Menschenrechte und die Kriege, die sie überwinden sollte, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr wohl miteinander koexistiert haben. Und es bedeutet ebenso, dass der Pazifismus zu seiner Realisierung offenkundig noch immer nicht alle Voraussetzungen hat. In der momentanen Situation eines brutalen und unmenschlichen Angriffs Russlands auf die Ukraine weiter auf den Pazifismus zu setzen, heißt daher nichts anderes, als sich außerhalb der Kriegssituation zu positionieren und durch diese Indifferenz letztlich die Seite des Aggressors zu begünstigen. Anders gesagt: man fordert, die friedliche Verteidigung der Menschenrechte und eine Stabilisierung der globalen Lage ohne den Einsatz von Waffen zu gewährleisten, dies aber in einer Ausgangssituation, in der gerade die Konzeption der Menschenrechte und eine darauf gründende globale Ordnung als solche nicht mehr anerkannt wird und somit das Töten und Misshandeln zum Initialmoment des Handelns wird.
Dies führt uns ein Paradox der Menschenrechte vor Augen, das Hannah Arendt in ihrem Buch über den Totalitarismus formuliert hat. Die Menschenrechte versagen genau in dem Moment, wo sie am nötigsten wären, und zwar dann, wenn die Menschen nur als Menschen gelten, nicht mehr als Bürgerinnen oder Bürger eines bestimmten Staates, der in einer kritischen Situation nicht willens oder nicht im Stande ist, ihre Menschenrechte zu verteidigen. Oder wenn, wie wir es im aktuellen Krieg in der Ukraine sehen, ein Staat nicht genug Kräfte für diese Gewährleistung hat und um internationale Hilfe bittet. Eben diese internationale Hilfe und d.h. auch die Lieferung von Waffen soll es den für die Ukraine kämpfenden Menschen erlauben, ihre Menschenrechte verwirklichen zu können und sich so wie andere im Besitz dieser Rechte zu fühlen, und das heißt: sie dürfen nicht allein gelassen werden, sondern müssen mit anderen Menschen weltweit und über die Grenzen nationaler Staaten hinweg verbunden sein.
Eigentlich bittet die Ukraine schon seit 2014 um diese Hilfe. Wären die Stimmen der Ukrainer:innen schon damals ernst genommen worden und wäre die russische Aggression schon damals auf solch solidarische Weise beantwortet worden, so hätten wir die schlimme Eskalation des Krieges im Jahr 2022 wahrscheinlich gar nicht erlebt. Auch hätte man schon damals versuchen müssen, diese Aggression durch friedliche Methoden zu verhindern, z.B. durch Wirtschaftssanktionen, was aber wegen der bestehenden asymmetrischen Machtverhältnisse unterblieb.
Globale Solidarisierung ohne Hierarchien
Im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts haben wir es also mit einer Situation zu tun, in der zwar viel von den Menschenrechten die Rede ist, deren Durchsetzung aber anscheinend grundsätzlich in Frage gestellt ist. Ich beziehe mich mit diesem Befund auch auf die Situation in Belarus, wo seit dem Jahr 2020 offensichtliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden, ohne dass eine adäquate Reaktion der demokratischen Welt stattgefunden hätte oder stattfindet. [1] In einem Vortrag habe ich im Blick auf den aktuellen Krieg das Paradox der Menschenrechte mit einer Reihe von Asymmetrien der Macht verknüpft, nämlich zwischen Autoritarismus und Demokratie, zwischen Imperien und nationalen Staaten im politischen Sinn, zwischen Patriarchat und Emanzipation sowie mit weiteren kultursymbolischen und diskursiven Asymmetrien, wie z.B. zwischen der „großen russischen Kultur“ und den mit dieser historisch und nicht unbedingt aus freiem Willen verflochtenen Kulturen. Die direkten Auswirkungen solcher Machtasymmetrien sind die vielen menschlichen (und weiteren) Opfer, die wir beklagen, wie auch eine allgemeine soziale und politische Regression. Ein Beispiel liefert die Verstärkung der nationalistischen Diskurse, die zu einer Schwächung der Solidarisierungen und der Bildung von Allianzen über nationale Grenzen hinweg führt (oder sogar zu einer Bildung von Allianzen gegen die Menschenrechte, wie es sich mit der Positionierung der Türkei andeutet).
Ganz besonders in Frage gestellt wurde auch die feministische Solidarisierung, und das in mehrerlei Hinsicht. In Deutschland verteidigt Alice Schwarzer die Opferung der Ukraine angesichts des Risikos eines III. Weltkrieges, als ob in einer global vernetzten Welt nicht jeder Krieg von Beginn an mehr oder weniger ein Weltkrieg wäre. In der Ukraine verneint eine Reihe von Feministinnen die Solidarisierung mit den belarussischen Feministinnen, obwohl diese das Lukaschenko-Regime nicht unterstützen oder es sogar unter großen Gefahren bekämpfen. Solche Konstellationen zeigen die Schwachstellen und Defizite sowohl der globalen Weltordnung, die noch immer stark nationalistisch geprägt ist, als auch der ganz persönlichen Empathie und Fürsorge, die das eigene Leiden und Mitleiden zum unbestrittenen Muster des Handelns auch für andere macht und keine anderen Formen des Antwortens auf die Asymmetrien zulassen möchte.
Meine Bitte an die Intellektuellen, die den eingangs erwähnten Brief verfassten: Wie wäre es, die aktuell umso sichtbarer werdenden Widersprüche, Hierarchien und Asymmetrien der Macht in ihrer ganzen Breite einzugestehen und sich eine Welt ohne sie vorstellen? Das würde bedeuten, unbedingt von einem Sieg der Ukraine auszugehen, denn genau das heißt, eine gleichberechtigte Position gegenüber allen Ukrainer:innen einzunehmen, und auch die eigene Position aus postkolonialer Perspektive kritisch zu befragen. Das erfordert auch, wie mir scheint, sich schon jetzt – und nicht erst nach dem Krieg – für Forschungen und Diskussionen über eine neue globale und demokratische Ordnung zu engagieren. Ohne eine solche vollumfängliche Solidarisierung bleibt die Sorge um die globale Lage eine Selbsttäuschung und Lüge, die das Recht des Stärkeren legitimiert. Wer das nicht eingesteht, begnügt sich mit dem Paradox der Menschenrechte, dass diese nur für privilegierte soziale Gruppen und Staaten gelten.
Endnotes:
[1] Mein letzten Text „Der Fall Belarus Die Sorge umeinander und die Zukunft der Demokratie“ Forum № 425, Mai 2022, S. 11ff, https://www.forum.lu/article/der-fall-belarus/?fbclid=IwAR0Q2YKU7db53eYlfagGzDroqD2S1NSrC5aJdOhhmlMjpP4esTsx5i1gTbQ über die Situation in Belarus nach dem 24. Februar 2022.