Solidarität – Ein Netzwerk von Zugehörigkeiten

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Krzysztof Michalski:  Unser Thema ist „internationale Solidarität“. Es geht um die Institutionen, die Mechanismen, die Solidarität fördern oder behindern. Wenn man mit der allgemeinen Frage anfängt, wie Institutionen es möglich oder mindestens leichter machen, dass Menschen sich helfen, dann gerät man sofort in zwei Spannungsfelder. Das eine ist, dass man Solidarität als Anschluss an eine Gemeinschaft versteht. Solidarität fördern heißt, Ausschlussmechanismen beseitigen – aber eben nicht alle. Sonst würde Solidarität inhaltsleer und der Begriff von „Wir“ wäre ganz entleert. Es gibt offensichtlich Formen des Zusammenhalts, mit denen Menschen einander helfen können, aber das umfasst eben nicht alle Menschen. Solidarität hebt Ausschlussmechanismen auf, aber sie macht unter Umständen dafür andere Ausschlussmechanismen stärker, Nationalität zum Beispiel. Wir sind nicht nur Menschen sondern auch Polen, wenn ich das so sagen darf. Und dann wäre da das zweite Spannungsfeld: zwischen Solidarität und individueller Freiheit.

Ralf Dahrendorf:  Ja, die Spannung zwischen Solidarität und Freiheit ist zweifellos ein großes Dilemma der entwickelten, modernen, demokratischen Gesellschaften. Oder, um das große Wort Freiheit nicht zu sehr zu strapazieren, zwischen Solidarität und Wahlmöglichkeiten, „choice“. Wahlmöglichkeiten sind in der Politik der entwickelten Länder ein Kernthema, fast alle interessanten Kandidaten versprechen „more choice“. Aber „more choice“ heißt mehr Wahlmöglichkeiten für die Einzelnen, und solche Wahlmöglichkeiten fördern den Zusammenhalt zunächst einmal nicht. Sie bedeuten, dass ein Maß an Individualisierung einsetzt, das für jemanden wie mich, für einen Liberalen, an sich wünschenswert ist, das aber an einem bestimmten Punkt sozusagen die Wahlmöglichkeiten selber entwertet, weil so etwas einsetzt wie Anomie, die Abwesenheit von gemeinsamen Regeln, die Abwesenheit von verlässlichen Beziehungen, die Abwesenheit von dem, was Sie „Solidarität“ nennen. Das scheint mir eines der ganz großen Themen zu sein, und es ist interessant, dass die beiden Gesellschaften, die es eigentlich lange Zeit besonders gut geschafft haben, Freiheit und Zusammenhalt zu verbinden, nämlich die Britische und die Amerikanische, heute beide unter diesem Dilemma leiden.

KM:  Glauben Sie tatsächlich, dass die Amerikanische Gesellschaft das bis jetzt so gut gemeistert hat?

RD:  Ja, das glaube ich. Jedenfalls war es lange Zeit eines der Merkmale der Amerikanischen Gesellschaft.

KM:  Aber die Kosten waren doch der Ausschluss großer Teile der Bevölkerung. Ich meine damit nicht nur das Sklaventum, sondern auch, zum Beispiel, dass in der amerikanischen Gesellschaft die Armen, bis zu 30 Prozent der Bevölkerung, nicht nur arm bleiben sondern auch keinen Anschluss an die politische Willensbildung haben.

RD:  Ich denke „social exclusion” in Amerika ist ein eigenes Thema. Man müsste dann darüber reden, was tatsächlich geschieht, wenn ein armer Mensch in Amerika krank wird ohne einen allgemeinen Gesundheitsdienst oder ähnliche Einrichtungen. Dann würde man dann feststellen, dass schon Tocqueville die Stärke der amerikanischen Bürgergesellschaft gesehen hat, auch wenn es richtig bleibt, dass sie nicht alle eingeschlossen hat, aber das gilt anderswo nicht anders.

KM:  Sie meinen, Institutionen, wie zum Beispiel die staatlich geförderte Krankenversicherung, haben die Nachbarschaftshilfe oder ähnliches ersetzt. In einer gut funktionierenden Bürgergesellschaft sind solche Institutionen nicht unbedingt notwendig, sie sind sozusagen ein Symptom dessen, dass Solidarität auf andere Weise nicht mehr funktioniert. Allerdings: Wäre das nicht auch ein verklärtes Bild der Vergangenheit? Familie, Dorfgemeinschaft sind nicht gerade immer das Modell wunderbar funktionierender zwischenmenschlicher Beziehungen. Auch dort waren Teile der Gemeinschaft in Wirklichkeit ausgeschlossen, wenn nicht gar ausgebeutet, oder?

RD:  Ja, darum hab ich die britische und die amerikanische Gesellschaft, also die am stärksten modernisierten Gesellschaften genannt und nicht irgendwelche Alpenstaaten, in denen Familie und Dorf und Kirche und andere Traditionseinrichtungen im Vordergrund standen. Die britische und die amerikanische Gesellschaft haben in der modernen Welt Institutionen geschaffen, die Solidarität symbolisieren. In England ist das zum Beispiel der nationale Gesundheitsdienst. Die Leute hängen an dieser Erfindung der Kriegs- und Nachkriegszeit, wie sie an sonst kaum etwas hängen, und zwar nicht nur wegen des praktischen Nutzens. Denn es ist den Briten auch klar, dass die Gesundheitsversorgung in anderen europäischen Ländern mindestens genauso gut ist. Es ist eine verbindende Einrichtung einer modernen Gesellschaft, die Wert auf Solidarität und auf „choice“ legt. Und jetzt führt man diese Diskussion, ob es den Solidaritätseffekt des nationalen Gesundheitssystems zerstört, wenn man den Menschen mehr Auswahlmöglichkeiten gibt, Krankenhäuser, Ärzte und so weiter. In anderen Ländern gibt es andere Einrichtungen, für die ähnliches gilt, die Rentenversicherung und überhaupt die Institution der Rente ist eine der ältesten. Es ist sehr interessant sich einmal die Einrichtungen herauszusuchen, die in unterschiedlichen Gesellschaften Solidarität stiften.

KM:  Ich sehe nicht nur den praktischen Nutzen, sondern auch den symbolischen.

RD:  Über den praktischen Nutzen hinaus, richtig.

KM:  Als interessierter Beobachter sehe ich das vor allem in zwei der drei Gesellschaften, in denen ich lebe, nämlich in der amerikanischen und der polnischen. Wenn Institutionen, die Solidarität befördern, in eine Krise geraten, dann mobilisiert man die Gemeinschaft durch andere Mittel, wie zum Beispiel die angebliche nationale oder religiöse Gemeinschaft. Menschen in Amerika, von denen viele sehr arm sind und deren Kinder kaum Chancen auf höhere Bildung haben, laufen in die Nationalfahne eingewickelt umher, als ob Nation und Gott ihnen helfen würden. Gott und Nation definieren für sie das Gemeinsame mit den Anderen.

RD:  Für mich ist das insoweit ein schwieriges Thema, als für mich die Freiheit der erste und oberste Wert ist. Und ich bin bereit, wenn es sein muss, eine Menge Solidarität zu opfern, um Freiheit zu gewinnen. Ich teile daher die Meinung von Amartya Sen, der sagt, dass es zerstörerisch auf offene Gesellschaften wirkt, wenn bestimmte Identitätsaspekte verabsolutiert werden, also eine besonders ausschlaggebende Bedeutung bekommen. Das ist etwas, was wir im Augenblick erleben und das ist übrigens einer der Punkte, an dem die freien Gesellschaften das Spiel der unfreien mitspielen, indem sie diese Art von Identifizierung akzeptieren. Ich glaube, dass die religiöse Identität auch in den westlichen Gesellschaften eine ganz unangemessene Bedeutung gewonnen hat, zum Beispiel wenn, wie im Augenblick, der Streit darum geht, ob Moscheen größer sein dürfen als Kathedralen.

KM:  In Kärnten.

RD:  In Köln auch. Da wird dann eine bestimmte Zugehörigkeit zu einem Schlachtruf und zu einem Abgrenzungsmerkmal. Wenn ich an Solidarität denke, denke ich eigentlich an viele sich überschneidende Kreise der Zugehörigkeit. Es ist nicht ein Kreis, sondern viele. Manche Menschen gehören zu fünf Kreisen und manche zu dreien, manche zu fünfzig und manche zu dreißig, die aber alle miteinander ein Netzwerk ergeben und die nicht von einer einzigen Zugehörigkeit dominiert sind. In dem Augenblick, in dem bestimmte Zugehörigkeiten die Solidarität prägen, wird wegen der damit gegebenen Abgrenzung und Feindseligkeit das Nationale zum Nationalismus.

KM:  Ich bin vollkommen Ihrer Meinung. Ich glaube nur, dass es in Köln und in Kärnten, also in Österreich, nicht so gefährlich ist. Dass es extreme Meinungen gibt, ist ja in Ordnung, es geht eher darum, welche gesellschaftliche Relevanz sie haben. Und ich glaube, in einer Gesellschaft, in der es an Institutionen fehlt, die Solidarität fördern, gibt es mehr Raum für diese „dominierenden Zugehörigkeiten“ und für andere Mobilisierungskräfte?

RD:  Das ist wahr, ja.

KM:  In meinem Land, Polen, fehlen nach der Revolution und nach dem Krieg und Kommunismus diese Institutionen oder sind, wenn sie da sind, noch nicht wirklich eingewurzelt. Das hat zur Folge, dass Leute, die eigentlich in Österreich oder in Nordrhein-Westfalen marginale Bedeutung hätten, plötzlich ins Zentrum des politischen und gesellschaftlichen Geschehens geraten. Und das wird dann gefährlich. Sonst sollen sie meinetwegen Unsinn erzählen, das ist ja nicht wichtig.

RD:  Der Fall Polens ist eine interessante Geschichte. Für den Außenstehenden sieht es so aus, als ob es in der kommunistischen Ära sozusagen zwei große Solidaritäten gab, das eine war die Partei und das andere die Kirche. Und es ist interessant, dass mit der Demokratisierung nicht nur das eine sondern auch das andere seine solidarisierende Kraft verloren hat. Aber noch hat die Kirche eine bedeutende Rolle in Polen, würde ich sagen.

KM:  Das ist ein weites Feld, und in der Tat ist es der Kirche unter dem Kommunismus weitgehend gelungen, die Solidarität der Polen als Polen auszudrücken. Aber das war halt eine Krankheitserscheinung. Die Kirche hat diese Funktion heute verloren, weil wir eine offenere Gesellschaft geworden sind. Doch obwohl die Bürgergesellschaft in Polen bereits stärker ist, als man es erwarten könnte, liegen wir noch immer auf dem Krankenbett, und verschiedene Zufälle, ein Virus wie die jetzige regierenden Partei, haben auf uns größere negative Wirkung als sie es auf eine gesunde Gesellschaft, wie zum Beispiel die Österreichische, haben würden.

Wenn wir über Institutionen sprechen, die Solidarität fördern, ist auch ein anderes Phänomen interessant: Solidarität zu fördern setzt die Fähigkeit voraus, Menschen in Not zu identifizieren. Nun nimmt diese Fähigkeit offensichtlich ab. Institutionen, die diese Aufgabe haben, erfassen heute immer weniger Menschen in Kategorien wie „arm“ oder „krank“. Andererseits wächst die Kontrolle staatlicher Institutionen über das Individuum – sie wissen heute mehr über Sie, Ralf Dahrendorf, oder über mich, Krzysztof Michalski, als je zuvor. Das heißt also, die Kontrolle über das Individuum wächst, was die individuelle Freiheit gefährdet; und gleichzeitig wächst die Wahrscheinlichkeit, in der Not alleine gelassen zu werden.

RD:  Ja, das ist richtig. Ich möchte aber noch einmal betonen, dass es bei Solidarität in Gesellschaften nicht notwendig um so etwas wie das nationale Gesundheitssystem oder die polnische Kirche geht; es geht vielmehr um eine Vielzahl von bürgergesellschaftlichen Einrichtungen, Vereine und Verbände und Einrichtungen anderer Art, die miteinander vernetzt sind. Es kommt also nicht darauf an, dass man der einen solidaritätsstiftenden Einrichtung angehört. In der Tat ist die Tendenz zu solcher Vereinheitlichung eher ein Unglück. Wenn das Rote Kreuz ein Monopol hat, dann gibt es eben viele andere kleine Einrichtungen nicht mehr, wo Menschen einander helfen. Und was sehr auffällt ist, dass die vielen Einrichtungen der Bürgergesellschaft heute in abnehmendem Maße in der Lage sind, Menschen zu rekrutieren. Das heißt also, diese kleinen Einrichtungen werden schlapper. Gleichzeitig werden die abstrakten Beziehungen, also zum Beispiel die Beziehungen über das Internet, stärker. Da kann man alles nachlesen über die Anderen oder man kann diese merkwürdigen Chats und Blogs veranstalten, die ja nicht eigentlich Solidarität stiften.

KM:  Das weiß ich nicht. Vielleicht hat das Internet auf eine andere Weise auch solidaritätsstiftende Wirkung. Auf jeden Fall stellt sich das Problem, von dem ich eben gesprochen habe, das Recht auf Solidarität, das Recht, nicht alleine gelassen zu werden. Das heißt eben nicht unbedingt, alles über alle zu wissen. Ein großes Auge, eine Kamera, wie sie bei Euch in Großbritannien inzwischen jeden auf jedem Schritt begleitet, ist kein Instrument, das dazu geeignet wäre, Menschen in Not zu helfen. Kontrolle und gesellschaftliche Solidarität sind nicht das Gleiche.

RD:  Es ist interessant, dass in England, also dem Land des „my home is my castle“, diese Videokameraüberwachung eigentlich auf wenig Protest stößt, während sie auf dem Kontinent stark kritisiert wird.

KM:  In Deutschland vor allem.

RD:  Ich habe darüber nachgedacht, und meine Erklärung ist etwas anders als das, was bei Ihnen anklingt. Ich bin der Meinung, dass in England der öffentliche Raum als ein gemeinsamer Raum gilt, in dem man sich an Regeln zu halten hat. In England würde es schlimm werden, wenn diese Kontrolle in den privaten Raum übergreift. Aber in dem Augenblick, in dem man sein Haus verlässt, ist man in einer Welt, in der man sich an bestimmte Regeln hält, und das darf ruhig kontrolliert werden. Ich vermute, dass das in Deutschland anders ist, wo die Leute auch gerne im öffentlichen Raum ihre eigene Sache machen, von der sie nicht wollen, dass alle das sehen. Es ist ein anderes Verhältnis zur Öffentlichkeit. Das öffentliche Verhalten unterliegt anderen Regeln, und das hat viel mit Solidarität zu tun. Solidarität ist ja vor allem eine Sache des Verhaltens von Menschen zueinander, also eigentlich eine Sache im Kern des öffentlichen Raums, und ich glaube, dass das in den alten Bürgergesellschaften ausgeprägter ist als in den neuen.

 

Das Gespräch erschien anlässlich der 2007 vom IWM veranstalteten Konferenz Conditions for International Solidarity in Der Standard vom 8. November 2007.