Erinnerungen an 1984

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Meine erste Begegnung mit George Orwells Roman muss irgendwann Anfang der 70er Jahre stattgefunden haben – als Schullektüre. Nach Animal Farm wurde Nineteen Eighty-Four »durchgenommen«. Das geschah wohl nicht nur, um unser englisches Vokabular zu erweitern, sondern auch in der Absicht, den Schülerinnen eines zutiefst bürgerlichen Mädchengymnasiums in der tiefsten westdeutschen Provinz (an deren äußersten westlichen Rand sich meine Eltern in den späten 50er Jahren geflüchtet hatten, nicht zuletzt um ihrem Kind das DDR-Schulsystem zu ersparen) die Schrecken eines siegreichen totalitären Systems vor Augen zu führen.

Orwells Horrorszenario, beeindruckend genug, um die Figur des »Großen Bruders« für Jahrzehnte zum sprichwörtlichen Inbegriff totalitärer Repression werden zu lassen, hat auch auf mich die beabsichtigte Wirkung nicht verfehlt. Im Unterschied zu so manch anderer Schul-Pflicht-Lektüre hat sich 1984 tief in mein Gedächtnis eingegraben. Immer wieder ist der Roman am Horizont der Erinnerung aufgetaucht – bis heute.

Etappen der Erinnerung

Deutlich erinnere ich mich an das Gefühl der Erleichterung, mit dem ich im Jahr 1984 an die alte Geschichte zurückgedacht habe. Mit Genugtuung stellte ich damals fest, dass in Wirklichkeit doch alles anders gekommen war, als Orwell es sich ausgedacht hatte. Zu diesem Zeitpunkt Anfang Dreißig lebte ich im Nachklang der »goldenen Jahre« einer unendlich privilegierten Jugend. Der Umbau in der Tiefenstruktur der Gesellschaft, » the great watershed of late-modernity«, schon seit Ende der sechziger und in den siebziger Jahren im Gang, nahm am Beginn der Amtszeiten von Ronald Reagan, Margaret Thatcher, Helmut Kohl zwar bereits deutliche Konturen an, war an der Oberfläche jedoch noch nicht in vollem Umfang sichtbar – jedenfalls für mich nicht, damals nicht. Und im Jahr 1989 schließlich schien mit dem Zusammenbruch desjenigen Gesellschaftssystems, das für Orwells Ingsoc Modell gestanden hatte, endgültig der Punkt erreicht zu sein, an dem sein Horizont glücklich überschritten war.

Trotzdem hat mich die Erinnerung an 1984 auch später nicht losgelassen. So wie eigentlich schon von Anfang an, seit ich das Buch gelesen hatte, überkam (und überkommt) mich nicht selten das unangenehme Gefühl, dass es zwischen jener Welt und unserer Ähnlichkeiten gibt. Nicht dass ich glaubte, dass es zwischen einem demokratischen Rechtsstaat und einer Diktatur keine Unterschiede gäbe, nicht dass ich meinte, dass wir alle längst in Situationen lebten, die dem Dasein in Konzentrationslagern gleich kämen, auch nicht an die im engeren Sinne ideologischen Aussagen des Romans denke ich zurück, sondern an die Atmosphäre, die Bilder, die Orwell von dem bedrückenden und bedrückten Alltag entwirft. Sie sind es, die mich verfolgen in Situationen demütigender Abfertigung an den Schaltern staatlich-öffentlicher Verwaltung, ebenso wie in den privaten Miseren der Isolation der Individuen von einander, the locked loneliness (S. 19), wie es bei Orwell heißt, sowie in der Tristesse des Lebens und Arbeitens in lieblosen und leblosen Massenbetrieben: »(…) the truly characteristic thing about modern life was not its cruelty and insecurity, but simply its bareness, its dingyness, its listlessness« (S. 68).

Präsent geblieben ist der Eindruck der Macht, der Übermacht des Apparats über die Einzelnen, der Diskrepanz zwischen der behaupteten, vorgeblichen Omnipotenz des Systems und der Dürftigkeit, der Schäbigkeit und Kümmerlichkeit der Existenz – und zwar durchaus nicht nur im ökonomischen Sinne. Beeindruckend ist vor allem jene schwer greifbare kulturelle, intellektuelle und emotionale Armut, die Depravierung und Pauperisierung der Menschen, ihre Reduktion zu Materie und Material für ein System, das sie hervorbringen und tragen, das aber doch nicht nach ihrem Masse gebaut ist, dem sie ausnahmslos, ausweglos und beinahe widerspruchslos dienen, statt dass es ihnen dient, » the feeling that you had been cheated of something that you had a right to« (S. 55). Anders gesagt (und vielleicht ein bisschen › altmodisch ‹ ausgedrückt), was mich auf beklemmende Weise an 1984 erinnert, das ist die Entfremdung und der Nihilismus, die den Weg der westlichen Moderne riskant, prekär und problematisch machen – jenseits aller Varianten und Variationen in der politischen und ökonomischen Verfasstheit von Sozialismus oder Kapitalismus – bis heute.

Freilich war dieses leicht schwindelerregende Gefühl, dass alles in Wirklichkeit auf glückliche Weise anders ist als in Orwells Roman und doch fatalerweise auch wieder nicht, diffus. Die Erinnerung an den Roman blieb lange latent, kein wirkliches Thema – bis zum Herbst des Jahres 2001 oder um genau zu sein, bis einige Zeit danach, nämlich bis zum Ausbruch der aus diesem Anlass geführten Kriege. Erst seitdem in der Folge der Angriffe auf das World Trade Center und andere Ziele im Herzen der Weltmacht der Kreuzzug gegen einen numinosen, bei genauerem Hinsehen sogar wechselnden, aber dafür erst recht zum ewigen Erzfeind stilisierten Gegner auf die Welttagesordnung getreten ist, hat sich die vage Erinnerung an das alte Buch mit einem Schlag verdichtet – bis hin zum Wunsch nach einer erneuten Lektüre.

Ich beschließe, den Roman, der aus meiner Bibliothek längst verschwunden war, auf dem Buchmarkt aber noch immer verfügbar ist, zu erwerben, und ich lese.

1984 – 2004 wiedergelesen

Auf einmal scheint mir sogar die Situation meiner Lektüre der des Helden der Geschichte ähnlich. So wie Winston Smith das Buch des abtrünnigen Parteikaders Emmanuel Goldstein (The Theory and Practice of Oligarchical Collectivism) in einem heimlich angemieteten Zimmer über Mr. Charrington’s staubigem Altwarenladen im kriegsverwüsteten London studiert, so sitze ich im Frühsommer des Jahres 2004 ein wenig abseits, verloren und verborgen mit dem verstaubten Text in einer vorübergehenden Behausung in Berlin-Schöneberg. Im Unterschied zu seiner Lektüre ist mein Buch selbstverständlich nicht verboten, die Stadt nicht kriegsbedroht, das Zimmer nicht schäbig, vor allem habe ich den Abtransport in einen room 101 wegen wiederholter thought crimes nicht zu fürchten, aber irgendwie teile ich »the blissful feeling of being alone with the (forbidden) book, in a room with no telescreen« (S. 180). Wie Winston Smith bin ich auf der Suche nach dem Schlüssel zu einer Wirklichkeit, die ich immer weniger durchschaue und zunehmend als bedrückend und bedrohlich erfahre: »I understand how. I do not understand why« (S. 73) – Was werde ich entdecken?

Als erstes finde ich die Vermutung bestätigt, die den unmittelbaren Anlass zur erneuten Lektüre gab. Tatsächlich verblüffend ähnlich ist die Atmosphäre der Bedrohung durch einen Phantomgegner in einem als permanent dargestellten Krieg, die Irrealität dieses fernen Krieges in der medialen Darstellung, die Verwischung der Grenzen zwischen Information und Irreführung, um nicht zu sagen, die Offensichtlichkeit der Lüge und des Betrugs; darüber hinaus das ausschließlich auf Hass und Aggression gegründete Gefühl eines hohlen Patriotismus, die immensen ökonomischen Opfer im Namen einer »Verteidigung«, die sich immer weniger von Angriff unterscheidet.

Eigentlich stellt das aktuelle David-Goliath-Szenario der Konfrontation einer Handvoll nicht staatlich organisierter Desperados und ein paar armseliger » Schurkenstaaten« mit der hegemonialen Hypermacht Orwells dystopische Phantasie bei weitem in den Schatten. Würden wir es nicht erleben, sondern einen Roman mit diesem plot lesen, wir würden dem Autor eine kranke oder mindestens outrierte Einbildungskraft bescheinigen. Bei genauerem Hinsehen fallen einige Parallelen im geopolitischen Muster auf. Dabei sind es andere Aspekte, die vor den Blick kommen als in der Zeit des Kalten Krieges, da die Geschichte als Parabel des Ost-West-Konflikts gelesen werden konnte. In einer Einführung in die Globalisierungsdebatte, die ich zur gleichen Zeit mit dem Roman lese, wird ausgegangen von: »three core blocks, each with its own centre and periphery; namely Europe, Asia-Pacific and the Americas«. Für Orwell war die Welt ganz ähnlich dreigeteilt: Statt von Asia-Pacific spricht er von Eastasia; Kontinentaleuropa und Russland verschmelzen bei ihm zu Eurasia und der Ort der Handlung,Oceania, setzt sich zusammen aus den beiden Amerikas, Australien und – die kriegsbedingten neuesten Allianzen nähern sich dem wiederum an: England.

Was Orwells Vision vielleicht erst aus heutiger Perspektive schreckenerregend macht, ist jedoch nicht eigentlich die Konfrontation gegensätzlicher Systeme, sondern ihre ideologische Unterschiedslosigkeit: » In one combination or another, these three super-states are permanently at war« ; aber: » It is a warfare of limited aims between combatants who are (…) not divided by any genuine ideological difference« (S. 168). » Actually the three philosophies are barely distinguishable, and the social systems which they support are not distinguishable at all« (S. 178). Bei Orwell hat d er Sozialismus über den Kapitalismus gesiegt: Ingsoc, so die Newspeak-Vokabel für English Socialism, ist das System, das in Oceania herrscht, und obwohl die beiden anderen Reiche im Dauerkrieg mit Oceania liegen, werden sie offenbar nicht nach anderen Prinzipien regiert. Seit 1989 verhält es sich in unserer wirklichen Welt unter umgekehrten Vorzeichen letztlich nicht anders. Nun ist es der Kapitalismus, der über den Sozialismus gesiegt hat; statt Ingsoc herrscht UScap, jedenfalls könnte man es so nennen, wenn man Newspeak um eine Vokabel bereichern wollte. Auch in unserer Wirklichkeit gibt es drei verschiedene geopolitische Machtzentren, aber sie zeigen kaum nennenswerte Unterschiede in den Leitbildern, denen sie folgen: Die Prinzipien der freien Marktwirtschaft und der liberalen Demokratie sind gewiss nicht überall im gleichen Umfang oder auf dieselbe Weise realisiert, gleichwohl gelten sie ohne Systemkonkurrenz. So gesehen sind wir 1984 seit 1989 näher gekommen.

Und dennoch, trotz der Bestätigung des Verdachts einer teilweise frappierenden Aktualität: am Ende lege ich den Roman mit dem Gefühl aus der Hand, dass es sich um ein altes Buch handelt, das sich heute so nicht mehr schreiben ließe, wenngleich es sich immer noch ganz gut lesen lässt. Allerdings sind dafür nicht eigentlich Gründe verantwortlich, die ich im vollen Wortsinn gute Gründe nennen würde. Das heißt, nicht weil sich die Welt nachhaltig zum Besseren gewandelt hätte, nicht weil die guten Prinzipien der liberalen Demokratie und der freien Marktwirtschaft über die bösen Prinzipien von Diktatur und Dirigismus schlussendlich gesiegt hätten, ist Orwells Vision obsolet. Zwar ist nach 1989 die Anzahl der demokratisch regierten Staaten gewachsen, es gibt mehr Demokratien, aber nicht mehr Demokratie. Zwar hat die liberale Marktwirtschaft über die Miseren der Planwirtschaft gesiegt, aber die Armut hat sie nicht besiegt, sondern vielmehr nach anderen Kriterien, auf andere Weise verteilt, und die Schere zwischen haves und have-nots hat sich eher noch vergrößert.

Wenn der Unterschied zwischen Ingsoc und UScap nicht oder wenigstens nicht grundsätzlich im Kontrast zwischen Unfreiheit und Ausbeutung auf der einen und Freiheit und Wohlstand auf der anderen Seite liegt, worin besteht er dann? Ich würde vermuten: im Verhältnis von System und Subjekt. Das ist eine Antwort, die der Erläuterung bedarf, und ganz ohne einen historischen Exkurs wird das nicht gehen. In aller Kürze wird sie im folgenden zu erzählen sein:

Die Geschichte vom Aufstieg und Fall des modernen Subjekts

Im Zuge des Säkularisierungsprozesses seit dem Ende des Mittelalters löst sich die abendländische Denk- und Gesellschaftsordnung aus ihrer transzendenten Verankerung. An die Stelle eines Weltbildes, das von der Annahme einer durch einen personal gedachten Gott gestifteten, in alle Ewigkeit unverrückbaren, menschlichem Zu- und Eingriff unverfügbaren Ordnung ausgeht, die in einem nach göttlichem Willen eingesetzten Monarchen ihren personalen Repräsentanten findet, tritt die Idee der Selbsteinsetzung und Selbstorganisation der Gesellschaft. Anders als alle anderen Gesellschaften vor und neben ihr entwickelt die westliche Moderne einen Gesellschaftstypus, » der auf seinen eigenen Grundlagen aufbaut «. » Nur die moderne Gesellschaft stellt sich auf nichts als sich selbst «. In der Folge dieses Wandels erlebt die moderne Gesellschaft eine Ausdifferenzierung in eine Vielzahl von Teilbereichen, die ihrer jeweiligen Eigenlogik folgen, was zu einer enormen Erweiterung und Dynamisierung der Wissensbestände und Handlungsoptionen führt.

Im Zuge dieser Entwicklungen, also infolge der Emanzipation von normativen Bevormundungen durch religiöse Lehren und kirchliche Dogmen, infolge der Befreiung von personaler Herrschaft, sowie aufgrund wissenschaftlicher und technologischer Fortschritte in der materialen Realitätsbewältigung entsteht die Hoffnung auf die Selbstwerdung des Menschen. Von alten Bindungen befreit und durch neue Kräfte ermächtigt, schneidet der Mensch in der Stunde Null der Revolution gegen das ancien régime das Band der Herkunft und Überlieferung durch und orientiert sich auf eine Zukunft hin, in der er anstelle eines überirdischen Heils sein irdisches Glück verfolgen darf. Kurzum, der Modernisierungsprozess ist verbunden mit der Idee des Menschen als autonomem und souveränem Subjekt, das sich in den Mittelpunkt seiner Welt setzt und sich zum Herrn seines Geschicks und seiner Geschichte macht .

Der Aufstieg des Menschen zum Subjekt setzt die Universalität der Kategorie Mensch bzw. Menschheit voraus, d.h. die nahtlose Kongruenz von Allgemeinem und Einzelnem unter Ausfall des Besonderen und der Besonderung. Dieser Mensch als Subjekt ist ausgestattet mit einer sich selbst vollkommen durchsichtigen und allumfassenden Vernunft als Grundlage sowohl des theoretischen Wissens und Erkennens als auch – im Sinne der volonté générale – des politischen Handelns. Es ist jedoch offenkundig, dass dieses Ideal der Vernunft trotz des radikalen Bruchs mit der alten Ordnung dem Modell göttlich-absoluter bzw. monarchisch-absolutistischer Souveränität folgt, wohingegen es für das menschliche Subjekt unerfüllbar ist und bleibt. » Die Subjektivität ist nicht mächtig genug, um die religiöse Macht der Vereinigung im Medium der Vernunft zu regenerieren (…) «. Die Idee der Universalität als Einheit des Subjekts bzw. als Ganzheit des Menschengeschlechts scheitert an der Endlichkeit der Einzelnen ebenso wie an Partikularität des Ganzen.

Obwohl das Scheitern des Versuchs der Subjektwerdung des Menschen von Anfang an absehbar war, ist er nicht aufgegeben worden. Bis heute ist der Weg der Moderne durch das Streben nach Selbstermächtigung geprägt. Den offensichtlichen Grenzen dieses Projekts wird nach der Goldwäschermethode Rechnung getragen, also durch die Abscheidung, das Abschütteln der wertlosen partikularen Elemente von den universalen Bestandteilen. Dabei wird unterschieden zwischen dem unvergänglichen Gold der ewigen Form und der partikularen, sterblichen Materie, dem wertlosen Gestein. Grundsätzlich ist diese Denkfigur nicht neu; alte Vorstellungen von Geist und Körper, Form und Materie bilden ihren Hintergrund, obwohl diese Dualismen allesamt den von Transzendenz und Immanenz voraussetzen, den es nicht mehr gibt. Seit Descartes’ Unterscheidung zwischen res cogitans und res extensa, mit Kants Unterscheidung zwischen einem intelligiblen und einem empirischen Ich verläuft die Grenzlinie nicht mehr zwischen Gott und Welt, zwischen Transzendenz und Immanenz, sondern anders und doch analog dazu bricht das Subjekt entzwei in das, was (vermeintlich) universal ist oder sich ( tatsächlich) universalisieren lässt und das, was kontingent und akzidentell, bedingt und beliebig bleibt. Jürgen Habermas spricht von einer » aporetische[n] Verdoppelung des selbstbezüglichen Subjekts «, das die Stellung » eines sich vergottenden, in Akten vergeblicher Selbsttranszendenz verzehrenden Subjekts « einnimmt und zugleich » die Stellung eines empirischen Subjekts in der Welt (…), wo es sich als Objekt unter anderen Objekten vorfindet «. Dieses Auseinanderfallen zwischen dem Menschen als Schöpfer seiner Welt (Gattungswesen, transzendentales Ich) und dem Menschen als demjenigen, der die Welt vorfindet (Individuum, empiri­sches Ich), ist gewissermaßen der Geburtsfehler des modernen Subjekts und das zentrale Problem der Moderne.

Als universal gelten die Formen des Denkens, die formalen Prinzipien der Logik, der Mathematik und der (Natur-)Wissenschaft im allgemeinen, und daran anschließend die unter modernen Bedingungen formalisierbaren prozeduralen Grundsätze des Rechts, die quantifizierbaren Prinzipien der Ökonomie. Allerdings wird die Vernunft auf dem Königsweg der Quantifizierung aller Qualitäten weder allumfassend noch ewiggültig. Vielmehr schränkt sie sich auf ihre rechenhaften, berechnenden und berechenbaren Aspekte ein, mit Kalkül als Prinzip und Effizienz als einzigem Maß und Ziel. Diese Art der Vernunft ist das Vermögen der Verfahren und Mittel; sie antwortet auf die Frage » Wie? « ; sie gibt den Zauberbesen an die Hand, ohne Ansehen der Person, den Fragen nach Autorität oder Befähigung gegenüber ebenso indifferent wie gegenüber dem Ziel und Zweck der Verwendung. Effizienz ist das Prinzip der Nutzenmaximierung und Kostenminimierung; es definiert Zweckmäßigkeit, aber es bestimmt nicht den Zweck. Ratio transformiert sich zu Rationalität und diese Rationalität wird auf den Umgang mit Sachen bezogen, mit Sachlichkeit bzw. Objektivität identifiziert. Je konsequenter das geschieht, desto mehr löst sich die Einheit von Vernunft und Subjekt. Diese Art von ratio ist außerdem durchaus keine immer und überall gültige Vernunft, sondern trägt – aller Prätention auf Universalität zum Trotz – zeitspezifisch moderne und kulturspezifisch westlich-abendländische Züge . Diese Erscheinungsform der Vernunft ist nicht universal, sie hat sich lediglich im Verlauf der letzten Jahrhunderte und im Rahmen der in diesem Zeitraum zur Dominanz gelangten gesellschaftlichen Verhältnisse einigermaßen erfolgreich universalisieren lassen.

Allerdings ist diese Festlegung der Vernunft auf ihre formalen und performativen Aspekte und ihre Neutralisierung gegenüber allen Sinn- und Zweckbezügen keine zufällige und damit beliebig reversible Entwicklung, sondern eine notwendige Folge des Verlusts der transzendenten Verankerung. Um Sinn – und Zweckfragen, die Fragen nach » Weshalb? « und » Wozu? « beantworten zu können, müssen Zusammenhänge des Woher und Wohin, kurzum der Horizont eines Ganzen gegeben sein. Die Tradition des abendländischen Denkens ist darauf angelegt, diese Anforderung ohne die Annahme eines außerhalb liegenden Referenzpunktes für nicht erfüllbar zu erachten. Damit hält das Denken an einer Bedingung fest, die die Gesellschaft aufgibt. Denn die selbstinstitutionalisierte Gesellschaft besitzt keinen transzendenten Verankerungspunkt; folglich kann sie, wie Niklas Luhmann es formuliert, » nicht selbst in sich selbst als Ganzes nochmals vorkommen «. Damit lässt sich ein Sinn und Zweck des Ganzen ebenso wenig angeben, wie die Gestalt des Ganzen. Die moderne Gesellschaft kann sich » nicht mehr auf einen Abschlussgedanken, auf eine referenzfähige Einheit, auf eine Metaerzählung (…) beziehen, die ihr Form und Maß vorschreibt «. Mit anderen Worten, die moderne Gesellschaft lässt sich nicht verkörpern, nicht darstellen und nicht anschauen. » (…) there is no representation of a centre and of the contours of society: unity cannot (…) efface social division. Democracy inaugurates the experience of an ungraspable, uncontrollable society in which the people will be said to be sovereign, (…) but whose identity will constantly be open to question, whose identity will remain latent «. Claude Lefort spricht von » a certain vertigo in face of the void created by an indeterminate society «. Wenn der Modernisierungsprozess die Hoffnung auf eine nie zuvor dagewesene Ermächtigung des Menschen(geschlechts) weckt, muss dem alsbald die ernüchternde Einsicht folgen: » Power appears as an empty place «.

Der Rückzug der ratio von allen Sinn- und Wert-, Ziel- und Zweckvorstellungen (und deren relative Bedeutungslosigkeit für das Funktionieren und die Funktionszusammenhänge der modernen Gesellschaft) führt indessen weder zu ihrer Lösung noch zu ihrer Auflösung, sondern zu ihrer Subjektivierung. Der Prozess der Subjektivierung bedeutet ebenso eine Entfernung von der Vernunft wie der Prozess der Rationalisierung, nur laufen die beiden Prozesse in entgegengesetzte Richtungen. Wenn es zutrifft, dass allein die formalen Komponenten der Vernunft, d.h. eine » instrumentelle Vernunft « , das Vermögen der Mittel und Verfahren, universal (genauer gesagt und viel bescheidener: einigermaßen universalisierbar) ist, dann steht das Vermögen der Zwecke auf der materialen Seite, also auf der Seite, die ohne Verankerung und Rückhalt in einer Transzendenz mit allen Merkmalen von Immanenz bzw. Kontingenz behaftet bleibt. Das heißt, dass Sinn- und Zwecksetzungen nicht eigentlich der Vernunft bzw. einem mit Vernunft identifizierten Subjekt obliegen, sondern einem Subjektivierungsprozess unterliegen, in dessen Folge sie einer Subjektivität anheim fallen, die – der Rationalität entgleitend und entkleidet – partikular ist und bleibt. So wie sich auf der einen Seite die von ihren partikularen subjektiven Merkmalen gereinigte Rationalität immer weitergehend entsubjektiviert, versachlicht und verdinglicht, so erscheint umgekehrt die Subjektivität als der Vernunft beraubt, als ir-rational, als willkürlich und zufällig. Die eine Vernunft verdoppelt sich, nein, sie halbiert sich, sie bricht auseinander und mutiert zu » calculation and willfullness «.

Die Vereinseitigung der Vernunft, ihre Beschränkung auf die universalisierbaren, formalen Aspekte, auf die Rationalität, den Weg fortschreitender Rationalisierung und die (im Verlauf der Moderne auch weiter fortschreitende) Subjektivierung des Subjekts, die Freisetzung seiner Willkür sind zwei Seiten derselben Medaille. Auf der einen Seite steht die Sache, die Sachlichkeit; der Mensch, die Menschlichkeit auf der anderen. Darüber hinaus deutet sich im Verhältnis von Rationalisierung und Subjektivierung eine Verkehrung an: Während der auf unbegrenzte Pluralisierung und Fragmentierung hinauslaufenden Ausdifferenzierungsbewegung der Sachbereiche letztlich ein einheitliches Prinzip zugrunde liegt, ist die andere Seite, das Vermögen der Zwecke, das eine Zentrierungsleistung zu erbringen, eine Schließungsbewegung zu vollziehen hätte, das einen » still point in a turning world « bilden sollte, um der funktionalen Differenzierung einen Ankerpunkt zu geben, außerstande ein Einheitsprinzip zu finden, das Verbindlichkeit beanspruchen dürfte. Insofern dem Universalen der Vorrang vor dem Partikularen gebührt, läuft dieser Prozess auf eine Dominanz der Mittel über die Zwecke hinaus.

In dieser Situation – es ist der Punkt, an dem das Projekt der Aufklärung scheitert – gabelt sich der Weg der Moderne in zwei Richtungen. Mit Blick auf die gesellschaftlichen Implikationen und in politischen Termini ausgedrückt, lässt sich der eine als » liberal « , der andere als » totalitär « bezeichnen. Um es vorauszunehmen: der liberale Weg bezeichnet für das skizzierte Problem keine Lösung, aber einen gangbaren Ausweg. Der totalitäre Weg ist ein Irrweg, der in eine Katastrophe mündet.

Der liberale Ausweg

Auf dem liberalen Weg befinden wir uns, wenn der vergebliche Versuch der Zentrierung der Welt im Subjekt aufgegeben wird und wenn die der Berechenbarkeit entzogenen, der Willkür anheimgestellten Entscheidungen über Sinn- und Wert-, Ziel- und Zweckvorstellungen der Kontingenz, die ihnen nun einmal eigen ist, tatsächlich überlassen werden. Auf diesem Wege wird die Willkürlichkeit, d.h. die Bedingtheit und Begrenztheit, die Beliebigkeit und Zufälligkeit der Subjektivität durch Pluralisierung harmlos. Das eine Subjekt löst sich in eine Vielzahl von partikularen Subjekten, in kollektive Subjekte (Besonderheit/ Besonderung) und Individuen (Einzelheit/ Vereinzelung) auf. Ihnen wird die Entscheidung aller materialen Fragen freigestellt. Diese Freistellung ist es, die diesem Weg die Bezeichnungen » liberal « und » pluralistisch « einträgt. Mit Freiheit im Sinne souveräner Selbstbestimmung des universalen Subjekts hat diese Liberalität nicht viel gemein.

Eher handelt es sich um ein Tolerieren und Gewährenlassen der Subjekte in ihrer Partikularität, in die diese sich im Gegenzug unbedingt fügen müssen: weder dürfen sie Anleitung durch allgemein verbindliche Normen, also einen gesellschaftlichen » input « in ihre Entscheidungen erwarten, noch dürfen sie umgekehrt allgemeine Gültigkeit für ihre Präferenzen und Entscheidungen verlangen, also einen » output « , eine verbindliche Wirkung ihrer Subjektivität auf die Funktionszusammenhänge der Gesellschaft geltend machen. Sie müssen sich mit der jeweiligen Genese und Geltung ihrer Sinn- und Wertentscheidungen, ihrer Ziel- und Zwecksetzungen bescheiden, d.h. mit ihrer Gleich-Gültigkeit sowohl im Sinne der gleichen Gültigkeit aller partikularen Sinnwelten als auch mit der Indifferenz der partikularen Sinnwelten insgesamt für die Funktionsabläufe der Gesellschaft. Mit anderen Worten, auf dem liberalen Weg werden die Ideale der Aufklärung verschoben: die Idee der Freiheit mutiert zu Freisetzung, die Idee der Gleichheit zu Gleichgültigkeit.

So entsteht eine relative Indifferenz zwischen der als Funktionszusammenhang konstituierten Gesellschaft und den partikularen Subjekten. Diese Indifferenz ist insofern nur relativ, als selbstverständlich auch die Funktionszusammenhänge der modernen Gesellschaft von den menschlichen Subjekten, die diese Gesellschaft bilden, getragen werden müssen. Grundsätzlich indifferent, also gleichgültig ist nicht deren Teilnahme und Tätigkeit am und im gesellschaftlichen Prozess, wohl aber, was sie dabei denken, glauben oder hoffen, was sie wahrnehmen, empfinden oder fühlen, was sie erleben und wie sie leben. Auf diese Weise öffnet sich eine Kluft zwischen den Funktionen, welche die Akteure ausüben, den ›Rollen‹, die sie spielen, den ›Masken‹, die sie tragen, im Hinblick auf ihre Partizipation an den Funktionszusammenhängen der Gesellschaft, und dem ›Leben‹, das sie im ›Binnenraum‹ ihrer Subjektivität führen, der sich dadurch erst als solcher herausbildet. Unproblematisch ist diese liberale Lösung von Anfang an nicht: » Lacking the shared ultimate narrative, and with a society which is systemically stable but individually mobile and impersonal, my roles are not part of a whole identity that society must recognize as meaningful. The result is a disconnection between internal self-understanding and objective social role. My self-understanding can base itself either in a privately perceived unity that society need not recognize, or in my socially recognized roles, each with its own audience, which need have no unity «.

Dieser liberalen Art der Halbierung der Vernunft in Kalkül und Willkür entspricht eine klare Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit. In der Öffentlichkeit, d.h. in den dem öffentlichen Bereich zugeordneten gesellschaftlichen Subsystemen herrschen die rationalen und objektiven bzw. rationalisierbaren und objektivierbaren Prinzipien von Kalkül und Effizienz. Dagegen werden in der Sphäre des Privaten und Individuellen die partikularen Idiosynkrasien der Subjektivität toleriert und konserviert. Zu dem, was da an den Rändern, jenseits des Sozialsystem geduldet und bewahrt wird, gehört auch, was einmal die emphatische Idee des Menschen als Subjekt hätte ausmachen sollen: Das als Mensch realisierte Weltverhältnis und » Welt (oder sozial gesehen: Menschheit) ist eben das, was im Individuum ›selbsttätig‹ zur Darstellung gebracht wird «. Diese Bewahrung einer Idee von Einheit und Ganzheit im per definitionem unteilbaren In-dividuum bedeutet zugleich dessen Ausgrenzung aus einem gesellschaftlichen System, das von transzendental verbürgter Einheit auf Differenz umstellt: Seitdem das Individuum als einmaliges einzigartiges, am Ich bewusst werdendes, als Mensch realisiertes Weltverhältnis begriffen wird, ist es unmöglich, es »als Teil eines Ganzen, als Teil der Gesellschaft aufzufassen. Was immer das Individuum aus sich selbst macht und wie immer Gesellschaft dabei mitspielt: es hat seinen Standort in sich selbst und außerhalb der Gesellschaft. Nichts anderes wird mit der Formel ›Subjekt‹ symbolisiert«. Die Gesellschaft » bietet (…) dem Einzelnen keinen Ort mehr, wo er als ›gesellschaftliches Wesen‹ existieren kann. Er kann nur außerhalb der Gesellschaft leben, nur als System eigener Art in der Umwelt der Gesellschaft sich reproduzieren (…) « . Kurzum, das Subjekt sieht sich mit seiner » Exklusion aus dem societalen Diskurs « konfrontiert, es wird in das Exil oder – da es sich um einen außergesellschaftlichen Ort im Inneren der Gesellschaft handelt – besser gesagt: in die Enklave seiner Privatheit und Innerlichkeit eingeschlossen. Die moderne Privatsphäre bildet ein innergesellschaftliches Außen, unter bestimmten Bedingungen sogar eine innergesellschaftliche Gegenwelt.

Der totalitäre Irrweg

Der » totalitäre « Weg weist genau in die entgegengesetzte Richtung, insofern als hier an der Einheit des ganzen Subjekts festgehalten werden soll. » Outside man there is nothing « , lautet die Doktrin des Totalitarismus in Orwells prägnanter Formulierung (S. 240). Damit ist dieser Weg zweifelsfrei als modern ausgewiesen, ja er scheint dem Projekt der Aufklärung, den Ideen von Emanzipation, Menschheitsfortschritt und Menschheitsglück enger verbunden zu bleiben als die liberale Variante. Da jedoch die Vorstellung der Ganzheit des Subjekts dem Modell von göttlich-fürstlicher Souveränität folgt, führt dieser Weg zu einer Sakralisierung oder Selbstvergottung, die – in eklatantem Widerspruch zu den modernen Leitideen – auf traditionale Vorstellungen zurückgreift, deren Sinn allerdings um nichts weniger verfehlt wird als der Geist der Aufklärung. In der Sakralisierung des Subjekts werden letztlich beide, die moderne Idee der Menschheit ebenso wie die traditionalen Ordnungsvorstellungen souveräner Herrschaft sowohl beerbt als auch verfehlt, sowohl imitiert als auch pervertiert.

Die Sakralisierung des Subjekts reicht nicht aus, um eine neue Religion oder Mythologie als sinnstiftende Narration entstehen zu lassen; sie beschränkt sich auf den Versuch, den ermächtigten modernen Menschen als souveränes Subjekt über die gesellschaftlichen Funktionszusammenhänge zu stellen, um so jenen transzendenten Punkt wiederzugewinnen, an dem ein Ganzes sichtbar und darstellbar wird. Auf der vollen Höhe entspricht der Idee » Mensch heit « das Konzept » Weltgeist « und die politische Idee des Kosmopolitismus, die ihre Realisierung in einem Weltstaat hätte finden müssen. In der historischen Wirklichkeit hat die Vorstellung des souveränen Subjekts kaum nachhaltig über die Größe der modernen Nation hinausgereicht. Der Weltgeist schrumpft auf das Maß partikularer » Volksgeister « – vielleicht nicht zuletzt deshalb, weil sich ein » Weltkörper « zum universalen Weltgeist nicht so recht assoziieren lässt, während das Kollektivsubjekt » Volk « immerhin noch irgendwie mit Geist und Körper ausgestattet, also personal bzw. anthropomorph imaginiert werden kann. Dass auch diese Vorstellung problematisch ist, insofern als die Idee der Souveränität des Subjekts an den Gedanken der Verkörperung gebunden bleibt, zeigt sich daran, dass es in der Regel für notwendig erachtet wird, die Einheit des Kollektivsubjekts Volk/ Nation noch zusätzlich durch eine, sei es reale, sei es gänzlich fiktive Person zu repräsentieren. Solange die personale Verkörperung des Kollektivsubjekts im Rahmen des Symbolischen verbleibt, so dass der unter modernen Bedingungen notwendigerweise leere Platz der Macht zwar personal repräsentiert, aber de facto leer gelassen wird, ist dieser Weg der Sakralisierung des Subjekts zwar eindeutig rückwärts gewandt, reaktionär und autoritär, aber nicht eigentlich totalitär.

Der Begriff des Totalitären und des Totalitarismus ist erst dann erfüllt, wenn das sakralisierte Subjekt nicht symbolisch aufgefasst, sondern mit realer Macht ausgestattet wird, wenn es den leeren Ort der Macht usurpiert. In der Gestalt des » Führers « wird die für eine moderne, funktional ausdifferenzierte Gesellschaft obsolet, d.h. überflüssig und inadäquat gewordene Form personaler Herrschaft restituiert. In der politischen Geschichte der letzten beiden Jahrhunderte hat dieses Subjektkonzept in den › großen ‹ Männern von Napoleon bis Mao Dse Dong Gestalt angenommen. Das tertium comparationis zwischen den unterschiedlichen Figuren: Ein auf Überlebensgröße zum Subjekt aufgeblasenes Individuum maßt sich Unfehlbarkeit und Unsterblichkeit, Allgegenwart, Allwissen und Allmacht an; es rückt sich in den Mittelpunkt eines Personenkults mit pseudoreligiösen Zügen. Der Totalitarismus geht über die auf formale Prinzipien festgelegte moderne Idee des Universalen hinaus und kehrt zur Vorstellung des Ganzen in einem alles umfassenden, quasi holistischen Sinne zurück. Allerdings übersteigert das moderne Subjekt die Machtvollkommenheit traditionaler Herrschaft, der es sich anzunähern scheint, insofern als ihm deren sowohl religiöse als auch dynastisch-familiale Bindungs- und das bedeutet: Bremsmechanismen fehlen. Im Unterschied zum Führer verstand sich der Monarch, selbst noch der unumschränkt und absolut herrschende als Stellvertreter einer höheren Instanz (dei gratia) und als ein Glied in der (möglichst) langen Generationenkette seines Hauses – so wurde die Prätention der Omnipotenz vermieden, die mit einem kurzen Schritt vom Erhabenen in jene clowneske Lächerlichkeit abstürzt, der Charlie Chaplin als großer Diktator Ausdruck verliehen hat .

Das ganz und gar nicht lächerliche, sondern tragische Moment der beispiellosen Übersteigerung des Herrschaftsanspruchs des modernen Subjekts liegt darin, dass das Auftreten seines Geburtsfehlers, d.h. ein Ent­zweibrechen universaler und partikularer Elemente nicht zu vermeiden ist . Im Unterschied zur liberalen Variante verläuft der Bruch nicht zwischen einer zur Objektivität verdinglichten ratio auf der einen und der Subjektivität auf der anderen Seite, sondern im Subjekt selbst. Mit anderen Worten, erst hier, auf dem totalitären Weg der Moderne erhält die Rede von der » Verdoppelung des selbstbezüglichen Subjekts « ihren vollen Sinn. Das moderne Subjekt, d.h. das aufgrund des Verlusts seiner transzendenten Verankerung unwiderruflich in seine Kontingenz entlassene Subjekt, polarisiert sich so, dass die Kontingenz von der einen Seite ganz abgewiesen und allein der anderen Seite zugewiesen wird. Indem sich ein partikulares Subjekt als Führer absolut setzt, wohingegen ein anderes, jedes andere, nicht mehr und nicht weniger partikulare Subjekt als nichtig gesetzt wird, verdoppelt/ halbiert sich das Subjekt in ein (zu) großes, gefährliches Subjekt und in ein (zu) kleines, gefährdetes Subjekt, in Übermensch und Untermensch. Es entsteht so der Anschein einer Hierarchie von oben und unten, der jedoch jede Legitimation fehlt. Es entsteht auch nicht eigentlich ein hierarchisches Verhältnis von oben und unten, sondern d as Subjekt wird in Alles und Nichts, Allmacht und Ohnmacht auseinandergerissen. Da aber der totalitäre Weg i m Unterschied zum liberalen dadurch charakterisiert ist, auf dem ganzen Subjekt und seiner souveränen Herrschaft über alles zu insistieren, lässt die Entzweiung im Subjekt einen Widerspruch entstehen, der beseitigt werden muss. Obwohl das Auseinanderbrechen zwischen dem absoluten und dem nichtigen Subjekt so massiv in Erscheinung tritt, darf es doch gar nicht sein. Jeder Versuch zu verhindern, was nicht zu verhindern ist, nimmt gewaltsame Züge an. Aus dieser Gewaltsamkeit des vergeblichen Versuchs, die Herrschaft des ganzen Subjekts zu errichten, resultieren Gewalttätigkeit und Repression in ihrer spezifisch totalitären Gestalt.

Der Große Bruder, der kleine Winston Smith oder: die Tragödie des totalitären
Subjekts

Es ist diese Tragödie des modernen Subjekts in ihrer totalitären Form, die Orwell in den Figuren des Großen Bruders und des kleinen Winston Smith inszeniert. Zusammen personifizieren sie die beiden Seiten des » last man« (wie Orwell seinen Roman zunächst nennen wollte); anders gesagt: des scheiternden Versuchs, den Menschen bzw. die Menschheit als autonomes und souveränes Subjekt seiner/ihrer selbst, des Geschicks der Welt und der Weltgeschichte zu setzen.

Die Verhinderung des Bruchs im Subjekt bedeutet auf der Seite des großen Ich die Leugnung seiner Partikularität und auf der Seite des kleinen Ich die Eliminierung der Partikularität. Auf beiden Seiten des auseinanderbrechenden Subjekts wird der Prozess der Pluralisierung arretiert, die Entfaltung der Subjektivität – gleich zeitig Schicksal und Chance des modernen Subjekts – blockiert.

Auf der Seite des Große n Bruders wird das Schicksal der Partikularisierung negiert, indem sie absolut gesetzt wird. Das subjektive Belieben wird nicht in die Beliebigkeit der Subjektivität entlassen, sondern die subjektive Willkür des Diktators gelangt zur Herrschaft. Als spezifisch totalitäre Willkürherrschaft d ominiert sie nicht nur über jeden anderen Willen, sondern sogar über jede Art von Vernunft. Indem sich die Willkür des großen Bruders, der Wille der Partei über die Gesetze der Logik und der Natur setzt, wird der in der liberalen Variante eintretende Bruch zwischen Rationalität und Subjektivität vermieden; die ratio wird der Willkür untergeordnet.

Winston Smiths Widerstand gegen diesen totalitären Herrschaftsanspruch über die ratio, über das, was Orwell » the obvious « nennt, das, was objektiv feststeht und festgestellt werden kann, ist ein Leitmotiv , das an allen entscheidenden Stellen der Handlung des Romans auftritt. Der Satz: » Freedom is the freedom to say that two plus two make four. If that is granted, all else follows « gehört zu den wichtigsten Eintragungen in Winston Smiths verbotenem Tagebuch (S. 74), mit dem seine Dissidenz beginnt. An » the secret doctrine that two plus two make four « erinnert er sich im Moment unmittelbar vor seiner Verhaftung durch die thought police (S. 199). In den Gesprächen mit seinem Folterer O’Brien wird die Geltung der Gesetze der Arithmetik, der Logik, der Natur ein zentrales Thema sein. Es ist dies der Punkt, an dem Winston Smith um seinen Verstand kämpft (S. 226, 234, 250, 252), um schließlich zu verlieren: » Almost unconsciously he traced with his finger in the dust of the table: 2 + 2 = 5 « (S. 262).

Wenn das große Ich über alles erhoben wird, dann bezieht sich die Doktrin, » outside man there is nothing « , in erster Linie auf die Leugnung der äußeren Wirklichkeit: » reality is not external « (S. 225). Dieselbe Doktrin verlangt aber auch Geltung nach innen. In dieser Hinsicht muss die Subjektivität des kleinen Ich bis zum Punkt vollständiger Auslöschung negiert werden. Während das große Ich gegen das Schicksal der Partikularisierung revoltiert, wird dem kleinen Ich die Chance der Subjektivierung verweigert. Würde dem kleinen Ich auch nur ein Hauch von Eigenständigkeit zugebilligt, dann müsste die Partikularität des großen Ich offenkundig werden. Daher zielt der Kontroll- und Unterdrückungsapparat des Regimes auf das , was in Newspeak » ownlife« heißt, » meaning individualism and eccentricity« (S. 75). Verfolgt wird die Jeweiligkeit und Jemeinigkeit der Subjektivität, eben das, was die liberale Variante des modernen Weges freisetzt, aus dem Zentrum, dem gesellschaftlichen Funktionszusammenhang herausrückt (Ex-Zentrizität) und in das Belieben und die Beliebigkeit der Innenwelt entlässt und frei lässt.

Im selben Augenblick, in dem Winston Smith beschließt, gegen die Partei des Große n Bruders zu opponieren, um für die Evidenz einzutreten, mit der zwei mal zwei vier ist, entschließt er sich auch, um dieses »ownlife« zu kämpfen: »And yet he was in the right! (…) The obvious, the silly and the true had got to be defended« (S. 74).

Auf den ersten Blick mag es merkwürdig erscheinen, das Verrückte ( » the silly « ) und das Wahre ( » the true « ) im selben Atemzug zu nennen. Tatsächlich trifft Orwell den Charakter des »ownlife« damit genau. Zum » Privaten « gehört, was seit jeher schon im » Dunkel des Hauses « verborgen war: die Partikularität des Menschlichen in seiner Endlichkeit, als Gebürtlichkeit und Sterblichkeit, die Einzelheit des Körperlichen, die Sexualität, die Phantasie, der Traum, das Unbewusste, der Schmerz und die Lust, das Leiden und die Leidenschaften, die Idiosynkrasien und Obsessionen, eben all das, was – wenn es die Schwelle des Intimen überschreitet – als » silly « erscheint und das Funktionieren der Gesellschaft bedroht und dennoch die Ressource, die › Quelle‹ bildet, aus der sie ihre Lebendigkeit schöpft. Hinzu kommt, was erst unter den Bedingungen einer modernen ausdifferenzierten Gesellschaft in das Exil der Privatsphäre verbannt wird. Das sind sowohl die Werte des Wahren, Guten und Schönen, die aus der Perspektive eines ausdifferenzierten Gesellschaftssystems als überlebte Traditionsreste erscheinen, als auch die Hoffnungen auf Autonomie und Solidarität, auf Menschheit und Menschlichkeit, die erst das Projekt der Moderne geweckt hat, ohne sie erfüllen zu können. Obwohl das Spektrum damit mehr als weit ist und einigermaßen inkompatible Teile enthält, müssen diese es sich gefallen lassen, umstandslos als das zusammengefasst zu werden, worüber sich ohne die Gültigkeit einer großen, alles umfassenden Erzählung kein Konsens erzielen lässt, weil sie sich weder berechnen noch verrechnen lassen. Unter liberalen Voraussetzungen wird all das dem privaten und individuellen Belieben anheimgestellt, in die Welt der sozialen Nahbeziehungen transferiert, um nicht zu sagen: abgeschoben und unter dem Vorzeichen der Partikularität einer subjektiv gewordenen Vernunft in Emotionalität transformiert, auf Gefühl reduziert.

In der totalitären Gesellschaft Oceanias wird all das unterschiedslos und erbarmungslos verfolgt und ausgerottet. » The silly « des Psychischen und Somatischen, die zufälligen Macken und Ticks des Mannes mit den Gesichtszuckungen, dem Winston Smith zufällig auf der Straße begegnet (S. 59 f.), stehen ebenso unter Verdacht und sind derselben Vernichtungsdrohung ausgesetzt wie » the true « . Das Wahre, Gute und Schöne gehören einer Vergangenheit an, deren Reste Winston Smith verzweifelt aufspürt und ängstlich sammelt, deren Bilder er nur schemenhaft und mit größter Anstrengung erinnert. Und so wie ihm die Gesetze der Rationalität nur noch in der basalen Regel von 2 + 2 präsent sind, so konzentriert sich das Wahre auf einen einzigen Punkt, den innersten Kern dieser privaten Wahrheiten und Werte, auf das Gefühl, und zwar auf das subjektivste und » weltloseste « aller Gefühle, auf Liebe.

In der Erinnerung an seine Mutter bewahrt Winston Smith, was er als das Wahre und Gute empfindet: » (…) she had possessed a kind of nobility, a kind of purity, simply because the standards that she obeyed were private ones. Her feelings were her own, and could not be altered from outside « (S. 149, vgl. S. 30). Der Sohn hat die Mutter längst verloren und lebt in einer anderen Welt. In seiner Erinnerung ist eine Fremdheit, ein Befremden darüber spürbar, dass es einmal Menschen gab, die für ihr Handeln keiner rationalen Begründungen bedurften ( » without needing to know the reason « ), und deren Wert- und Sinnvorstellungen nicht auf Effekt und Effektivität ausgerichtet waren: » It would not have occured to her [seiner Mutter] that an action which is ineffectual thereby becomes meaningless « (S. 149). In einer von Not regierten, auf das Notwendige reduzierten Wirklichkeit, in der nur das Überlebenskalkül Geltung beanspruchen kann, sind solche ihren Zweck in sich selbst tragenden Handlungen » without reason « , nicht nur ohne Grund, sondern regelrecht unvernünftig, so dass Wahrheiten und Werte am Ende als nicht weniger verrückt erscheinen als » the silly « .

Noch verrückter als angesichts von Berechnung und Eigennutz erscheint die im Bild ohnmächtiger Mütterlichkeit festgehaltene Humanität angesichts brutaler Gewalt. In seiner ersten Tagebucheintragung schreibt Winston Smith scheinbar zusammenhangslos Eindrücke eines Kinobesuchs nieder. In einem Film der Kriegspropaganda, von dem ausdrücklich vermerkt wird, dass er ihm besonders gut gefallen habe, beschreibt er eine Frau: » with a little boy about three years old in her arms (…) putting her arms around him and comforting him although she was blue with fright herself, (…) covering him up as much as possible as if she through her arms could keep the bullets off him, then the helicopter planted a 20 kilo bomb in among them terrific flash and the boat went all to matchwood, then there was a wonderful shot of a child’s arm going up up right up into the air (…) there was a lot of applause from the party seats « (S. 11).

Auf diese » wundervolle « Szene wird er noch einmal zurückkommen, und hier wird nicht nur das Einverständnis des Parteimitglieds Winston Smith mit der militärischen Aktion des Regimes hervorgehoben, sondern hier wird von seiner eigenen knabenhaften, aus der Not geborenen Gewalttätigkeit berichtet: er erinnert sich an die extreme Not, die in seiner Kindheit herrschte. Obwohl die Bevorzugung des kleinen Winston aufgrund seines männlichen Geschlechts zur unhinterfragten traditionalen Werteordnung seiner Mutter gehörte ( » His mother was quite ready to give him more than his share. She took it for granted that he, › the boy‹ , should have the biggest portion « , S.147), gibt es nie genug zu Essen und so reißt der Junge der kleinen Schwester, die die Mutter zu seinen Gunsten hungern lässt, gewaltsam auch noch das letzte Stück Schokolade weg und läuft davon. Wenig später mit schlechtem Gewissen zurückkehrend sind Mutter und Schwester verschwunden für immer. In der Erinnerung an die Reaktion der Mutter auf seine eigene rücksichtslose Handlung ( » When the last of the chocolate was gone [deren letzten Rest er selbst seiner Schwester gestohlen hatte], his mother had clasped the child [die kleine Schwester] in her arms. It was no use, it changed nothing, it did not produce more chocolate, it did not avert the child’s death or her own; but it seemed natural to her to do it « , S. 149), verschwimmt dieses letzte Bild der Mutter mit dem der Frau und dem Kind im Flüchtlingsboot: » The refugee woman in the boat had also covered the little boy with her arm, which was no more use against the bullets than a sheet of paper « (S. 149). Was die beiden Frauen verbindet: » They were governed by private loyalties which they did not question. What mattered were individual relationships, and a completely helpless gesture (…) could have value in itself « (S. 149). Die Mutterliebe trägt ihren Zweck in sich selbst; sie ist abgeschlossen und immun gegen die Welt. Die Feminisierung aller nicht berechenbaren und verrechenbaren und daher irrationalen Werte ist nun freilich kein Spezifikum des totalitären Irrwegs, sondern charakterisiert den bürgerlich-liberalen Ausweg, auf dem die Trennung zwischen Rationalität und Subjektivität, von Öffentlichkeit und Privatsphäre eng mit der modernen Rekonstituierung geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung verknüpft wird. Die in ihrer feminisierten Form zugleich idealisierten wie entwerteten Ideen des Wahren, Schönen und Guten geraten gegenüber dem rationalen Kalkül genauso hoffnungslos in die Defensive wie gegenüber der totalitären Gewalt.

Nicht weniger silly und true als die Mutterliebe, welcher der kleine Junge die Gegenliebe schuldig bleibt und an der er schuldig wird, erscheint die Liebe in einer anderen Gestalt, nämlich in der erotischen Beziehung, in der der erwachsene Mann zum Helden des Romans wird. Die Liebesbeziehung zwischen Winston und Julia bildet das Zentrum der Erzählung, die Achse, um welche die Handlung organisiert ist; sie markiert den Höhepunkt, an dem die Revolte gegen den Große n Bruder zum manifesten Akt wird, ebenso wie den Tiefpunkt, an dem die Niederlage besiegelt ist. Mit der Stilisierung der erotischen Liebe zur zentralen Oppositionsinstanz der Subjektivität gegen ihre Auslöschung folgt Orwell der liberal-bürgerlichen Ideologie des Privaten und Innerlichen so getreulich wie in der Idealisierung der Mutterliebe. Beide Formen der Liebe repräsentieren die Alterität der selbsthaften und selbstzweckhaften Privatsphäre gegenüber der instrumentellen Orientierung der Gesellschaft. In der Erfahrung der Liebe gilt: » la réalité d’une expérience d’étrangeté au monde est valorisée en soi «. Beide Formen der Liebe erscheinen jeweils in doppelter Gestalt als höchster Wert der Kultur und zugleich als vollkommen naturhaft. Die widersprüchliche und ambivalente Engführung von Kultur und Natur gewinnt ihren Sinn wiederum nur aus der Entgegensetzung zur Gesellschaft und ihren rationalen Funktionsgesetzen. Das im Grunde ziemlich aberwitzige Projekt der Moderne, das menschliche Subjekt aus dem Sozialsystem zu exilieren, und es mit einer » Exklusionsindividualität « auszustatten, wird überhaupt nur auf der Grundlage der Liebe in ihrer doppelten Gestalt möglich. Sie ist es, die der Subjektivität so etwas wie Substanz verleiht.

Wenn Orwell Liebe und Begehren als Kräfte der Rebellion gegen das totalitäre Regime, als » force that would tear the party to pieces « (S. 115, vgl. S. 63) programmatisch in den Vordergrund stellt, so teilt er die verbreitete Auffassung, dass der Ameisenstaat nur durch völlige Vernichtung der Sexualität dieser Tiere möglich werde, während die Staatswerdung beim Menschen unendlich schwieriger sei, » weil dieser seine Sexualität nicht aufgibt und damit seinen ganzen rebellischen Individualismus behält «. Freilich erscheint die große romantische Liebe in den Zeiten totalitärer Herrschaft so armselig und kümmerlich wie jede andere Lebensäußerung: » No emotion was pure, because everything was mixed up with fear and hatred. Their embrace had been a battle, the climax a victory. It was a blow against the Party. It was a political act « (S. 116). Nur in der Flüchtigkeit einer Geste gewinnt diese erotische Liebe einen Hauch von Authentizität: in » that magnificent gesture with which she [Julia] had thrown her clothes aside. With its grace and carelessness it seemed to annihilate a whole culture, a whole system of thought, as though Big Brother and the Party and the Thought Police could all be swept into nothingness by a single splendid movement of the arm « (S. 30 f. 114, 252 f.) Wieder ist es nur eine Armbewegung und wiederum sind es notwendigerweise die Arme einer Frau. Die Bewegungen gehen in entgegengesetzte Richtungen: die bedeckende, sorgende und schützende Geste (care) der Mütterlichkeit erscheint rührend hilflos, defensiv und ohnmächtig; die erotische Geste der liebenden Frau erscheint in der Gegenbewegung des sorglosen Entblößens und Preisgebens ( » carelessness « ) (täuschend) mächtig.

Dieses Motiv der Verwerfung der Zivilisation in einer ephemeren Bewegung des schönen menschlichen Körpers verbindet sich mit dem Traum von der schönen äußeren Natur, dem locus amoenus des » Golden Country « . Es ist ein ebenso wiederkehrendes Element des Romans (S. 30 f., 113 f., 249, 252 f.) , wie das Motiv des » obvious « . G anz am Ende, nachdem Winston Smith den Kampf um seinen Verstand, sein Festhalten am einfachen Kalkül von zwei plus zwei, am Objektiven und Offensichtlichen bereits aufgegeben hat ( » Now he had retreated a step further: in the mind he had surrendered (…) he knew that he was in the wrong, but he preferred to be in the wrong « , S. 253), kehrt es noch einmal zurück, allerdings nur in der völlig verrückten Welt eines vergifteten Traums, » in the delirium induced by drugs « . In diesem Zustand erlebt der Held den Höhepunkt seiner Liebe: » In that moment he had loved her far more than he had ever done when they were together and free « ; die Vollkommenheit der erotischen Verschmelzung mit einem anderen Selbst: » She had seemed to be not merely with him, but inside him. It was as though she had got into the texture of his skin « (S. 253). An dieser Stelle ist der Höhepunkt seiner Rebellion gegen das Regime erreicht, der Höhepunkt von Wahrheit und Verrücktheit gleichermaßen. An diesem Punkt ringt Winston Smith nicht nur um seinen Verstand, sondern um seine Identität und wird diese im room 101, in jenem letzten Exzess der Gewalt, ebenso verlieren wie vorher schon jenen.

Nach 1948

Der pessimistische Autor, 1948 dem Tod schon nahe, lässt seinen Roman mit dem Triumph des totalitären Regimes enden. Und doch spielt sich dieser Sieg gleichsam nur auf der Vorderbühne ab. Gerade aufgrund der äußersten Konsequenz, mit der Orwell das totalitäre Prinzip der Herrschaft des ganzen Subjekts zu Ende denkt, indem er es siegen lässt, erzählt er im Hintergrund vom Ende dieses Irrwegs. Der Versuch, die totalitäre Doktrin: » Outside man there is nothing« durchzusetzen, endet in absurden Verkehrungen ins Gegenteil – und letztlich im Untergang des Totalitarismus.

Der Versuch, einen beliebigen, subjektiven Willen über die Wirklichkeit zu stellen, führt nicht nur zu einer Subjektivierung, Verbeliebigung der Wirklichkeit, sondern löst geradezu einen Furor des Verschwindens aus. Die Anstrengung, die Herrschaft des Regimes als total, als in sich geschlossen und ewiggültig erscheinen zu lassen, zieht die Notwendigkeit nach sich, die Vergangenheit permanent umzuschreiben, ja immer wieder neu zu erfinden: » The past not only changed, but changed continuously« (S. 73), » history is continuously rewritten« (S. 192). Auch die Wirklichkeit des großen Subjekts löst sich infolge seiner Verabsolutierung auf: Je allmächtiger und allgegenwärtiger das Bild des Führers erscheint, desto fraglicher ist seine Existenz. Wenn die Unsterblichkeit des großen Bruders behauptet wird, muss bezweifelt werden, ob er überhaupt geboren wurde (S. 188) und so bleibt der Diktator hinter der Omnipräsenz seines überlebensgroßen Bildes ein Phantom ohne Identität, ohne Eigennamen, die leere Ikone einer anonymen Partei. Das absolute Subjekt ist schließlich so gleichgültig wie sein nichtiges Pendant: Ist dieses ständig von Vernichtung bedroht, so ist jenes von vornherein inexistent. Hinter der Personalisierung der Herrschaft kommt ihre Anonymität zum Vorschein. U nter der eisernen Faust der Diktatur sind die » kalten Skeletthände rationaler Ord­nung « längst am Werk. Die Herrschaft des Kalküls konterkariert und unterminiert die Herrschaft der Willkür und wird sie auf lange Sicht entweder zur Aufgabe oder zu Fall bringen.

Die Unterdrückung der inneren Welt der Subjektivität hat nicht weniger monströse Folgen als die Unterdrückung der äußeren Realität. Um die Einheit des ganzen Subjekts zu behaupten, reicht es nicht aus, das kleine Ich zu töten, es darf im Grunde nie existiert haben: »You will be lifted clean out from the stream of history (…) You will be annihilated in the past as well as in the future. You will never have existed« (S. 230). Da das kle ine Ich aber nun einmal existiert, kann seine nahtlose Deckungsgleichheit mit dem großen Ich durch Tortur und Tod nicht bewirkt werden; es bedarf vielmehr der bedingungslosen Hingabe . Es ist kein Zufall und mehr als bloß oberflächliche Propaganda, wenn das Regime von seinen Untertanen Liebe zum großen Bruder verlangt. Gewiss gibt es keine Form menschlicher Vergesellschaftung bzw. politischer Herrschaft, die einerseits ohne ein gewisses Maß an Zustimmung, also freiwilliger Unterordnung auskäme, und andererseits gänzlich auf Zwang, also physische und psychische Gewaltandrohung/-anwendung zu ihrer Durchsetzung verzichten könnte. Bei totalitärer Herrschaft findet eine Überschreitung in beide Richtungen statt; es geht nicht um Gefolgschaft und Gehorsam, weder um freiwillige Unterordnung noch erzwungene Unterwerfung, es geht um Konversion und Identifikation, um die vollkommene Einheit, die eigentlich kein gesellschaftliches Verhältnis, sondern ein Liebesverhältnis ist . Denn nur als Liebe lässt sich eine vollkommene, symbiotische Verschmelzung zwischen zwei Subjekten vorstellen. Der Versuch, Liebe zu erzwingen, mündet in Vergewaltigung. Die spezifisch totalitäre Art von Gewalt, die Absicht, das Innere zu durchdringen (» to get inside you«, » to capture the inner mind« , S. 231), die Herrschaft nicht nur über das Denken, sondern auch über das Fühlen zu erlangen (» the inner heart« , S. 151), trägt Züge von Vergewaltigung. Der Absolutheitsanspruch des Subjekts kippt in eine pervertierte Subjektivität um, die in einem Exzess von Gewalt und Tod untergeht.

Gegen meine These, dass Totalitarismus auf die vollkommene Herrschaft des Subjekts, des spezifisch modernen Subjekts, des sakralisierten oder ganzen Subjekts zielt, lasse ich den Einwand gelten, dass die totalitären Regime in der historischen Wirklichkeit selbstverständlich niemals so rein und vollkommen philosophische Ziele verfolgt haben, wie es die Herrschaft des Subjekts ist, die Orwell beschreibt. Ich mache allerdings geltend, dass in diesem Fall (und wie auch sonst nicht so selten) die Fiktion das Wesen der Sache besser trifft als je eine Wirklichkeit. Dieser Tatsache verdankt Orwells Roman seine Prominenz.

Ein totalitäres Regime kann Einzelne töten, es kann Millionen von Einzelnen vernichten, aber es kann keine stabile Ordnung herstellen. Die totalitäre Sakralisierung des Subjekts scheitert am Widerstand der Sachen, an der Geltung rationaler Gesetzmäßigkeiten, die sich der Willkür nicht beliebig beugen, ebenso wie am Widerspruch der Menschen, die das auch nicht tun. 1948 ist das Ende des Faschismus erreicht, der Untergang des Stalinismus steht kurz bevor. Das große Subjekt der totalitären Regime stirbt, Millionen kleiner Subjekte unter sich begrabend. Bis 1984 (bzw. 1989) wird der Rest der auf Personenkult gegründeten Führersysteme von der Bildfläche verschwinden. Wir mögen für die Zukunft viel zu fürchten haben, aber wohl kaum die Rückkehr dieser Herrschaftsform. Das ihr zugrunde liegende Subjektkonzept ist alten Vorstellungen personaler Herrschaft, dem Modell des göttlichen Pancreators und seiner eingesetzten oder selbsternannten Stellvertreter gefolgt. Seit Gott tot ist, beginnt das langsame Sterben des sakralisierten, ganzen Subjekts. Das moderne Gesellschaftssystem kann nur als anonymer, sachlicher Mechanismus funktionieren. Der Versuch, es subjektförmig zu machen, ist gescheitert.

Die unter modernen Voraussetzungen unumgängliche Entpersonalisierung der gesellschaftlichen Funktionszusammenhänge setzt sich durch. Die » Anonymisierung der Macht, das heißt ihre Ablösung von einem zur Herrschaft legitimierten und begrenzten Kreis von Personen « führt zu einer » Emanzipation des Eigentums vom Eigentümer « ebenso wie zur » Emanzipation der Macht vom Machthaber « . Mit anderen Worten, sowohl der Ort der ökonomischen als auch der politischen Macht ist leer: » In post-historical society, the rulers have ceased to rule (…) « . Allerdings bedarf a uch das anonyme System der Akteure, und die Anonymisierung der Macht bedeutet keineswegs das Ende der Herrschaft von Menschen über Menschen. Was stattfindet, ist eher ein Wechsel von Vordergrund und Hintergrund. Während hinter dem Götzenbild des Großen Bruders die auf die Prinzipien von Kalkül und Effizienz gegründete Herrschaft des rationalen Sachzwangs längst am Werk war, bleiben unter dem cash nexus als Grundlage aller Beziehungen die alten personalen Hierarchien von Oben, Mitte und Unten erhalten, gerade so wie »since the end of the Neolithic age« (S. 181 ff.). Denn das anonyme System der Funktionszusammenhänge bedarf nicht nur schlechthin der Akteure, sondern es plaziert diese nach wie vor auf ungleiche Weise nach den Hinsichten von oben und unten, innen und außen – obgleich sich solche Hierarchisierungen aus den Prinzipien der Rationalität kaum erklären, geschweige denn legitimieren lassen. Statt wie in der Vergangenheit mit einer » kollektiven Oligarchie«, die historisch unterschiedlich als Stand oder Klasse organisiert war, haben wir es in der Gegenwart mit so etwas wie einer »entstrukturierten, globalen Oligarchie« zu tun. Ich muss zugeben, dass ich an diesem Punkt eher zu verstehen meine, »why« als »how«.


Anmerkungen

Stuart Hall, »The Question of Cultural Identity « , in: Stuart Hall / David Held / Anthony McGrew (eds.), Modernity and Its Futures, Cambridge/Oxford 1992, S. 290.

George Orwell, Nineteen Eighty-Four, edited by Ronald Carter / Valerie Durow, London: Penguin Student Editions 2000. Seitenzahlen im Text ohne weitere Angaben beziehen sich auf diese Ausgabe.

David Held / Anthony McGrew, »The Great Globalization Debate: An Introduction«, in: David Held / Anthony McGrew (eds.), The Global Transformations Reader, Cambridge 2000, S. 20.

Johannes Berger, »Modernitätsbegriffe und Modernitätskritik in der Soziologie«, in: Soziale Welt, Jg. 39/ 1988, S. 226.

Dieter Rucht, Modernisierung und neue soziale Bewegungen: Deutschland, Frankreich und USA im Vergleich, Frankfurt a.M. 1994, S. 43.

Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 1985, S. 31.

Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, a.a.O., S. 307.

Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, a.a.O., S. 308.

Peter Bürger, Prosa der Moderne, Frankfurt a.M. 1988, S. 13.

Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1989, S. 158. (Hervorhebungen C.K.)

Niklas Luhmann, »Die Moderne der modernen Gesellschaft«, in: Ders., Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 11-49, zit. S. 30.

Claude Lefort, »The Permanence of the Theologico-Political? «, in: Ders., Democracy and Political Theory, Minneapolis 1988, S. 225.

Claude Lefort, »The Image of the Body and Totalitarianism « , in: Ders., The Political Forms of Modern Society, Cambridge 1986, S. 303 f.

Lefort, The Image of the Body and Totalitarianism, a.a.O., S. 304.

Lefort, The Image of the Body and Totalitarianism, a.a.O., S. 303 f.

John Gray, Enlightenment’s Wake: Politics and Culture at the Close of the Modern Age, London/New York 1995, S. 146.

Stuart Hall, »The Local and the Global: Globalization and Ethnicity«, in: Anne McClintock / Aamir Mufti / Ella Shohat (Eds.), Dangerous Liaisons: Gender, Nation, and Postcolonial Perspectives, Minneapolis: University of Minnesota Press 1997, S. 175.

Lawrence Cahoone, »Being Alone in the Modern Civitas « , in: Leroy S. Rouner (Ed.), Loneliness, University of Notre Dame Press 1998, S. 203 f.

Niklas Luhmann, »Individuum, Individualität, Individualismus«, in: Ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, a.a.O., S. 212.

Ebd.

Ebd.

Alois Hahn, Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte, Frankfurt a.M. 2000, S. 194.

Siehe oben Fußnote 7.

»The solid world exists, its laws do not change. Stones are hard, water is wet, objects unsupported fall towards the earth’s center.« (S. 74)

Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1981, S. 38.

Das ist Winston Smiths Intuition in seiner Auseinandersetzung mit O’Brien: »It is impossible to found a civilisation on fear and hatred and cruelty. It would never endure (…) It would have no vitality (…) It would commit suicide (…) Life will defeat you.« (S. 243 f.)

Siehe oben.

Vom aus der Realität verschwundenen Schönen sind nur noch ebenso kümmerliche Reste vorhanden wie 2 + 2. Da ist z.B. Winston Smiths Tagebuch (S. 9) und der Briefbeschwerer aus Glas: »It’s a beautiful thing.« (S. 86 f.)

Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, a.a.O., S. 51 ff.

Und an dieser Stelle tritt noch eine Frau in Erscheinung: »but a woman down in the prole part of the house suddenly started kicking up a fuss« (S. 11). Die Frage, ob es eine Hoffnung auf den Widerstand, einen Aufstand des Proletariats gegen das herrschende Regime geben kann oder nicht, wird Winston Smith fast den ganzen Roman hindurch – ergebnislos – befassen. Der einzige Hinweis auf einen wirklich stattfindenden Protest, findet sich in diesem Zusammenhang; es ist diese Frau aus dem Proletariat, »shouting they didn’t oughter of showed it not in front of kids« (S. 11).

Hervorhebungen C.K.

Gemeinsam mit der Geliebten wird er im zweiten Teil der Geschichte den Mut zum Handeln finden, den Mut, mit O’Brien in Kontakt zu treten, was ihm allein im ersten Teil des Romans als »inconceivably dangerous« erschienen war (S. 19).

Danilo Martucelli, » Subjectivité et expérience amoureuse «, in: Dubet, François / Wieviorka, Michel (Eds.), Penser le sujet. Autour d’Alain Touraine. Colloque de Cerisy, Paris 1995, S. 161.

Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes (1938), Köln 1982, S 58.

Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen 1963, Band I, S. 560 f.

Es ist bezeichnend, dass der Höhepunkt der Gewalt nicht durch eine weitere Steigerung des maschinell erzeugten physischen Schmerzes (vgl. S. 222) bewirkt wird, sondern aus dem perfiden Wissen des Regimes um die jeweils dem Individuum eigenen Ängste und Phobien resultiert.

Helmuth Plessner, Die Emanzipation der Macht, in: Ders., Gesammelte Schriften V: Macht und menschliche Natur, Frankfurt a.M. 1981, S. 279.

Perry Anderson, A Zone of Engagement, London 1992, S. 280; Lutz Niethammer, Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende? Reinbek 1989, S. 156.

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Transit – Europäische Revue, Nr. 28/2004

Erinnerungen an 1984