Vitalij Portnikow: Wir werden niemals Brüder sein.

Chronicle from Belarus
Authors:
Vitalij Portnikow

In Kiew, der Hauptstadt jenes Landes, dessen Abgeordnete als Zeichen der Solidarität mit dem belarussischen Volk ein weiß-rot-weißes Transparent im ganzen Sitzungssaal verteilt haben, löst dieser Appell von Alexijewitsch außer Unverständnis keine Emotionen aus. Welche Brüder? Warum sollte man überhaupt auf die Idee kommen, dass die belarussische Protestbewegung Sympathie in der russischen Gesellschaft wecken könnte, wenn [der belarussische Präsident] Alexander Lukaschenko jahrzehntelang in derselben Gesellschaft als Garant dafür wahrgenommen wurde, dass sich Belarus nicht von Russland löst? Und kann die belarussische Opposition garantieren, dass Belarus nirgendwo hingeht, nicht in den Westen abdriftet, nicht anfängt, mit dem eigenen Kopf zu denken?

Schließlich sind ehrliche Wahlen nur der erste Schritt zu einem solchen Abdriften; in Russland hat man sich davon schon mehrmals überzeugt, und zwar sowohl im Hinblick auf die baltischen Staaten und die Ukraine als auch die Länder des ehemaligen Warschauer Paktes[1]. Und wo Diktatoren sind, wo Menschen geschlagen, vergewaltigt, entführt, getötet werden – dort ist alles in Ordnung, dort sind Brüder. Keine Blutsbrüder, aber im Verhältnis zu den Menschen. Der Kreml würde alle „auf eine Flasche setzen“ [gemeint: quälen und erniedrigen], damit sie nicht vor seiner sündigen Liebe davonlaufen, aber dafür gibt es nicht genug Behälter.

Aber andererseits ist diese Einstellung gegenüber Alexijewitschs Worten ein Ergebnis der schmerzvollen ukrainischen Erfahrung. Die Ukrainer haben ja von der russischen Gesellschaft auch eine Unterstützung des Maidan 2013-2014 erwartet und nicht verstanden, wie man nicht mit Menschen sympathisieren kann, die sich gegen Autoritarismus und Diktatur stellen. Und sie [die Ukrainer] haben auch die Lügen der russischen Fernsehsender übelgenommen.

Ich erinnere mich an ein Treffen auf einer Bühne auf dem Maidan nach einem denkwürdigen Auftritt unseres aufrichtigen Freundes, des US-amerikanischen Senators John McCain. Wir wollten nicht, dass Auftritte amerikanischer Kongressabgeordneter auf dem Maidan und McCains Rede als eine Aktion gegen Russland wahrgenommen werden. Ich sprach damals auf dem Maidan Worte der Solidarität mit den demokratischen Bestrebungen des russischen Volkes und des belarussischen Volkes. Das war nicht meine persönliche Meinung. Es war unsere gemeinsame Entscheidung – aller jener, die damals den Protest [auf dem Maidan] koordiniert haben. Aber wurden unsere Bemühungen gewürdigt? Hat etwa die Mehrheit der Menschen in Russland uns geglaubt anstatt ihren verrückten Fernsehkanälen? Gab es nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine [ab Februar 2014] genug Menschen, um das eigene menschenverachtende Regime zu stoppen – es ging doch um einen Angriff auf die „Brüder“? Ist Putins Popularität nach der Besetzung der Krim gesunken? Nein, sie nahm nur zu, die meisten Russen billigten diesen widerlichen Diebstahl, diese Gewalt gegen das Völkerrecht, gegen unser Land, gegen die Bevölkerung der Krim. Und haben etwa weniger Russen – selbst demokratisch gesinnte, selbst aus der Opposition zu Putins Regime – die Halbinsel nach der Besetzung besucht und damit stillschweigend das Verbrechen ihrer eigenen Führung legitimiert? Ich rede schon gar nicht mehr von der Tatsache, dass die meisten Russen den Krieg im Donbass immer noch nicht als solchen wahrnehmen.

Und vor dem Hintergrund alles dessen kam das berühmte Lied „Wir werden niemals Brüder sein“[2] ins Spiel. Ja, wir werden auch nach dem Zusammenbruch der Putin-Diktatur und einer russischen Entschuldigung für deren Verbrechen auf demselben Kontinent koexistieren können. Aber der Mythos der Brüderlichkeit wurde zerstört. Für immer.

Die Belarussen haben das alles nicht durchgemacht. Und wahrscheinlich hätten sie denken können, dass das mit ihnen gar nicht erst passieren würde. Schließlich sind sie echte Brüder, nicht wie die Ukrainer. So viele Ukrainer dachten 2014 irgendwie, dass ihnen nicht das Gleiche passieren würde wie den Georgiern. Und die Georgier konnten 2008[3] denken, dass ihnen nicht das passieren würde, was den Tschechen [1968] und Ungarn [1956] passiert ist. Es ist natürlich nicht klar, warum. Aber es war für jede Nation bequem, in der Hülle ihres eigenen imperialen Mythos zu existieren – bis zu dem Tag, an dem das Imperium selbst diese Hülle zerbrach.

Jetzt sind die Weißrussen an der Reihe. Aber wenn ich Swetlana Alexijewitsch wäre, würde ich mich nicht allzu sehr aufregen. Man muss sich nur der Realität bewusst sein. Es hat nie Brüder gegeben. Es gab nur schöne Worte, die die faktische Besetzung ihres Landes [d.h. von Belarus] verschleierten. Und es gab eine [russische] kulturelle Expansion, die zur Marginalisierung der belarussischen Sprache und Kultur sowie des Selbstverständnisses des belarussischen Volkes führte. Jetzt, nachdem sie diese Schale aufgebrochen haben, können sich die Belarussen viel leichter fühlen, können ihr eigenes Land und ihr eigenes Leben aufbauen. Das aber natürlich nur, wenn sie ihre Freiheit verteidigen. Und ich wäre auf die russische Intelligenzija – oder besser gesagt: den Teil von ihr, der es gewohnt ist, dem Kreml zu dienen – nicht einmal allzu sehr sauer. Wenn man noch berücksichtigen kann, dass diese „Intelligenzija“ die Ukrainer liebt, wenn sie Gopak tanzen, und sie hasst, wenn sie auf den Maidan gehen, dann hat diese „Intelligenzija“ die Weißrussen erst gar nie beachtet.

[1] Ein 1955 bis 1991 bestehendes Militärbündnis der UdSSR mit ihren westlich angrenzenden kommunistischen „Bruderstaaten“, Anm. d. Übers.

[2] Titel eines 2014 entstandenen Gedichts der Ukrainerin Anastasija Dmytruk.

[3] Damals marschierten russische Truppen in Georgien ein, und Moskau erkannte die separatistischen Provinzen Abchasien und Südossetien als „unabhängige Staaten“ an.

 

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