“Es geht jetzt um die demokratische Zukunft von Belarus”. Interview mit der Philosophin Olga Shparaga

Chronicle from Belarus

Die gegenwärtige Situation in Belarus ist völlig neu, weil sich seit 1991 noch nie so viele verschiedene soziale Gruppen aktiv an Protesten beteiligt haben. Am 16. August hat die Teilnahme an den Protesten einen neuen Rekord in der jüngeren Geschichte unseres Landes erreicht: etwa eine halbe Million Menschen haben in ganz Belarus protestiert (vgl. z.B.: https://www.facebook.com/EAST.Research.Center/posts/2829517007271133). Die Experten im Lande sprechen auch von einer Regionalisierung der Proteste, und diesen Eindruck teile ich. Ich habe beispielsweise persönlich an einem Meeting in Brest teilgenommen, was mich und viele Leute sehr froh gestimmt hat.

Eines der wichtigsten Gefühle ist aber auch das Entsetzen (отчаяние) – und ich denke dabei natürlich an Patockas „Solidarität der Erschütterten“. In vielen, wenn nicht den meisten Fällen ist dieses Entsetzen größer und stärker als die Angst, offen zu protestieren. Entsetzt sind die Menschen, weil Lukaschenko und seine Bürokraten sie jahrelang beleidigt haben, was die jüngste Entwicklung im Zusammenhang von Covid 19 einmal mehr gezeigt hat. Nach der Gewalt in den Tagen und Nächten vom 9. bis 11. August ist die Gruppe der Menschen, die Angst haben, noch kleiner geworden. Es scheint, dass wir es mit einem Wendepunkt zu tun haben, der die Gesellschaft so verändert, dass eine Rückkehr nicht mehr möglich ist.

Wie bist Du persönlich in die Proteste involviert? Du hast Dich besonders für eine Initiative von Frauen engagiert: wie wichtig sind gerade die Frauen für die gegenwärtigen Entwicklungen?

Stark – als Philosophin und Autorin, als Teilnehmerin in verschiedenen Gruppen, die Ideen für die Aktionen produzieren, als Volontärin in meinem Wahlbezirk und natürlich als Teilnehmerin von Meetings.

Am 14. Juni wurde die Kunstsammlung der Belgasprombank beschlagnahmt, die unter dem Titel „Pariser Schule“ firmiert, d.h. eine Sammlung von jüdischen Malern, die Anfang des 20. Jahrhunderts aus dem Territorium des heutigen Belarus nach Frankreich emigrierten. Die Sammlung wurde von Viktor Babariko – einem der Kandidaten bei diesen Wahlen, der sich seit dem 18. Juni im Gefängnis befindet – angekauft, als er diese Bank leitete, und im Palast der Künste öffentlich präsentiert. „Eva“ von Chaïm Soutine aus dem Jahr 1928 ist zu einem Symbol der Proteste geworden, eine Entwicklung, die ich über Facebook und durch meine Aussagen für die nicht-staatlichen Medien unterstützt habe. Ich habe auch die ganze Zeit ein T-Shirt mit einer der Variationen von „Eva“ getragen.[1] Auf Facebook wurden die Aussagen unter dem Hashtag #evalution gesammelt.

Und ich habe „Eva“ ganz konkret auch durch den Beitrag und die entscheidende Rolle der Frauen interpretiert. Die Frauen waren immer dabei, bei den Wahlen und in den NGOs, aber meistens unsichtbar, sozusagen von Männern geleitet. #evalution ist zum Symbol unserer Sichtbarkeit geworden. Und ich glaube, dass #evalution auch dazu beigetragen hat, dass nach einem Monat, am 16. Juli, die vereinte Bewegung und der gemeinsame Stab der drei Frauen für die Kandidatin Svetlana Tichanovskaja entstanden ist, um den sich bis jetzt die Proteste sammeln: Svetlana Tichanovskaja hat als Präsidentin kandidiert, weil ihr Mann, der kandidieren wollte, verhaftet wurde, Maria Kolesnikova leitete den Stab von Viktor Babariko und Veronika Zepkalo repräsentiert ihren Mann, der auch kandidierte, aber aus Belarus geflohen ist.

Es wäre eine lange Debatte, wie sich diese Frauen in Politikerinnen verwandelt haben und wie schnell es ihnen gelungen ist, ihre Kräfte zu vereinen, was unsere Opposition früher nie geschafft hatte. Natürlich stimmt es, dass sie gleichwohl verschiedene Positionen (re-)präsentieren – als Feministin bezeichnet sich nur Maria Kolesnikova. Aber das wichtigste dabei ist, dass ihre gemeinsame Strategie – eine gewaltlose, kreative Strategie, vermittelt vor allem über das Internet – von Lukaschenko nicht ernst genommen wurde. Die Gesellschaft hat sie aber ernst genommen! Maria Kolesnikova mit ihrer Gruppe „Honest People“ hat immer wieder betont, dass wir nur alle zusammen, als aktive und vernetzte Bürgerinnen, organisieren, kämpfen und siegen können. Wir, alle zusammen, sind die Akteure dieser Veränderungen. In diesem Sinn haben das Patriarchat, die Gewalt und die Hierarchie an Macht verloren, die „Kraft der Schwachen“ aber an horizontaler Aktivität und Vernetzung gewonnen.[2]

Social media haben in den Revolutionen dieses Jahrhunderts eine wichtige Rolle gespielt (z.B. Arab Spring, Maidan, Occupy). Zugleich haben die Regime aber gelernt, darauf zu antworten und diese Waffe umzudrehen, d.h. Nachrichten abzufangen, Nutzer zu identifizieren, etc. Welche Rolle haben die social media jetzt in Belarus gespielt, und das unter den erschwerten Bedingungen einer weitgehenden Internet-Sperre?  

Enorm wichtig, das ist natürlich ein ganz großes und eigenes Thema. Die Proteste sind dezentralisiert, die Telegram-Kanäle spielen dabei eine zentrale Rolle. Es geht vor allem über NEXTA, aber auch über die Telegram-Kanäle der größten belarussischen Medienportale, wie z.B. tut.by oder nn.by. NEXTA hat im Moment über 2 Millionen Abonnenten, die Gruppe der User ist in der letzten Woche 6-mal größer geworden. Der Kanal wird von Belarussen aus Warschau organisiert und sammelt sowohl Videos als auch Fotos von tausenden von Leuten, so dass die Proteste an jedem Tag anhand der gesammelten Materialen dokumentiert, aber auch organisiert und vorbereitet werden.

Aber auch eine Medieninitiative wie „Honest People“, die ich schon erwähnt hatte, initiiert vom Babariko-Stab, spielt eine wichtige Rolle. Über verschiedene Apps werden dank dieser Initiative Fotos von Bulletins oder anderen Dokumenten verbreitet und neue Symbole geschaffen, z.B. die weißen Armbänder, die den Leuten helfen, politisch aktiv zu sein und sich zu vernetzen, aber auch an aktuelle Informationen zu kommen, diese zu sammeln und weiterzugeben.

Im Westen zieht man jetzt oft den Vergleich zur Ukraine im Jahr 2014: Ist der Maidan ein Vorbild oder gibt es auch ganz bewusst andere Akzente des Protests in Belarus?

Ja und nein. Einerseits ist die Situation in Belarus in dem Sinne anders, dass wir gegen ein autoritäres Regime kämpfen, das seit 26 Jahren an der Macht ist. Die Politologin Natallia Vasilevich hat Videos von Demonstrationen analysiert und festgestellt, dass die wichtigsten Worte „Recht“ und „Konstitution“ sind. Die Menschen in Belarus haben sich für das demokratische Instrument der Wahlen ausgesprochen. Erst nach den Gewalttaten des Lukaschenko-Regimes vom 9. bis 11. August, also nach den „Wahlen“, erfolgte eine Positionierung auch gegen die Staatsgewalt und deren Folter. In diesem Sinn interpretiere ich die Proteste als Aussagen für die Demokratie und für eine echte, nicht nur formale Republik – als die gemeinsame Sache der Bürgerinnen von Belarus. Zweitens geht es in Belarus zurzeit, anders als in der Ukraine 2014, kaum um eine geopolitische Wahl. Latent sind die Proteste pro-europäisch, weil das Frauen-Trio die ganze Zeit über von Belarus als einem europäischen Land spricht. Aber dies nicht als Gegenpol zu Russland. Deswegen sind Fragen der nationalen Identität im Moment weit weg, die nationalen Mythen und Helden spielen kaum eine Rolle, und die Symbole, die auf diese Mythen verweisen, sind eher Alternativen zu den Symbolen des Lukaschenko-Regimes und verweisen kaum auf Geschichte und Vergangenheit. Für mich geht es jetzt um die demokratische Zukunft von Belarus in einem post-nationalen Sinne.

Andererseits wurde die letzte Revolution in der Ukraine als „Revolution der Würde“ bezeichnet. Und in diesem Sinn kann man sie mit unserer Revolution vergleichen. Mit den Worten des belarussischen Klassikers Janka Kupala wollen die Menschen in Belarus, als „Menschen bezeichnet und angesprochen werden“ (людзьмі звацца / людьми зваться). Diesen Satz sieht man immer wieder auch auf den Plakaten.

Am Freitag (14.8) wurde in den westlichen Medien auch mit Fotos über die Folterungen berichtet, denen Inhaftierte in den Verhören ausgeliefert waren: Hast Du Erfahrungen aus dem eigenen Umfeld?

Persönlich nicht, wir sind nur ein paarmal mit meinem Mann und anderen Menschen vor der Miliz (OMON) geflohen. Aber meine Nachbarn und Freunde wurden zu Opfern. Mindestens 76 Leute wurden bis jetzt überhaupt nicht gefunden! Nach verschiedenen Schätzungen wurden 7500 Menschen verhaftet und gefoltert. Das ist unglaublich! Ich sage jetzt, dass von diesem staatlichen Terror mehr Leute betroffen sind als von Covid 19, so fühlt man es zumindest, weil jetzt jede und jeder einen solchen gefolterten Freund oder Nachbarn hat.

Wie ordnest Du die überraschende Wendung ein, dass nach einer Verhaftungswelle in der vergangenen Woche dann vor dem Wochenende ca. 2000 Inhaftierte wieder aus den Gefängnissen entlassen wurden? Dies könnte als ein bloß taktisches Manöver des Regimes verstanden werden, das international um seine Reputation fürchtet. Aber es ist auch ein großer Erfolg für die Protestbewegung. Wie wurde es in Belarus selbst aufgefasst? 

Im positiven Sinne. Eine große Rolle haben dabei wieder die Frauen gespielt: Am 12. August hat eine Gruppe von Frauen eine Performance in weißen Kleidern im Zentrum der Stadt veranstaltet,[3] am Abend kam eine weitere Performance von Frauen dazu. Die Frauen wussten tatsächlich nicht, ob sie nach Hause kommen werden, so grauenhaft war die Situation… 

Am nächsten Tag standen schon tausende von Frauen in verschiedenen Teilen der Stadt in den Ketten der Solidarität die Straßen entlang, und nicht nur in Minsk. Die Frauen wurden nicht festgenommen. Sowohl das als auch der Neustart des Internets – das vom 9. abends bis zum 11. den ganzen Tag über sehr, sehr eingeschränkt war (die Telegram-Kanäle konnten wir ab und zu per Proxy ansehen) – und damit die Fotos der gefolterten Leute gaben den Protesten neue Impulse, so dass am 16. August in Minsk zwischen 100.000 und 200.000 (manche sagen sogar über 500.000) und außerhalb von Minsk nochmal zwischen 100.000 und 300.000 Menschen friedlich protestierten.[4] Am Montag folgten dann Streiks in mehreren der größten Werke in Belarus, die Arbeiter wollten mit Lukaschenko nicht sprechen, und Menschen aus allen gesellschaftlichen Bereichen protestieren weiter.

Leider scheint es, dass sich die EU ähnlich zögerlich und unentschieden verhält, wie wir das schon in der Ukraine erlebt haben. Spielt Europa in den Hoffnungen und konkreten Erwartungen der Protestbewegung überhaupt noch eine Rolle?

Wie schon erwähnt, hatten geopolitische Fragen bei den Manifestationen vor dem 9. August kaum eine Rolle gespielt. Aber jetzt ist Svetlana Tichanovskaja in Vilnius, und das ist gut so, weil sie dort dem Zugriff Lukaschenkos entzogen ist. Am Montag, 12. August, hat sie sich als nationalen Leader bezeichnet. Das wollen auch die Leute in Belarus, das ist sehr wichtig.

Dazu hat ab 15. August Lukaschenko seinerseits davon gesprochen, dass Russland im Rahmen des Vertrages beider Länder über die „kollektive Sicherheit“ Belarus vor der westlichen Intervention verteidigen solle. Am Montag, hat er das noch einmal erwähnt, aber nur er und nicht Putin. Das macht vielen Menschen Sorgen.

Und die EU bekommt in diesem Kontext eine neue und wichtige Rolle. Ich freue mich sehr darüber, dass das Europäische Parlament die Präsidentschaft Lukaschenkos nicht anerkannt hat. Der nächste Schritt wäre die Anerkennung von Tichanovskaja, wenn nicht als Präsidentin von Belarus, dann als legitime Führungsfigur der belarussischen Gesellschaft. 

Sehr wichtig wäre seitens der EU auch eine Hilfe für die Rehabilitation der betroffenen Menschen – medizinische, psychologische usw. Und natürlich Unterstützung in vielerlei Hinsicht bei weiteren politischen und ökonomischen Transformationen (und nicht nur im neoliberalen Sinn, der leider für viele Oppositionelle in Belarus eine Orientierung ist).

Neben der EU ist auch die Rolle Russlands entscheidend: Was erwartet sich die Opposition von Russland? Oder was befürchtet sie von Russland, das sich bisher ebenfalls abwartend verhält?  Könnte es zu einem Wechsel an der Spitze beitragen oder wird es Lukaschenko helfen, seine Macht zu halten? Jüngst hat Lukaschenko ja Putin um Unterstützung gebeten, mit dem Argument, dass sonst der Funke nach Russland überspringen könnte…

Wenn man über die Rolle Russlands nachdenkt, komme ich zum selben Schluss wie die Experten Vladimir Milov in Russland oder Artyom Shraibman in Belarus: Russland kann kein Interesse an einer Intervention haben – diese würde zum Anwachsen der antirussischen Stimmung in Belarus führen, die es zur Zeit nur in bestimmten Bereichen der Gesellschaft gibt. Wenn Putin Lukaschenko unterstützt, werden die Proteste nicht enden. Was sollte Putin davon haben? Aber das sind logische Argumente, die im Falle Putins nicht immer oder sogar kaum die treibende Kraft sind…

Was den liberalen Teil der russischen Gesellschaft anbetrifft, so erfahren wir von dort Bewunderung und Unterstützung für unsere Revolution, und das freut uns natürlich.  

Bei Revolutionen, Aufständen und Protestbewegungen ist immer entscheidend, wie das gewonnene Momentum in nachhaltige Strukturen umgewandelt werden kann. Wie lange kann der Druck der Straße in Belarus noch aufrechterhalten werden, und gibt es Pläne für danach?

Die Streiks und Proteste im ganzen Land gehen weiter. Es entstehen neue Organisationsformen, wie z.B. Streik-Komitees in einzelnen Fabriken und Unternehmen. Auch der neue Koordinationsrat kann eine wichtige Rolle spielen (ich wurde ebenfalls für diesen Rat ausgewählt) . Aber ich mache mir natürlich Sorgen, was danach kommt.

Lukaschenko hat verkündet, dass er nicht weichen wird – selbst wenn es ihn das Leben kostet. Am Sonntag hat er vor speziell ausgewählten Unterstützern am Regierungsplatz gesprochen und sah dabei aus wie Adolf Hitler. Aber Worte und Realität sind auch in seinem Fall nicht immer dieselbe, und man weiß nicht, was er weiter tun wird.

Und falls er nicht weggeht, wird es sich in Richtung einer Doppelherrschaft entwickeln. Man braucht dann in allen Sphären eine Bildung von alternativen Machtorganen. Für die demokratische Zukunft ist auch das sehr wichtig, weil es um Selbstverwaltung geht. Viel hängt auch davon ab, wie sich Svetlana Tichanovskaja entscheidet. Sie kann zur Beschleunigung der sozialen und politischen Prozesse stark beitragen.  

Ich hoffe auch sehr darauf, dass diese Revolution ihr weibliches und feministisches Gesicht nicht verliert, und verbinde die demokratischen Veränderungen in unserem Land auch damit.

Olga Shparaga ist Philosophin, Publizistin und Aktivistin sowie u.a. Mitbegründerin des European College of Liberal Arts in Minsk. Am IWM war sie mehrmals im Rahmen des Jan Patočka-Programms zu Gast.

[1] Ein Überblick über verschiedene Versionen findet sich hier: https://kyky.org/news/evalyutsiya-belarusy-zapustili-fleshmob-o-tom-kak-lyudi-v-pogonah-lishayut-nas-iskusstva

[2] Eine längere Reflektion von Olga Shparaga über die Rolle der „drei Frauen“ wurde publiziert im Freitag, vgl.: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/drei-frauen-trotzen-dem-diktator?fbclid=IwAR2PErL8lZqc6r4C5aDG8w5Dy5sdw5I9y2IVu-RB29HF_b-nwGTggkJiybs

[3] https://www.rferl.org/a/women-protest-in-minsk-elsewhere-in-belarus-to-protest-post-election-crackdown/30780324.html

[4] Vgl.: https://www.facebook.com/EAST.Research.Center/posts/2829517007271133