Der G’spritzte und die Geopolitik*

Tr@nsit Online

Eine der traditionellen Neurosen der rumänischen Aussenpolitik könnte als „Syndrom der Nicht-Dazugehörigkeit” definiert werden. Recht schnell, nachdem ich in die Geheimnisse und Kulissen unseres Aussenministeriums vorgedrungen war, merkte ich, dass unsere Diplomaten in zwei Kategorien eingeteilt werden können: In jene, die zugeben, dass Rumänien zu Südost-Europa gehört, und in jene, die glauben, dass Rumänien ein Teil Mitteleuropas ist. Die „Balkanisierenden” geben sich mit dem autochthonen Pittoresken zufrieden, finden Gefallen daran, wollen ihren Spitznamen zum guten Namen machen und deuten an, dass unsere historische Aufgabe die eines „regionalen Leaders” ist.

Die Geopolitik

Eine der traditionellen Neurosen der rumänischen Aussenpolitik könnte als „Syndrom der Nicht-Dazugehörigkeit” definiert werden. Recht schnell, nachdem ich in die Geheimnisse und Kulissen unseres Aussenministeriums vorgedrungen war, merkte ich, dass unsere Diplomaten in zwei Kategorien eingeteilt werden können: In jene, die zugeben, dass Rumänien zu Südost-Europa gehört, und in jene, die glauben, dass Rumänien ein Teil Mitteleuropas ist. Die „Balkanisierenden” geben sich mit dem autochthonen Pittoresken zufrieden, finden Gefallen daran, wollen ihren Spitznamen zum guten Namen machen und deuten an, dass unsere historische Aufgabe die eines „regionalen Leaders” ist. Die „europäische Idee” sei auf dem Balkan geboren worden, und die balkanische Idee habe in Bukarest den westlichen Schliff bekommen. Die anderen hingegen sind der Ansicht, dass es strategisch und patriotisch sei, sich mehr in Richtung Westen anzusiedeln. „Du bist nicht an dem Ort, wo Du bist, sondern dort, wohin Du strebst.” Dadurch wird die reale Geografie nur allzu relativ. Jedes Land kann sich lüstern an jedwelche denkbare und konvenable Parzelle des Globus träumen. Man kann in Weißrussland leben und sich australisch fühlen, man kann – nicht ohne jegliche Berechtigung übrigens – Ungar sein, sich aber, aufgrund der Sympathie zu Finnland, zum Baltiker erklären…

Wir sind aber nicht die einzigen, die von solch migratorischen Obsessionen heimgesucht werden. Auch die Mitteleuropäer ziehen es manchmal vor, sich der Ambiguität ihrer räumlichen Positionierung zu entziehen („im Osten Deutschlands und im Westen Russlands”) und sich ganz einfach als Westeuropäer zu bezeichnen. (Ich erinnere mich an einen Kommentar von György Konrad zu jenem unermüdlichen „Drang nach Westen”: Es gebe eine einzige wirklich überzeugende Demarkationslinie zwischen Osteuropa – sei es nun Mittel- oder Südosteuropa – und Westeuropa: die Stilistik der Klos. Das sei vorerst die wahre „Frontlinie”, die große Zäsur, der olfaktive Vorhang, der uns trenne.) Aus einer Entfernung, die die Perspektiven verschiebt, haben die Amerikaner diese Angelegenheit bürokratisch gelöst: Im State Department vereinigte die Unterabteilung, welche für das Europa der ehemals kommunistischen Länder zuständig ist, alles unter der Bezeichnung „Mitteleuropa”. Seit jenem Augenblick ist es politically incorrect über ein Osteuropa zu sprechen. Die Positionierung im Osten ist eine Art Pech, eine geografische Beleidigung, es schickt sich nicht, sie zu erwähnen.

Also – wo liegt Rumänien? Im Westen, oder zumindest in Mitteleuropa – so wie Temeswar/Timisoara oder Hermannstadt/Sibiu dies anzudeuten zu scheinen? Oder im vor-russischen Osten, wie Dorohoi dies unter Beweis zu stellen mag? Oder gar im balkanischen Süden, wie durch Medgidia oder Calafat? Klar ist, dass man sich bei einem Spaziergang durch Schäßburg/Sighisoara oder durch Kronstadt/Brasov nicht als Bulgare oder Türke fühlen kann, so wie es ebenfalls eindeutig ist, dass man weder in Urziceni, noch in Tulcea oder im Bukarester Obor sich als Wiener fühlen kann. Wir sind, Gott stehe uns bei, aller und niemandes Kind! Wir sind vom Schicksal gezeichnet, mon cher, wir sind Waisen, doch wunderbar heroisch. Kanonenfutter. An den Grenzen der Christenheit, um das mal so zu formulieren… E. M. Cioran klagte nicht von ungefähr nach dem Erdbeben 1977: „Nous sommes mal placés!”. Ungetröstet darben und überleben wir in der Küche der Geschichte, als ein Haufen appetitlicher und verlockender Rohstoffe und Zutaten, die es versäumen, ein Gericht zu werden. Viel zu vielfältig und verschieden, um assimiliert zu werden, wollen wir uns würdevoll und lukrativ und effektvoll integrieren, doch wissen wir nicht, wo zu beginnen. Integrieren wir Klausenburg/Cluj in die Bukowina oder Suceava in Siebenbürgen? Sollen wir uns in Richtung Mitteleuropa bewegen? Das lassen die dort nicht zu. Bleiben wir unter den „Balkanesen”? Das wollen wir nicht. Wir liegen schließlich und endlich und immerhin im Norden. Wir blicken auf „das Pulverfass” von den borealen Eisklippen hinab – im schlechtesten Fall sind wir immer noch ein Skandinavien des Balkans.

Das Syndrom der Nicht-Zugehörigkeit, von dem ich hier spreche, birgt einen einzigen Vorteil: Es kann alle Fehlschläge und Misserfolge, Pleiten und Schlappen entschuldigen. Wenn’s nicht funktioniert, ist eben die geografische Lage Schuld. Im Klosterleben gilt als eines der häufigsten Krisensymptome die Schuldbarmachung der Mönchszelle. Die vom Dämon in Versuchung geführte strebende arme Seele glaubt, sie komme nur schwer voran oder unterliege der Versuchung, einzig und allein weil sie eine schlechte Zelle habe. Und dass sich alles von selber lösen würde, wenn sie in eine andere Zelle ziehen könnte. Genau so glauben auch wir manchmal, dass wir allein wegens des Balkans Schwierigkeiten haben und dass die Heilung all unserer Fehler und Gebrechen automatisch erfolgen würde, sofern wir nur heimlich und verstohlen in den Westen ziehen könnten. In Wirklichkeit aber ist nicht das Verlassen der Mönchszelle die Lösung, sondern der erbarmungslose Griff zum Besen.

Der G’spritzte

Die Mythologie Mitteleuropas ist für Rumänien in vielen Hinsichten eine zusätzliche Quelle der Frustration. Da aus Westeuropa zumindest zeitweilig ferngehalten, entdecken wir, siehe, ein neues Gebiet der Ausschließung. Viele Autoren, die sich analytisch und weitschweifig über das Konzept „Mitteleuropa” auslassen, vergessen, uns auf die Landkarte ihrer Beschäftigung einzutragen. Man spricht über Ungarn, Polen und Tschechien, die eine Art hochfeinen Klub bilden („die Visegrad-Gruppe”), und nur einige dieser Autoren rechnen das walachische Territorium demselben Gebiet zu.

Man könnte fast sagen, dass wir eher ein Mittelding zwischen Zentraleuropa und dem balkanischen Europa sind. Unsere Berufung wären folglich die Zwischenräume, das Intervall, der Reiz der Unbestimmtheit. Wir haben genügend mitteleuropäische Substanz, um nostalgisch der Faszination des kaiserlichen Kakaniens zu erliegen, doch nicht ausreichend davon, um uns innerhalb seiner Grenzen heimisch zu fühlen.

Und trotzdem gibt es etwas, das uns eindeutig und, meiner Meinung nach, irreversibel mit dem Zielobjekt unserer nahezu irrationalen Faszination verbindet. Etwas, was nicht angefochten werden kann, uns ins Blut eingegangen ist und uns sogar zu manchen Auszeichnungen verhelfen könnte. Es geht um ein Getränk, oder eher um eine Trinkweise, die irgendwo in Österreich erfunden wurde und überraschenderweise nicht so sehr in Siebenbürgen als in den balkanischen Fürstentümern außerhalb des Karpatenbogens bemerkenswerte und unbestechliche Diener gefunden hat. Es handelt sich um den G’spritzten, um die pikante Dosierung und Mischung von Wein und kohlensäurehaltigem Wasser (Sodawasser in den klassischen Periode, Mineralwasser in der neueren Zeit), der die einheimischen Tische trotz dogmatischer abendländischer Proteste in Überfülle beherrscht.

Der G’spritzte ist der Ur-Geist von Fest und Feiern, das absolute Verdünnungsmittel des Kneipen-Spleens; in der Dreihaftigkeit seines Wesens – Wein-Wasser-Luft – schlummert eine wahre „Weltanschauung”. Es gibt nichts Mitteleuropäischeres als die durchsichtige und durchscheinende Vitalität dieses Gemisches. Schließlich ist Mitteleuropa die Krönung der gemischten Verhältnisse, die Euphorie des Gemisches: multi-national, multi-kulturell, Schnittstelle von Paradies und Apokalypse, Quelle, aber auch Opfer der beiden Weltkriege, es ist heiter und melancholisch, bürgerlich und absurd. Mitteleuropa ist der G’spritzte Europas, sein geselliger „Weinkühler”. Als verstärktes Wasser und verdünnter Alkohol ist der G’spritzte die „coincidentia oppositorum”, die „Aufhebung der irdischen Widersprüche” in der Boulevard-Variante.

Genauso ist auch Mitteleuropa das gutmütige Zusammenleben der Kontraste, der Ort aller Versöhnungen, der Ort der Mehrdeutigkeiten und des Kompromisses. Nirgendwo sind verschiedenartige und in der Regel getrennte Welten bereitwilliger als hier, sich zu verständigen und zu vertragen. Der männliche Wein löst sich in der ausgesprochenen Weiblichkeit des Wassers auf, der alkoholische Eigensinn lässt sich von der Umgänglichkeit und Geselligkeit des Wassers erziehen. Das Wasser wird zum gastfreundlichen Körper eines glühenden Geistes. Der G’Spritzte ist die kleinere Replik einer Metaphysik der Fleischwerdung, er ist verleiblichter Wein, an die irdischen Grenzen angepasste Extase… Doch er ist nicht nur ein perfekter „Körper” des Gemisches, der gebändigten und gezähmten Gegensätze. Der G’spritzte ist gleichzeitig auch ein Symbol der „Goldenen Mitte”, des „Mittelwegs”. György Konrad sprach in den achziger Jahren von einem wahren „Tao” Mitteleuropas: ein Gebiet in optimaler Lage (der guten „Disposition) zwischen West und Ost, zwischen Ernsthaftigkeit und Witz. Auf der einen Seite der Wein, auf der anderen das Wasser, mit der Bemerkung, dass auch das Wasser „begeisternd” und entflammend sein kann, wie der slawische „Wodka”, das gallische „eau de vie” oder die verschiedenen „Wässer”, die im Deutschen Fruchtschnäpse bezeichnen (Kirschwasser, Pflaumenwasser u.a.).

Der G’spritzte ist in erheblichem Maße von der Qualität des Sodawassers abhängig, so wie das Bier von der Qualität des Wassers. Übrigens: Das Luftblasen-Geflüster des G’Spritzten erinnert an die Kohlensäure im Bier. Man könnte geneigt sein zu behaupten, der G’spritzte sei ein Ergebnis des abenteuerlichen Versuchs, den Wein dem Bier näherzubringen, dem winzerischen Ernst ein wenig Gärungs-„Witz” zu verleihen. (Bislang wurde dem kulturellen Konflikt zwischen südländischem Wein und nordischem Bier nur ungenügend Beachtung geschenkt, zu dem im Vergleich die Huntington’schen Abschweifungen über den Zusammenprall der Zivilisationen unbedeutende Abstraktionen für Erstklässler sind).

Nun gut, der G’spritzte versucht, zwischen Bier und Wein, zwischen Barock und Klassik zu vermitteln, genau so wie Mitteleuropa zwischen den abendländischen und den orientalischen Radikalismen zu vermitteln versucht. Eine wesentliche Tugend – die Quintessenz überhaupt – des G’spritzten ist seine „stechende” Zungenfertigkeit. Im G’spritzten beginnen Wein und Wasser zu tönen und klingen, sie rollen das R und machen den Eindruck, als würden sie lästern, klatschen und tratschen. Der Rülpser, der sich zwangsläufig den Trinksprüchen anschließt, ist eine Parabel der Euphorie, des Übermuts und der schwankenden Unbekümmertheit… Säure kann schwülstig und hochtrabend, aber auch Auslöser von Ironie sein. Wein ist predigend und nörglerisch, der G’spritzte lebhaft und sarkastisch, während Bier sanft und volkstümlich zwischen Massen-Fröhlichkeit und einsilbiger Gutmütigkeit schwankt. Ohne den spritzigen Ulk des G’spritzten wäre der Bukarester undenkbar. Der Bukarester ist kein Balkanese. Der Bukarester ist Mitteleuropäer. „Bukarester par excellence”? Mumpitz! Der Bukarester ist reinblütiger Wiener.

Niemand trinkt, ohne den mehr oder minder unschuldigen Wunsch, den Rausch, das kleine Delirium zu erreichen. Wenn man zu den harten, schroffen Schnäpsen greift, läuft man Gefahr, Ergebnis und Ziel zu schnell und ohne die Wollust und Wonne der Akkumulation zu erreichen. Jene Trunkenheit, die gnadenlos hart zuschlägt und die Lichter auslöscht, ist rudimentär. Der Trinker will nicht nur effizient trinken, er will viel trinken. Und aus eben dieser Sicht ist der G’spritzte unbezahlbar. Er bietet dem durststillenden Vorgang unbestimmte Perspektiven, erlaubt Langstreckenläufe, in „Kilometern” messbare Leistungen. So wie die Liebeslyrik des Sufismus zieht auch der G’spritzte die Erwartung dem Vollziehen vor.

Der G’spritzte-Trinker ist ein Experte im Verschieben. Genau so wie der Mitteleuropäer. Sein Schicksal wird durch die Fertigkeit des Verzögerns bestimmt, des Sich-Verlierens in langwierigen Verhandlungen, im Abschweifen und Ausweichen. Alles kann verschoben werden: der Rausch, die Entscheidung, das Glück, die Geschichte… Und wenn diese Philosophie tatsächlich typisch für Mitteleuropa ist, kann jemand anzweifeln, dass wird demselben Raum angehören? Selbstverständlich nicht. Für uns ist folglich der G’spritzte nicht einfach irgendeine Laune, eine zufällige Ernährungs-Gewohnheit. Der G’spritzte ist für uns eine geopolitische Chance, einer der schnellsten Wege, vielleicht sogar der einzige Weg nach Europa.

Ins Deutsche übertragen von Malte Kessler


* Der Beitrag geht auf einen Vortrag für den Workshop “Recomposing Eastern Europe? Inner Frontiers: Real and Imagined” zurück, den das New Europe College und das Institut für die Wissenschaften vom Menschen im Oktober 2000 mit Unterstützung der Robert-Bosch-Stiftung in Bukarest organisiert haben.

Copyright © 2002 by the author & Transit – Europäische Revue. All rights reserved. This work may be used, with this header included, for noncommercial purposes. No copies of this work may be distributed electronically, in whole or in part, without written permission from Transit.
Tr@nsit online, Nr. 21/2002

Andrei Plesu ist Rektor des New Europe College, Bukarest; 1989-91 war er rumänischer Kulturminister und 1997-99 Außenminister