Der Eurozentrismus und seine Widersacher: Kritische Bemerkungen zu einer unfruchtbaren Kontroverse

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Mein Thema ist der Eurozentrismus als geschichtliches Phänomen und als Gegenstand einer nicht immer angemessenen Kritik. Es geht um Grenzen, Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen, d.h. um verschiedene Aspekte der kulturellen Selbstkonstitution menschlicher Gesellschaften. Wenn es den Eurozentrismus überhaupt gibt, hat er mit verkürzenden Grenzziehungen und verweigerten Grenzüberschreitungen zu tun. Anders ausgedrückt: Es handelt sich um einseitige Abgrenzungen und Selbstverabsolutierungen gegenüber der aussereuropäischen Welt im Allgemeinen und den anderen eurasischen Kulturwelten im Besonderen. Diesen ganz vage formulierten Vorgriff müssen wir aber auf einen konkreteren Zusammenhang beziehen.

Der Eurozentrismus und seine Widersacher: Kritische Bemerkungen zu einer unfruchtbaren Kontroverse
Europas Landkarte von Gerard Mercator, 1595
Es gehört zum guten Ton, den Eurozentrismus zu kritisieren. Die Gründe liegen auf der Hand: Die geschichtlichen Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts haben das europäische Selbstverständnis und das entsprechende überlieferte Geschichtsbild auf eine so massive Weise erschüttert, dass grundlegende und früher selbstverständliche Voraussetzungen problematisiert werden müssen. Wenn ich von einer unfruchtbaren Kontroverse spreche, ist damit also nicht gemeint, dass der kritische Ansatz unbegründet wäre. Es geht vielmehr um die Art und Weise, wie er definiert und entwickelt wird. Die militantesten Widersacher des Eurozentrismus sind manchmal versucht, ihre Aufgabe zu vereinfachen; das Ergebnis ist dann eine unvermittelte Umkehrung des eurozentrischen Vorurteils. Wenn behauptet wird, die Europäer hätten aus eigenen Kräften nichts geleistet, sondern nur von anderswo eingetretenen Rückschlägen und Krisen profitiert (so Frank 1996), so handelt es sich offenbar um eine Stellungnahme, die weit über empirische Anhaltspunkte hinausgeht: Beabsichtigt wird eine umfassende und apriorische Entwertung des europäischen Anteils an der Weltgeschichte. Und wenn diese kompromisslose These dahingehend korrigiert wird, dass die Europäer zwar eigenständig gehandelt hätten, aber nur aufgrund einer rassistisch verhärteten Identität und einer besonders ausgeprägten Aggressivität gegenüber anderen Kulturen (so Hobson 2004), hat sich an der zugrunde liegenden Intention nicht viel verändert. Die Kritik des Eurozentrismus wird, ohne dies offen zuzugeben, als eine Sache der richtigen – schärfer formuliert: politisch korrekten – Einstellung formuliert: Ein adäquateres Geschichtsbild soll durch einen Wechsel des Standpunktes erreicht werden. Die neue Perspektive wird heute am häufigsten als «postkolonial» bezeichnet. Der Missbrauch, der heute mit diesem Etikett getrieben wird, sollte aber die wichtige Problematik, auf die der Eurozentrismus – richtig verstanden – verweist, in Vergessenheit geraten lassen. Darauf wird noch zurückzukommen sein.

Die oben kritisierten Beispiele sind extreme Fälle. Sie können nichtsdestoweniger als Ausgangspunkte für eine allgemeinere Überlegung dienen. Die Kritik des Eurozentrismus verfehlt ihr Ziel, wenn sie auf sofortige, pauschale und primär gesinnungsmässige Korrekturen reduziert wird. Es kommt darauf an, die Überwindung der eurozentrischen Verzeichnungen und Fehldeutungen als eine langfristige Aufgabe zu verstehen. Dabei wird die Unterscheidung zwischen mehreren Ebenen der Problematik ebenso wichtig sein wie die Rekonstruktion komplexer geschichtlicher Zusammenhänge und die Vermeidung vorschneller oder einseitiger Werturteile.

Dieser Thematik möchte ich mich zunächst auf einem Umweg nähern. Die Kritik des Eurozentrismus gilt heute, wie gesagt, meistens als im Prinzip legitim. Es gibt jedoch Ausnahmen, und es wird vielleicht für die Diskussion nützlich sein, die Gründe näher zu betrachten, die in solchen Fällen geltend gemacht werden. Das markanteste Beispiel ist – soweit mir bekannt – der französische Ideenhistoriker Rémi Brague, der u.a. ein vieldiskutiertes Buch über die europäische Identität geschrieben hat (Brague 2002). In einem späteren Aufsatz greift er den modischen Anti-Eurozentrismus an und lehnt die ganze Fragestellung als ein Missverständnis ab. Er beginnt mit einem Zitat aus dem genannten Buch: «No culture was ever so little centred on itself and so interested in others as Europe … Eurocentrism is a misnomer. It is even the contrary of truth» (Brague 2002, S. 133 in Brague 2006, S. 257). Die nachgelieferte nähere Begründung dieser These lässt sich in drei Schritten rekonstruieren. Erstens gibt es nach Brague einen «Zentrismus», den wir als eine allgemeine Eigenschaft der menschlichen Kulturen und letztlich der Lebewesen überhaupt auffassen können. Er hängt mit der Konstruktion einer Eigenwelt zusammen, die schon auf der biologischen Ebene stattfindet und auf der sozialen stärker hervortritt. Aus der Logik dieser Konstruktion ergeben sich selbstbezogene und unvermeidlich verzerrte Darstellungen jeder alternativen Eigenwelt. Bei einer Kultur, die im Machtkampf mit anderen so erfolgreich war und auf der globalen Ebene so dominant wurde wie die europäische, ist mit einem dementsprechend potenzierten Zentrismus zu rechnen. Das ist aber für Brague nur ein Unterschied des Grades, und eine Analyse, die sich auf diesen Aspekt beschränkt, kommt über Trivialitäten nicht hinaus. Die eigentliche Besonderheit Europas ist anderswo zu suchen.

Der zweite Schritt bezieht sich auf einen spezifischen, historisch entstandenen Wesenszug der europäischen Kultur: ihre «Exzentrizität» bzw. «Sekundarität». Europa als Kulturwelt war, wie Brague meint, in einem ganz ungewöhnlichen Masse von anderen Kulturen abhängig, und es war sich dieser Abhängigkeit auch akut bewusst. «What I called ‹eccentric identity› is a feature of European culture, nay its backbone. To the best of my knowledge, cultural secondarity and eccentricity do not exist except in Europe» (ibd., S. 259). Diese europäische Eigenart kommt, näher betrachtet, in dreifacher Weise zum Ausdruck. Zunächst wird die eigene Kultur – anders als in den herausragendsten älteren Hochkulturen – nicht als Zentrum der Welt aufgefasst. Es geht hier nicht um ein geometrisch-geographisches Zentrum, sondern um einen sinnhaften Referenzpunkt, ein axiologisches Zentrum. «Now, such a centre, for the medieval man, is definitely not Europe, but again the Middle East: for the Jews and Christians, it is Jerusalem; for the Muslims it is Mecca» (ibd., S. 259). Diese im wörtlichen Sinne exzentrische Sichtweise ermöglicht radikalere Formen der Selbstdistanzierung. «I contend that Europe is the only culture that ever became interested in the other cultures» (ibd., S. 260). Diese Behauptung muss allerdings, wie Brague betont, dahingehend eingeschränkt werden, dass sie sich nicht etwa auf die europäische Kultur als Gesamtsubjekt bezieht. Entscheidend ist, dass dieses aktive Interesse an anderen Kulturen und die Bemühungen, sie zu verstehen, langfristig wirksam und durch einflussreiche Gruppen vertreten wurden. Dazu gibt es, wie Brague meint, anderswo keine Parallelen: Einzelne Gestalten, wie Herodot bei den Griechen und Al-Biruni in der islamischen Welt, haben keine Schule gemacht (was Herodot angeht, liesse sich darüber streiten). Besonders deutlich wird die Originalität dieses europäischen Interesses an dem bzw. den Anderen, wenn es auf das Selbstverständnis zurückwirkt: «There are several levels of interest. The deepest one consists of understanding that the other one is interesting also because of the light it throws back on the observer» (ibd., S. 261). Es gibt eine lange europäische Tradition des «endeavouring to look at oneself through foreign eyes» (ibd., S. 261). Die bekanntesten Beispiele (wie etwa Montesquieus Lettres Persanes) sind im Umkreis der Aufklärung entstanden und bringen einen wichtigen Aspekt dieser intellektuellen Bewegung zum Ausdruck; der Abbruch – oder zumindest die Marginalisierung – der Tradition in einer folgenden Phase hängt mit umfassenderen Veränderungen der europäischen Geisteswelt zusammen.

Die dezentrierte und offene Einstellung gegenüber anderen Kulturen ist keine Errungenschaft der Moderne: Sie geht auf vormoderne europäische Wurzeln zurück. Brague hat versucht, die Sekundarität und Exzentrizität der europäischen Kultur von der römischen Begegnung mit der griechischen Welt abzuleiten. Die Althistoriker haben aber m. E. gezeigt, dass die römische Tradition gegenüber der griechischen gar nicht so sekundär war, wie diese Argumentationslinie voraussetzt, und im Hinblick auf die hier zu diskutierende Frage ist es auch nicht notwendig, auf römische Ursprünge zu rekurrieren. Entscheidend ist vielmehr die post-römische Entwicklung. Europa ist für Brague (und darin kann man ihm nur zustimmen) primär ein Produkt des westlich-christlichen Mittelalters, und die diesbezüglichen Ausführungen können wir als einen dritten Schritt seiner Argumentation verstehen. Bei mittelalterlichen Autoren finden sich schlüssige Belege für das ganze Spektrum der «exzentrischen» Orientierungen – einschliesslich nicht nur der «ability to look at oneself from afar», sondern auch der «ability to put into the mouth of the other one arguments against oneself» (ibd., S. 263). Pierre Abelard war ein früher und besonders eindrucksvoller Vertreter einer Denkweise, die auch in der Spätphase des Mittelalters zur Geltung kam.

Bragues Hinweise auf anti-eurozentrische Tendenzen des mittelalterlichen Denkens sind überzeugend, und weitere Beispiele wären leicht zu finden. Eine der markantesten Formulierungen ist übrigens in meiner Muttersprache geschrieben; ich möchte sie hier in einer deutschen Fassung zitieren. Der Prolog der Edda von Snorri Sturluson enthält u.a. einen kurzen Überblick über die damals bekannte Welt; dort heisst es: «Das ganze Gebiet von Norden und über die Osthälfte bis ganz nach Süden wird Asia genannt; in diesem Teil der Welt gibt es überall Schönheit und Pracht und Fruchtbarkeit des Bodens, Gold und Edelsteine; dort ist auch die Mitte der Welt, und so wie dort die Erde schöner und in jeder Hinsicht besser als an anderen Orten ist, so waren auch die Menschen mit allen Gaben am besten ausgestattet, mit Weisheit und Kraft, Schönheit und allerlei geheimen Fähigkeiten» (Lorenz 1984, S. 47–48). Wer dies geschrieben hat, ist unter den Spezialisten umstritten; es stammt jedenfalls aus dem dreizehnten Jahrhundert, und ich kenne keine bündigere Zusammenfassung des Asienbildes, das dann in der Neuzeit entzaubert wurde.

Ich habe Bragues Thesen deswegen relativ ausführlich diskutiert, weil sie meines Erachtens ein wichtiges Korrektiv zur bisherigen Debatte um den Eurozentrismus darstellen. Seine Schlussfolgerungen sind aber nicht unproblematisch, und ich möchte vor allem einen kritischen Gesichtspunkt hervorheben, der für die weitere Diskussion zentral sein wird. Es geht, kurz gesagt, um die Frage, ob die europäische Exzentrizität nicht in einen Zentrismus zweiten Grades umschlagen kann, bzw. an einem Wendepunkt des europäischen Denkens umgeschlagen ist. Aus der Offenheit gegenüber anderen Kulturen wird dann ein Umweg, der zu einer radikaleren Form der Selbstverabsolutierung führt. Das besondere Interesse an fremden Lebens- und Denkformen wird in einen Sonderanspruch auf überlegene Einsicht umgedeutet; die europäische Perspektive erscheint als ein privilegierter Zugang zur Wahrheit der Anderen und des Ganzen, das beide Seiten umfasst. Diese Neubestimmung des europäischen Verhältnisses zur Vielfalt der Kulturen gipfelt in der Legitimierung durch eine Logik der Vernunft, der Freiheit und/oder des Fortschritts, die sich in der europäischen bzw. westlichen Welt auf adäquatere und vollständigere Weise realisiert als anderswo.

Ein solcher Umschlag ist gegen Ende des 18. Jahrhunderts eingetreten, nach der durch gesteigerte Offenheit charakterisierten Phase der Aufklärung, und im 19. Jahrhundert weiter radikalisiert worden. Jürgen Osterhammel hat ihn in seinem vorzüglichen Buch über die Entzauberung Asiens eingehend analysiert (Osterhammel 1998). Der Titel unterstreicht die Zweideutigkeit, die schon bei Max Weber mit dem Begriff der Entzauberung verbunden war: Wachsende Kenntnisse der andren eurasischen Kulturwelten gingen mit einer zunehmenden Missachtung oder Verflüchtigung ihres Eigensinns einher. Damit wurde der Weg für die Einbeziehung fremder Hochkulturen – in erster Linie Chinas und Indiens – in eurozentrische Welt- und Geschichtsbilder geebnet. Das ist freilich nicht die ganze Geschichte. Es hat Gegentendenzen gegeben, und insbesondere die besten Vertreter der Orientalistik haben immer wieder versucht, ein adäquateres Bild zu gewinnen. Die einseitige und häufig auf krasser Ignoranz basierende Kritik des «Orientalismus» hat das nicht wahrhaben wollen. Diese Problematik müssen wir aber jetzt beiseite lassen (für eine ausführlichere Darstellung s. Irwin 2006); der Schwerpunkt unserer Diskussion liegt anderswo.

Hegels Geschichtsphilosophie war ein unübertroffener Ausdruck des potenzierten Eurozentrismus, der im frühen 19. Jahrhundert Gestalt annahm. Wirksam wurde sie vor allem durch ihre Fortsetzung mit anderen Mitteln im klassischen Marxismus. Das Manifest der kommunistischen Partei gehört zu den eurozentrischsten Texten, die es überhaupt gibt; es erübrigt sich, die bekannten Stellen zu zitieren. Bei Marx ist diese Perspektive trotz späterer Nuancierungen dominant geblieben. Es gehört aber zu den frappierendsten Paradoxien der modernen Geschichte, dass dieses eurozentrisch angelegte Deutungsmuster von Ideologen, Bewegungen und Staaten (darunter sogar rekonstruierten Imperien) rezipiert wurde, die gegen die weltweite europäische Hegemonie ankämpfen wollten. Sowohl aktive Teilnehmer wie auch kritische Beobachter haben versucht, die Diskrepanz durch Umdeutung der Ursprünge zu entschärfen: Die Unterschiede zwischen europäischen Ländern und Regionen in der Frühphase der Industrialisierung wurden dann auf denselben Nenner gebracht wie das globale Entwicklungsgefälle des 20. Jahrhunderts, und die deutsche Revolution, die Marx angekündigt hatte, erschien als ein vereitelter Vorläufer der Umwälzungen, die später versuchten, die «advantages of backwardness» in globalem Massstab geltend zu machen. Solche Analogien sind nicht überzeugend; es verhält sich eher so, dass europäische Erfahrungen und Denkfiguren – vor allem solche, die mit der Dynamik bzw. der Dialektik des Fortschritts zu tun haben – auf die aussereuropäische Welt projiziert worden sind und nicht nur theoretische Deutungen, sondern auch ideologische Handlungsorientierungen in folgenreicher Weise verzerrt haben. Die Probleme, die sich daraus ergeben, sind z.B. in der diskontinuierlichen und noch lange nicht abgeschlossenen Debatte über die Anwendbarkeit eines europäisch gefärbten Revolutionsbegriffs auf China deutlich geworden.

Das Zwischenspiel eurozentrischer und anti-eurozentrischer Tendenzen in der Geschichte des Marxismus ist ein komplexes und faszinierendes Thema; hier ist es aber eher als negatives Beispiel von Interesse. Es ist in der marxistischen Tradition nie gelungen, die Fragestellung auf angemessene Begriffe zu bringen. Ein kritischer Anschluss an Max Weber könnte sich, wie ich noch zu zeigen versuchen werde, als aufschlussreicher erweisen. Um diesen Argumentationsschritt vorzubereiten, müssen wir aber die Problematik, um die es geht, etwas expliziter umreissen. Es sind zunächst drei Ebenen zu unterscheiden. Auf der historischen stellt sich die Frage nach Europas Platz und Gewicht in der globalen Geschichte; die Kritik des Eurozentrismus hat es hier mit verzerrenden Grundannahmen und Deutungsmustern zu tun, die durch ausgewogenere historische Analysen zu korrigieren wären. Auf der hermeneutischen Ebene geht es darüber hinaus um Fragen des Verstehens und des Fremdverstehens im Hinblick auf die spezifischen Probleme des Verhältnisses zwischen europäischen und nicht-europäischen Kulturen und um die in diesem Zusammenhang besonders gravierende Einengung des Fremdverstehens durch Projektionen eigener Sinngebilde und Wertorientierungen. Davon ist noch die dritte, normative Ebene zu unterscheiden; hier werden universale Erkenntnis- und Geltungsansprüche thematisiert, und der kritische Ansatz zielt auf institutionelle und kulturelle Prozesse, die zur Universalisierung partikularer europäischer Prinzipien und Orientierungen geführt haben.

Es versteht sich von selbst, dass ich hier nicht auf alle drei Ebenen eingehen kann. Die folgenden Bemerkungen beziehen sich auf den historischen Problemkomplex, den wir in einem gewissen Sinne als primär auffassen können: Nicht, dass mit den historischen Fragen ipso facto auch die anderen beantwortet würden, aber die historische Analyse betrifft den realen Rahmen, in dem die anderen Probleme auftreten und in Angriff genommen werden. Um die Stossrichtung der Diskussion genauer zu bestimmen, ist es sinnvoll, mit zwei – wie mir scheint – unproblematischen Feststellungen anzufangen; sie werden den Kontext der weiteren Überlegungen präzisieren.

Wenn wir zunächst die Frage stellen, ob es einen europäischen Sonderweg mit weltweiten Auswirkungen gegeben hat, so ist nicht einzusehen, dass sie anders als bejahend beantwortet werden könnte. Die europäische Expansion, die vor rund 500 Jahren in ihre entscheidende Phase eingetreten ist, hat globale Konstellationen kultureller, politischer und ökonomischer Art in einmaliger Weise verändert (transozeanische Imperien hat es vor diesem geschichtlichen Wendepunkt nicht gegeben); sie hat aber auch genauso innovative und folgenreiche Reaktionen hervorgerufen. Wenn das zugegeben wird, muss auch nach der internen Vorgeschichte dieser globalen Wende gefragt werden. Es geht nicht darum, eine Vorprogrammierung der europäischen Hegemonie durch die «Europäisierung Europas» im Mittelalter zu behaupten (so bezeichnen heute einige Historiker den Prozess, aus dem Europa als distinkte Geschichtsregion hervorgegangen ist). Es ist aber eine zumindest plausible Hypothese, dass in dieser Phase einige Voraussetzungen der späteren Entwicklung geschaffen wurden.

Andererseits ist es ebenso unbestreitbar, dass es wiederholte und einflussreiche Versuche gegeben hat, den historisch bedingten europäischen Sonderweg in einen geschichtsphilosophisch legitimierten Sonderstatus umzudeuten. Die emphatischsten Ansprüche dieser Art wurden, wie oben bemerkt, durch Konstruktionen einer progressiven Entwicklungslogik begründet, die in der europäischen Geschichte zu einem wenn nicht einzigartigen, so doch privilegierten Ausdruck gekommen sein sollte. Diese Denkmodelle werden von heutigen Kritikern als essentialistisch bezeichnet; daraus ist aber ein solches Allerweltsschimpfwort geworden, dass ich es hier lieber vermeiden möchte. Beschränken wir uns also auf die Feststellung, dass der europäische Sonderweg von ideologischen Vereinfachungen und Verklärungen begleitet wurde, deren Nachklänge auch nach der Diskreditierung der stärksten Versionen das europäische Selbstverständnis und die weithin akzeptierten Geschichtsbilder beeinflussen können. Die klassischen Spielarten des Eurozentrismus werden heute nicht mehr ernsthaft vertreten, und die Versuche postkolonialer Polemiker, einen versteckten Eurozentrismus der heutigen westlichen Geschichtswissenschaft zu entlarven, finde ich nicht überzeugend; aber das heisst nicht, dass sich eine klar definierte Alternative durchgesetzt hätte. Die Kritik des Eurozentrismus ist, wie ich am Anfang betont habe, eine langfristige Aufgabe, und es wird nützlich sein, bei jedem einzelnen Schritt auch die begrifflichen Voraussetzungen zu reflektieren.

Im Folgenden wird es natürlich nicht um ein Gesamtbild des europäischen Sonderwegs gehen. Das wäre nicht nur im Rahmen dieses Beitrags unmöglich, sondern m. E. auch aus sachlichen Gründen unangebracht. In den letzten 10–15 Jahren sind in mancher Hinsicht neue Dimensionen der komparativen Geschichte erschlossen und neue Perspektiven eröffnet worden. Die Diskussion befindet sich jetzt in einem Übergangsstadium, dessen Ergebnisse allmählich reifen und synthetischere Ansätze ermöglichen werden. Die Gesichtspunkte, die ich jetzt geltend machen möchte, sind in dem Sinne metatheoretisch, dass sie mit Fragen der Begrifflichkeit und des Vorverständnisses zu tun haben: Wie sollen wir den europäischen Sonderweg denken, wenn wir die bekannten, aber nicht schon deswegen adäquat begriffenen Irrwege der Ideologisierung vermeiden wollen? Das ist zugegebenermassen ein weites Feld, aber ich möchte wenigstens drei Aspekte hervorheben, die mir besonders wichtig scheinen.

Der erste lässt sich am besten durch einen direkten Hinweis auf Max Weber definieren. In der letzten (wenn auch aus seiner Sicht provisorischen) Zusammenfassung seines Forschungsprojekts, am Anfang der Einleitung zu den religionssoziologischen Aufsätzen, beginnt Weber mit einer kurzen Charakteristik seiner Untersuchungen zum europäischen bzw. okzidentalen Sonderweg. Die weltgeschichtlich signifikanten Tendenzen und Resultate, die es zu verstehen und erklären gilt, subsumiert Weber unter die Begriffe der Rationalität und der Rationalisierung (dass er eine gründliche Klärung dieser Kategorien schuldig blieb, steht auf einem anderen Blatt). Auf der Ebene der eigentlichen historischen Erklärung geht es aber darum, die «Verkettung von Umständen» zu rekonstruieren, die den Sonderweg markiert hat. Es lohnt sich, bei dieser Formulierung zu verweilen – nicht zuletzt deswegen, weil sie mit den heute gängigen Karikaturen Webers unvereinbar ist. Ein Erklärungsmodell, das auf einer «Verkettung von Umständen» basiert, ist ja das gerade Gegenteil essentialistischer oder teleologischer Ansätze. Die Vielfalt der Umstände schliesst auch monokausale Erklärungen aus, selbst wenn sie durch die Formel der letztendlichen Determinierung abgemildert werden. Im Falle des okzidentalen Sonderwegs erscheint also die Suche nach einem Schlüsselfaktor oder einem entscheidenden kausalen Nexus als irreführend. Und es ist nicht anzunehmen, dass die Umstände, um die es hier geht, je durch eine endgültige Liste erschöpft werden könnten: Das Beste, das wir zu erreichen hoffen können, ist eine graduell erweiterte und vertiefte Einsicht in historische Konstellationen und Sequenzen.

Hier ist aber noch die Frage zu stellen, wie sich die zitierte Formulierung und die Deutung, die sie nahe legt, zu Webers eigenen konkreten Analysen und zur Entwicklung seines Ansatzes verhalten. Einerseits steht es ausser Zweifel, dass Weber nach der – häufig zu Unrecht isoliert gelesenen – Studie über die protestantische Ethik seinen Bezugsrahmen auf eine Weise erweitert hat, die eine prinzipiell pluralistische Formulierung implizit erfordert. Eine Vielfalt kultureller, politischer und ökonomischer Faktoren wird in Betracht gezogen. Die allgemein benannte Verkettung von Umständen kann sinnvollerweise als ein veränderliches Geflecht der drei genannten Komponenten verstanden werden, wobei keine einen letztendlichen Primat beanspruchen kann, aber jede in spezifischen Zusammenhängen in den Vordergrund tritt. Andererseits steht das starke Interesse an der Wirtschaftsethik der Weltreligionen – allgemeiner formuliert: den Wechselbeziehungen zwischen dem religiösen und dem wirtschaftlichen Leben – einer konsequenten Ausarbeitung des pluralistischen Konzeptes entgegen. Wir haben es also mit einer Reflexionslinie zu tun, die über die abgebrochene Werkgeschichte hinausweist. Das wird noch deutlicher, wenn wir weitere analytische Dimensionen berücksichtigen. Es liegt nahe, eine weltgeschichtlich wirksame Verkettung von Umständen auch als eine Verbindung interner und externer Faktoren aufzufassen. Damit wird jedoch ein Feld betreten, mit dem sich Weber kaum beschäftigt hat; es soll hier unter einem spezifischeren Blickwinkel diskutiert werden.

Die Verkettung von Umständen hat auch eine zeitliche Dimension: Wir müssen mit Ursachen- und Wirkungsketten rechnen, die sich über lange Zeiträume – ggf. mehrere Geschichtsepochen – erstrecken, ohne dass das Gesamtergebnis als vorherbestimmt bezeichnet werden könnte. Frühe historische Phasen können Voraussetzungen für spätere Durchbrüche schaffen, und neue Entwicklungen können dazu führen, dass an ein älteres Erbe unter neuen Gesichtspunkten angeknüpft wird und latente transformative Potenziale zutage treten. Der europäische Sonderweg ist, anders ausgedrückt, als ein langfristiger Prozess zu betrachten. Dieser zweite Aspekt lässt sich auch im Anschluss an Weber erörtern. Die bereits erwähnte Erweiterung des Weberschen Projekts nach der grundlegenden Studie über die protestantische Ethik hat nicht zuletzt zu einer intensiveren Beschäftigung mit älteren Episoden und Entwicklungssträngen geführt. Besonders wichtig ist die Studie über die okzidentale Stadt, deren Resultate wohl der späteren Diskussion besser standgehalten haben als die immer noch bekannteren Thesen über die protestantische Ethik. Weber hat auch die Bedeutung des antiken Judentums für die europäische Geschichte betont und in seine zivilisationsvergleichenden Analysen einbezogen, während ein kurzer Hinweis auf vergleichbare griechische Quellen der okzidentalen Kultur nie weiterentwickelt wurde. Aufs Ganze gesehen ist aber diese Seite des Weberschen Ansatzes fragmentarisch geblieben, und ein integriertes Konzept eines langfristigen Prozesses ist nicht zustande gekommen. Spätere Autoren sind auf diesem Wege weiter gegangen; allen voran wäre Norbert Elias zu nennen, dessen bahnbrechende Arbeit über den Prozess der Zivilisation zwar in vielerlei Hinsicht angreifbar ist, aber im Hinblick auf die langfristige Dynamik der Staatsbildung und ihrer gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen doch der ganzen Diskussion neue Perspektiven erschlossen hat.

Diese Problematik kann ich hier nicht in extenso behandeln. Auf einen spezifischen Fragenkomplex, nämlich die mittelalterlichen Voraussetzungen des europäischen Sonderwegs, möchte ich aber noch kurz eingehen. Die Historiker, die nach solchen Voraussetzungen fragen, bestreiten nicht die anfängliche Marginalität der westeuropäischen – bzw. westlich-christlichen – Zivilisation gegenüber den anderen eurasischen Kulturwelten, und die Kritiker des Eurozentrismus rennen offene Türen ein, wenn sie auf diesem Tatbestand insistieren. Es geht darum, dass auch im Rahmen einer peripheren Formation Entwicklungen stattfinden und geschichtliche Faktoren auftreten können, die für spätere Änderungen der globalen Macht- und Kulturkonstellationen Weichen stellen. Das gilt für verschiedene Aspekte der westlich-mittelalterlichen Welt. Ihre technologische Innovationsfähigkeit ist durch vergleichende Studien über andere Zivilisationen (insbesondere die islamische und die chinesische) relativiert worden, aber als Teil des Gesamtbildes ist sie immer noch relevant. Von der Bedeutung der mittelalterlichen Stadt war – im Zusammenhang mit dem Werk Max Webers – schon die Rede. Besonders wichtig ist das distinktiv westlich-christliche Ergänzungs- und Spannungsverhältnis zwischen Papsttum und Imperium. Diese mittelalterliche «Spaltung der Spitze», von Heinrich August Winkler als Urform der Gewaltenteilung bezeichnet, hat einen soziokulturellen Raum eröffnet, in dem sich andere Formen des Pluralismus entfalten konnten. Dem ist allerdings hinzuzufügen, dass diese Konstellation nicht einfach als Trennung der weltlichen und der sakralen Macht verstanden werden kann (beide Aspekte waren auf beiden Seiten vorhanden, aber in unterschiedlicher Weise kombiniert). Und auch der Kontrast zu benachbarten Zivilisationen war nicht so einfach, wie ältere Deutungen angenommen haben (die Vorstellung von einem byzantinischen «Cäsaropapismus» hat sich als ebenso unhaltbar erwiesen wie die Behauptung, in der islamischen Welt habe keine Differenzierung der politischen und der religiösen Welt stattgefunden).

Schliesslich sollte – mit Rücksicht auf den dritten Punkt, der noch zu erwähnen sein wird – die mittelalterliche Phase der europäischen Expansion nicht unterschätzt werden. Hier ist zunächst zwischen der Ausbreitung von Zivilisationsmustern (die trotz andersartiger Episoden an der nördlichen und östlichen Peripherie des westlichen Christentums überwog) und der Expansion durch Eroberung zu unterscheiden. Militärische Expansion war jedenfalls ein wichtiger, wenngleich nicht überall dominierender Aspekt der «Europäisierung Europas»; sie hat Traditionen, Mentalitäten und Eliten geprägt, die dann in der folgenden globalen Phase eine Schlüsselrolle gespielt haben. Die Kreuzzüge waren der spektakulärste und mythenträchtigste, aber nicht der wichtigste Teil dieses Prozesses. Erfolgreich waren sie nur dort, wo die Mobilisierung durch eine religiöse Zentralinstanz mit der Expansion bereits existierender Staaten zusammenfiel. An der nahöstlichen Front sind sie gescheitert, aber zur gleichen Zeit ist die Machtbalance im Mittelmeerraum definitiv zugunsten westlicher Mächte geändert worden.

Der dritte und letzte Gesichtspunkt, den ich kurz skizzieren möchte, hat auch mit der Verkettung von Umständen zu tun, aber diesmal auf der interkulturellen und globalgeschichtlichen Ebene. Der europäische Sonderweg ist – gegen die ideologischen Konstrukte einer in sich geschlossenen Geschichte – als ein Interaktionsprozess zu verstehen, der durch Verflechtungen und Begegnungen mit anderen Kulturwelten geprägt wurde. Das bedeutet keine apriorische Abwertung der internen Dynamik; es wird vielmehr auf die permanente Wechselwirkung interner und externer Faktoren verwiesen, wobei die Formen dieser Interaktion und die relativen Gewichte von Fall zu Fall variieren. Mit dieser Thematik hat sich Max Weber kaum beschäftigt. Es liegt zwar auf der Hand, dass sein begrifflicher Bezugsrahmen die Interaktion zwischen Zivilisationen nicht prinzipiell ausgeklammert hat. Herausragende Beispiele, wie etwa die Verbreitung chinesischer Erfindungen, hat er auch ausdrücklich erwähnt. Es zeichnet sich aber bei ihm kein Versuch ab, das Projekt der vergleichenden Zivilisationsanalyse in dieser Hinsicht auf eine ähnliche Weise weiterzuentwickeln wie im Hinblick auf die interne Geschichte. Heute gehören Verflechtung und Transfer zu den prominentesten Themen der Debatten über Globalgeschichte bzw. Weltgeschichte, während die Zivilisationsanalyse die Ergebnisse der historischen Forschung immer noch nicht voll assimiliert hat. Hier werde ich nur auf zwei Fragenkomplexe eingehen, die für die Problematik des Eurozentrismus besonders wichtig sind. Der eine bezieht sich auf die Anfänge des europäischen Sonderwegs, der andere auf den geschichtlichen Gipfelpunkt der europäischen Hegemonie.

Am Anfang steht der hochkomplizierte Prozess, den die Historiker früher als «Verfall und Untergang des römischen Reiches» bezeichnet haben, heute aber eher als eine «Transformation der römischen Welt» sehen (so der Titel eines gross angelegten gesamteuropäischen Forschungsprojekts). Der Paradigmenwechsel, um den es hier geht, wirft ein neues Licht auf die Beziehungen zwischen dem Reich und seinen «Barbaren», aber auch – und das ist in unserem Zusammenhang wichtiger – auf die Wechselbeziehungen der drei Zivilisationen, die das Imperium beerbt und den nie wieder von einem Machtzentrum beherrschten Mittelmeerraum aufgeteilt haben. Hier ist in exemplarischer Weise eine eurozentrische Denkfigur überwunden worden. Dies ist vor allem das Verdienst der Historiker, die seit den 1970er-Jahren ein neues Bild der Spätantike entwickelt und durchgesetzt haben. Eurozentrisch war die Vorstellung von Verfall und Untergang deswegen, weil sie einseitig die Entwicklung desjenigen Reichsteils privilegiert hat, aus dem dann später die westlich-christliche Zivilisation hervorgegangen ist. Das neue Paradigma unterstreicht die Bedeutung einer umfassenderen Konstellation. Während der formativen Phase haben die geopolitischen, ökonomischen und kulturellen Beziehungen zwischen den drei Nachfolgern der griechisch-römischen Antike – der byzantinischen, der islamischen und der westlich-christlichen Welt – die Spielräume bestimmt, innerhalb derer jede der drei Zivilisationen sich entfalten bzw. behaupten konnte (am augenfälligsten sind die Auswirkungen der frühen islamischen Expansion). Später wurde die Entwicklung in Westeuropa auf vielfältige Weise durch Kontakte mit den beiden benachbarten Zivilisationen beeinflusst. Die bekannte Rolle byzantinischer und islamischer Vermittler bei der westlich-christlichen Wiederaneignung des klassischen Erbes ist wohl leichter zu verstehen, wenn wir die drei interagierenden Kulturwelten als Angehörige eines gemeinsamen Zivilisationsstammbaums sehen, der den Hintergrund zur Formierung Europas bildet.

In der modernen Phase mündete der europäische Sonderweg in eine globale Hegemonie, die zu einem grossen Teil die Form kolonialer Herrschaft annahm. Da ich die Schwächen der postkolonialen Kritik des Eurozentrismus oben unterstrichen habe, ist es angebracht, hier ihren massiven Wahrheitsgehalt zu betonen: Es ist nicht zu bestreiten, dass die geschichtliche Erfahrung und die Folgen des Kolonialismus in massgeblichen Interpretationen der Moderne unterbelichtet sind. Hier kann man mit Fug und Recht von einer andauernden eurozentrischen Unausgeglichenheit reden. Für die klassische Soziologie war der Kolonialismus kein wichtiges Thema, und er hat auch in der späteren Modernisierungstheorie keine angemessene Behandlung erfahren. In der neueren Diskussion über «multiple modernities» wird er thematisiert, aber noch nicht in systematischer Weise. Die historische Forschung ist in dieser Hinsicht sehr viel weiter gekommen; die historische Soziologie und die Theorie der Moderne können an ihre Ergebnisse anknüpfen. Es geht dabei nicht nur um die vielschichtige Problematik der kolonialen Moderne, sondern auch – und in unserem Zusammenhang vor allem – um die Verflechtung der europäischen Expansion im Allgemeinen und des Kolonialismus im Besonderen mit den internen Transformationen der westlichen Machtzentren. Die folgenden abschliessenden Bemerkungen werden den letzteren Aspekt in sehr selektiver Weise erläutern.

Die Revolutionen, die Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts die Grundstrukturen der westlichen Moderne geändert haben, sind nur im Zusammenhang mit Machtstrukturen und -kämpfen in Übersee zu verstehen. Die britisch-französischen Kämpfe um koloniale Besitzungen, die amerikanische und die französische Revolution sowie die napoleonischen Kriege und der Eintritt des britischen Weltreichs in eine neue Phase waren, so gesehen, Teilaspekte eines globalen Prozesses. Am überzeugendsten sind diese Verflechtungen von C.A. Bayly analysiert worden (Bayly 2004 – wohl der gelungenste Versuch einer globalen Geschichte des langen 19. Jahrhunderts). Etwas weniger schlüssig ist die Debatte über die industrielle Revolution. Es gilt mittlerweile als gesichert, dass die wirtschaftliche Überflügelung Chinas durch den Westen (speziell Grossbritannien) später stattgefunden hat als die Historiker früher angenommen haben; die erste industrielle Revolution hat sich erst im zweiten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts voll ausgewirkt. Umstritten ist, wie wichtig die kolonialen Besitzungen – und anschliessend auch die postkoloniale Plantagenwirtschaft – in der neuen Welt für den industriellen Take-off in Europa waren. Dasselbe gilt für den Prozess, den einige Historiker als «de-industrialization of India» bezeichnet haben. Als Gesamtcharakteristik dürfte Baylys Formulierung (2004, S. 418) aber im Wesentlichen unanfechtbar sein: «Britain at the point of ‘takeoff’ industrialization had the largest tributary peasantry in the world, in Highland Scotland, Ireland, India, and Africa.»

Schliesslich ist noch an den kolonialen Kontext des Zusammenbruchs der europäischen Zivilisation im Jahre 1914 zu erinnern. Die weithin akzeptierte Meinung, der Erste Weltkrieg sei vor allem der entfesselten Rivalität der Nationalstaaten und Nationalismen zuzuschreiben, hat diesen Hintergrund verdunkelt. Wenn wir aber davon ausgehen, dass es sich in erster Linie um den Zusammenbruch einer multi-imperialen Zivilisation handelte, wird es leichter, die Wechselwirkung der innereuropäischen und der globalen Faktoren zu verstehen. Den Imperien traditionellen Typs standen andere gegenüber, die auf ausgedehnten kolonialen Besitzungen basierten. Die Grossmächte, die in der Konkurrenz um Kolonien zu kurz gekommen waren, haben Kompensationsstrategien entwickelt, die dann in einer zweiten Runde extrem radikalisiert wurden. Diesen Zusammenhang zwischen Imperialismus, Kolonialismus und der europäischen Zivilisationskrise in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hat Hannah Arendt in ihrem grossen Werk über den Totalitarismus richtig gesehen, wenn auch nicht in jeder Hinsicht überzeugend dargestellt. Die heutige Diskussion hat aber diesen Aspekt ihrer Zeitdiagnose auffallend vernachlässigt.

Johann P. Arnason ist Professor em. für Soziologie, La Trobe University und Autor u.a. von The Roman Empire in Context: Historical and Comparative Perspectives (hg. mit K.A. Raaflaub, 2010), Axial Civilizations and World History (hg. mit S. Eisenstadt und B. Wittrock, 2005), Civilizations in Dispute: Historical Questions and Theoretical Traditions (2003).

Der Artikel stammt aus dem neulich erschienenen und von Shalini Randeria herausgegebenen Buch “Border Crossings”.

Literatur

Bayly, C.A. (2004): The Birth of the Modern World, 1780–1914. Oxford, Blackwell.

Brague, Rémi (2002): Eccentric Culture: A Theory of Western Civilization. South Bend, Indiana: St Augustine’s Press. (Französische Originalausgabe: Europe: La voie romaine, 1992).

Brague, Rémi (2006): «Is There Such a Thing as Eurocentrism?», in G.Delanty (ed.), Europe and Asia Beyond East and West. London, Routledge, pp. 257–268.

Frank, Andre Gunder (1996): ReOrient: Global Economy in the Asian Age. Berkeley: University of California Press.

Hobson, John M. (2004): The Eastern Origin of Western Civilization. Cambridge: Cambridge University Press.

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