Was ist zu tun? Der Krieg, der Westbalkan und die EU

Europe's Futures

Sechs Lösungsansätze für die sechs Westbalkanstaaten

Redaktion: Zoran Nechev und Tim Judah

Koautorinnen und -autoren: Nikola Dimitrov, Srdjan Cvijić, Isabelle Ioannides, Zoran Nechev, Ioannis Armakolas, Oana Popescu, Valbona Zeneli, Stefan Lehne und Rosa Balfour


Danksagung: Wir danken Hedvig Morvai, Goran Svilanović, Dimitar Bechev, Peter Grk und Ivan Vejvoda für ihre Anregungen bei der Erstellung dieses Positionspapiers sowie der ERSTE Stiftung und dem Institut für die Wissenschaften vom Menschen für ihren Beitrag zu dieser Studie.  
 

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine verändert alles. 

Er bedeutet das Ende aller Gewissheiten und Annahmen der jüngsten Vergangenheit. Die Sicherheit und Stabilität in ganz Europa sind bedroht. 

Ein Militäreinsatz gegen Georgien und die Republik Moldau, zwei mit der EU assoziierte Länder, ist nicht auszuschließen und Wladimir Putin hat seinen unheilvollen Einfluss von Paris nach Budapest und Belgrad verlagert. [1] 

Anders als 2014 nach der Annexion der Krim und dem Konflikt in der Ostukraine hat die groß angelegte Invasion der Ukraine eine historische, heftige und weitreichende Reaktion seitens der EU ausgelöst.
 
Der Krieg darf die EU jedoch nicht vom Westbalkan ablenken. Gerade wegen des Kriegs muss auch der westliche Balkan im Auge behalten werden. 

Seit Jahren lauert Russland auf seine Chance und weiß die ungelösten Konflikte in Bosnien und Herzegowina, im Kosovo und sogar in Nordmazedonien für sich zu nutzen. Wladimir Putin unterhält enge Beziehungen zum serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić, und das Vorgehen des bulgarischen Präsidenten Rumen Radev ist den Interessen Russlands in der Region dienlich.

Weiterzumachen wie bisher wäre ein strategischer Fehler. Es würde bedeuten, schlafwandlerisch in die Katastrophe zu schlittern.

Die Staats- und Regierungschefs der EU müssen die Gunst der Stunde nutzen und in größeren Zusammenhängen denken. Was den Westbalkan anbelangt, ist rasches und entschlossenes Handeln gefragt, um den Erweiterungsprozess wieder in Gang zu bringen – nicht nur um der sechs nicht zur EU gehörenden Balkanstaaten (Serbien, Kosovo, Bosnien und Herzegowina, Nordmazedonien, Montenegro und Albanien) willen, sondern auch im Sinne einer verstärkten Sicherheit für ganz Europa.
 
Die EU-Integration der Westbalkanstaaten muss als ein Gewinn für alle Beteiligten verstanden werden. Mit diesem Positionspapier soll erläutert werden, warum es von entscheidender Bedeutung ist, dass der Erweiterungsprozess wieder an Dynamik gewinnt. 

Vielen ist klar, warum eine EU-Mitgliedschaft für die sechs Westbalkanstaaten (WB6) gut wäre. Unklar ist jedoch, warum sie für die EU und ihre Mitgliedstaaten von Vorteil wäre. Die Antworten sind einfach:
 
Erstens kann der Beitrittsprozess ein für alle Mal chronische, instabilitätsverursachende Probleme lösen, die der Kreml für seine eigenen Zwecke instrumentalisieren kann (was er auch tut) und die, wenn sie nicht gelöst werden, für die EU in einer Region, die sie völlig umschließt, zu neuen Problemen führen werden.
 
Zweitens kann der Prozess im Zuge der Reformbestrebungen der EU und ihrer Versuche, sich für die Zeit nach dem Krieg in der Ukraine, nach dem Brexit, der Pandemie usw. zu rüsten, zur Erarbeitung von Lösungen genutzt werden. 

Die EU muss, um sich zu schützen, auch ihren politischen Willen in Bezug auf den Westbalkan, die Ukraine, Moldau und Georgien wiederfinden. Mit konkreten Schritten, die diesen Ländern zeigen sollen, dass sie genauso Teil des gemeinsamen Hauses Europa sind wie Portugal und Polen, kann die Union dazu beitragen, EU-feindliche Gegennarrative, Desillusionierung und künftige Frustrationen zu verhindern.
 
Unsere Vorschläge sollen als Grundlage für weitere Diskussionen dienen. Sie bauen auf Ideen auf, die von einer Reihe von Thinktanks zur Wiederbelebung des Erweiterungsprozesses entwickelt wurden.[2]   


Der Erweiterungsprozess ist tot …

Die Glaubwürdigkeit des derzeitigen EU-Erweiterungsprozesses in den westlichen Balkanländern ist auf einem historischen Tiefpunkt. 

Der theoretische, leistungsbasierte Prozess belohnt die Reformer nicht mehr. Ernsthafte Maßnahmen der EU gegen den Rückschritt der Demokratie auf dem Balkan fehlen aus politischen Gründen. 

Stattdessen wird der Beitrittsprozess häufig durch Vetos einzelner Mitgliedstaaten gelähmt, die in keinerlei Zusammenhang mit den wirtschaftlichen und demokratischen Bedingungen stehen, die den Prozess eigentlich bestimmen sollten. Dies wiederum bedeutet, dass es zu einem Ding der Unmöglichkeit wird, einen Konsens zwischen den EU-27 zu finden. Die Blockade der Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit Nordmazedonien durch Bulgarien ist ein typisches Beispiel dafür.

Gerade im Namen dieser demokratischen Bedingungen hat die EU auf Drängen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron ihre Beitrittsmethodik angepasst, um den Prozess glaubwürdiger, dynamischer und berechenbarer zu gestalten. Drei Jahre später wartet Macrons Vision für den Westbalkan, die in die neue Methodik eingeflossen ist, noch immer auf ihre Umsetzung, und die Anziehungskraft der EU schwindet zusehends.

Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen ihr Augenmerk auf eine visionäre und pragmatische Kosten-Nutzen-Analyse als rationale Grundlage für die Wiederbelebung des Erweiterungsprozesses richten.
 
Seit Jahren geht aus den Berichten der Europäischen Kommission zum Fortschritt der Reformen auf dem westlichen Balkan klar hervor, dass Albanien und Nordmazedonien für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen bereit sind. Durch die ständigen Verzögerungen besteht die Gefahr konkurrierender Zukunftsvisionen. Die Konkurrenten der EU in der Region offerieren alternative Finanzierungsquellen und damit auch alternative geopolitische Visionen. 

Der Verlust der Glaubwürdigkeit der EU auf dem Westbalkan hat Auswirkungen auf die Ukraine, Georgien und Moldau. Wie glaubwürdig das Bekenntnis der EU zu den europäischen Bestrebungen dieser neuen Beitrittskandidaten ist, wird ganz davon abhängen, inwieweit der Erweiterungsprozess für diejenigen, die bereits seit Jahren darauf hinarbeiten, greifbare Ergebnisse bringt.

Den westlichen Balkanländern wurde bereits im Jahr 2000 [3] eine „europäische Perspektive“ zugesichert. „Setzt eure Reformen um und ihr seid dabei“, lautete der Deal. 

Den Menschen in der Ukraine, in Georgien und Moldau drohen also Enttäuschung und Desillusionierung, wenn die EU nicht bald eine neue Dynamik in den Westbalkan-Prozess bringt. 

 

… wozu die Mühe? 

Es liegt im Eigeninteresse der EU, den Erweiterungsprozess wiederzubeleben, denn der Westbalkan ist ein entscheidendes Element für die Sicherheit Europas. 

Aufgrund seiner geografischen Lage sind die Stabilität, die Sicherheit und die demokratische Widerstandsfähigkeit des westlichen Balkans untrennbar mit der Stabilität, Sicherheit und demokratischen Widerstandsfähigkeit der EU selbst verbunden.

Angesichts des aktuellen Eroberungskriegs in der Ukraine und des damit einhergehenden Großangriffs auf die europäische Sicherheitsordnung liegt es im strategischen Interesse der EU, alle gleichgesinnten Länder an sich zu binden, indem diese sich an ihre Vision eines regelgestützten Systems halten. 

Die EU kann dies nur durch Wiederankurbelung des ins Stocken geratenen Beitrittsprozesses gleichgesinnter Westbalkanländer erreichen. Wenn die EU nicht in der Lage ist, die Länder, die sie von allen Seiten umschließt, für sich zu gewinnen, wird sie weder strategische Autonomie erreichen noch eine globale Rolle spielen können.

Der Westbalkan ist das Stück, das in Europas Puzzle zur Schaffung eines integrierten und kohärenten geopolitischen Raums noch fehlt.
 
Die EU wird die drohenden Energie-, Nahrungsmittel- und Handelskrisen nicht ohne Mithilfe ihrer regionalen Partner bewältigen können. Die Förderung einer gegenseitigen Vernetzung in jeder Hinsicht, vom Bau von Pipelines bis hin zur Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur, ist nicht nur für die Kandidatenländer, sondern auch für die EU von entscheidender Bedeutung. 

Den Adriahäfen kommt durch die Blockade von Odessa und anderen Häfen am Schwarzen Meer ein neuer Stellenwert zu. Im Ringen um alternative Exportrouten über das Schwarze Meer, die Ostsee und die Adria ist auch das Potenzial für LNG-Importe über dieselben Routen im Hinblick auf die bevorstehende Diversifizierung weg von Russland von Bedeutung. 

Bei der Abwägung dieser Optionen können es sich die EU-Mitgliedstaaten nicht leisten, die Kontrolle über strategische Infrastrukturen an China, Russland oder die Golfstaaten abzugeben, noch sollten sie der Türkei bei großen Infrastrukturprojekten auf dem westlichen Balkan freie Hand lassen. 

Kurz gesagt: Jede Vision und Planung für die strategische Autonomie der EU und die europäische Souveränität wird ernsthaft untergraben, wenn die für die europäische Sicherheit entscheidende Westbalkanregion für geopolitische Zwecke weiterhin zur Disposition steht. Für die EU ist es unerlässlich, geopolitische Konkurrenten oder Gegner aus der Region fernzuhalten, die, um Präsident Macron zu zitieren, „im Herzen Europas“ liegt.

Die EU-Integration des Westbalkan kann aber auch als Katalysator für die internen Reformen der Union dienen.

Die in der Vergangenheit dominierende Vorstellung, dass die Erweiterung eine Vertiefung und Reformierung der EU verhindert hat, ist überholt. Aufgrund mehrerer aufeinanderfolgender Krisen ist die EU-Agenda der Vertiefung weit über das hinausgegangen, was noch vor wenigen Jahren vorstellbar war. 

Beispiele hierfür sind die Wirtschaftsunion nach der globalen Finanzkrise von 2008, unterschiedlichste GSVP-Missionen nach der explosionsartigen Zunahme von Konflikten und Instabilität in den südlichen Nachbarländern und die Stärkung der migrations- und sicherheitspolitischen Instrumente und Institutionen nach der Migrationskrise 2015. In den 1990er- und 2000er-Jahren unternahm die EU parallel zur Erweiterung stets wichtige Schritte zur Vertiefung und Reform.

Die Erweiterung steht also einer EU-Reform nicht mehr im Wege, wie dies einst dargestellt wurde. Vielmehr bietet die Wiederbelebung des Erweiterungsprozesses den Mitgliedstaaten eine noch nie dagewesene Chance für weitreichende Reformen innerhalb der EU.

Frankreich, Deutschland und andere reformwillige Mitgliedstaaten tun gut daran, die wahrgenommene „Bedrohung durch die Erweiterung“ als „Chance für Reformen“ zu sehen. Sie können die Frage der Beitrittsperspektiven nutzen, um illiberalen und reformfeindlichen Kräften innerhalb der EU die Stirn zu bieten.  

Die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten sind sich des Zusammenhangs zwischen dem Krieg in der Ukraine und der Notwendigkeit, den Westbalkan geopolitisch an sich zu binden, durchaus bewusst. Aber die Reformierung und institutionelle Aufwertung der Union wird nicht trotz, sondern gerade wegen der Erweiterung stattfinden. 

Ein realistisches Beitrittsszenario für die WB6 bietet den reformwilligen Mitgliedstaaten einmalige Möglichkeiten, den EU-internen Widerstand gegen größere institutionelle und politische Umbildungen zu bremsen. Der Vorschlag, den neuen Mitgliedstaaten im Vorgriff auf und unter der Bedingung einer Vereinfachung des gesamten Entscheidungsprozesses der Union das Recht, mit qualifizierter Mehrheit abzustimmen, aber kein Vetorecht beim Beitritt einzuräumen, ist ein konkreter Punkt. [4] Die Dichotomie zwischen den Befürwortern der Erweiterung und den Befürwortern der EU-Reform ist falsch und daher abzulehnen. 

Die Planung der Energiesouveränität erfordert regionale Stabilität und verlässliche Partnerschaften auf der Grundlage gemeinsamer Regeln und Werte zwischen der EU und ihren Nachbarn. Das Gleiche gilt für alternative Handelsrouten und umfassende Regelungen für den Umgang mit irregulärer Migration und Umweltbedrohungen, die in diesen Tagen durch Russlands Angriff auf die Ukraine noch verschärft werden. Was Russland anbelangt, sollten wir eines nicht vergessen: Für Russland geht es nicht darum, die Nachbarländer der EU zu destabilisieren, sondern darum, die Interessen der EU und letztendlich die Stabilität der Union zu konterkarieren.

Die lange Zeit gängige Meinung, dass die EU durch die Erweiterung keine Probleme in die Union „importieren“ sollte, ist ebenfalls als überholt anzusehen. 

Illiberale Klientelstaaten auf dem Westbalkan werden die europäische Sicherheit auch dann untergraben, wenn sie nicht in die EU aufgenommen werden. Ganz nach dem Motto: Gute Nachbarn – gute Nachbarschaft. Treten die Länder des westlichen Balkans nicht der EU bei, werden sie unter dem Einfluss illiberaler Ideen und von Verbündeten der EU-Gegner, sowohl innerhalb als auch außerhalb der EU, dazu beitragen, dass Europa an Sicherheit und Fortschritt einbüßt.
 
Demokratie und europäische Werte sind eine Bedrohung für illiberale und autokratische Kräfte. Die Natur duldet kein Vakuum. Wenn die progressiven und liberalen Europäerinnen und Europäer ein solches schaffen, dann werden die Bereiche Regierungsführung, Geopolitik, Sicherheit und Verteidigung von illiberalen Europäerinnen und Europäern und den Feinden und Konkurrenten der EU besetzt. Auf dem Westbalkan ist dieses Ringen bereits seit Jahren in vollem Gange. 

Durch die Wiederbelebung demokratischer Reformen, die Förderung der Angleichung im Bereich Außen- und Sicherheitspolitik und durch die erneute Bekräftigung, dass die Westbalkan-Länder als neue Mitgliedstaaten willkommen sind, wird die EU konkurrierenden und negativen illiberalen Einflüssen Einhalt gebieten können.

Die Zeit zum Handeln ist jetzt.


Sechs Lösungsansätze für die sechs westlichen Balkanländer

Der Ukraine, der Republik Moldau und Georgien eine Beitrittsperspektive zu geben, wird den bestehenden Erweiterungsprozess erschüttern. Aber bei diesen Ländern einfach auf eine bereits gescheiterte Methode zurückzugreifen, würde nur zu Stagnation und Frustration auf beiden Seiten führen. Um positive Ergebnisse zu erzielen, muss der Prozess flexibler, dynamischer und lohnender werden. Die Anpassung der bestehenden Methodik an die neuen Herausforderungen sollte auf den folgenden Grundsätzen beruhen:

1.    Konsequente Fokussierung auf wesentliche Elemente – Rechtsstaatlichkeit, demokratische Standards und Wirtschaftsreformen –, um Fortschritte im Bereich Regierungsführung zu fördern und Rückschritte zu verhindern. Dieser Grundsatz ist in der neuen Methodik ebenso enthalten wie in der vorherigen, mit der Serbien und Montenegro die Verhandlungen eröffnet haben. Die Praxis hat jedoch gezeigt, dass die Kommission und die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung oft ein Auge zudrücken. Die jüngste Bilanz einiger Mitgliedstaaten in diesen Bereichen erschwert zudem die Fokussierung auf wesentliche Elemente, da der Eindruck entsteht, Länder wie Ungarn, Polen, Bulgarien und andere stünden schlechter da als die Kandidaten. Aufnahme in die EU-Überwachungsmechanismen wie den Rechtsstaatlichkeitsbericht, das EU-Justizbarometer, das Europäische Semester u. a., um dem Eindruck entgegenzuwirken, dass die Erweiterung die demokratischen Standards in der EU verwässern könnte. Dies wird den Beitrittskandidaten die Möglichkeit geben, nicht nur untereinander zu konkurrieren, sondern sich auch mit den Besten in der EU zu messen und zugleich ihre Reformdefizite und Stolperfallen aufzudecken.

2.    Die schrittweise Einführung der Kandidatenländer in verschiedene Bereiche der EU-Integration würde institutionelle Kapazitäten aufbauen und die Zusammenarbeit und das Vertrauen zwischen den Kandidaten und den Mitgliedstaaten fördern. Die Kommission sollte in Abstimmung mit den Mitgliedstaaten und den Beitrittsländern auf mutige Vorschläge für die schrittweise Einführung von EU-Politiken hinarbeiten, die für alle von Interesse sind, z. B. das Paket „Fit für 55“ zur Energie- und Klimapolitik. Dies ist zwar bereits in der neuen Methodik und den Entwürfen der Verhandlungsrahmen für Nordmazedonien und Albanien vorgesehen, doch eine klarere Definition der schrittweisen Einführung würde rechtzeitig Anreize für Reformen bieten. Ein Beispiel hierfür könnte die Teilnahme am EU-Binnenmarkt als vorrangiges Zwischenziel für alle interessierten Beitrittsländer sein. Sobald sich die Länder an die unter den Cluster Binnenmarkt fallende Wirtschaftspolitik und die wirtschaftlichen Kriterien und die damit verbundenen Kapitel innerhalb des Clusters wesentliche Elemente angleichen und die erforderlichen Wirtschaftsstandards erfüllen, sollten sie unabhängig von ihrem Status mit der Teilnahme am Binnenmarkt als Vollmitglied belohnt werden. Dies könnte eine der schrittweisen Maßnahmen für diejenigen sein, die noch keine Beitrittsverhandlungen aufgenommen haben. 

3.    Verstärkte Sozialisierung (auch finanziell) in europäischen Institutionen: Die Erfüllung konkreter Kriterien und Standards in bestimmten Bereichen sollte mit gezielter finanzieller Unterstützung aus den heute den EU-Mitgliedstaaten vorbehaltenen Fördermitteln belohnt werden. Zusätzlich sollte den Beitrittskandidaten auch die Teilnahme und Mitwirkung an den Sitzungen des Rates und seiner Ausschüsse in bestimmten Politikbereichen als Beobachter ohne Stimmrecht ermöglicht werden. Eine stärkere Angleichung innerhalb eines Kapitels bzw. Clusters würde sich in einer Erhöhung der Mittel und dem Recht auf Teilnahme an Sitzungen niederschlagen. Die Angleichung der Außenpolitik ist unter den derzeitigen Umständen äußerst wichtig, hat jedoch ihren Preis. Abgesehen von den Wertargumenten stellen diese Maßnahmen der Angleichung eine Belastung dar, die solidarisch geteilt werden sollte. Ein Recht auf Teilnahme an Sitzungen würde auch die Sozialisierung der Vertreterinnen und Vertreter der Region innerhalb der Organisationskultur der EU fördern. 

4.    Früherer Zugang zu Strukturfonds, um die Kluft im Bereich der Finanzhilfen zwischen den Kandidaten und den Mitgliedstaaten zu verringern und die sozioökonomische Konvergenz zu fördern. Der Westbalkan ist eine der sozioökonomisch schwächsten Regionen Europas. Eine frühere und schrittweise Aufstockung der Finanzhilfen würde die sozioökonomische Entwicklung beschleunigen. Dies wiederum würde die Abhängigkeit der Region von chinesischen Finanzierungsquellen verringern, die faktisch zu einer Verschuldung der Länder führen. Darüber hinaus würde eine verbesserte Umsetzung der Vorschriften und Verfahren zur Regulierung der EU-Strukturfonds die Absorptionskapazitäten der Region lange vor ihrem Beitritt stärken. 

5.    Gleichstellung der außen- und sicherheitspolitischen Konditionalität mit der derzeitigen Fokussierung auf wesentliche Elemente. Dies würde auch bedeuten, dass das Gleichgewichtsprinzip auf den Cluster Außenbeziehungen angewandt wird. In dem neuen geopolitischen Umfeld sollten wesentliche Elemente und Außenbeziehungen die beiden Säulen sein, die über Fortschritte bzw. Rückschritte im Beitrittsprozess oder eine mögliche engere Assoziierung entscheiden. Eine erweiterte und umfassende Koordinierung der GASP sollte drei miteinander verknüpfte Komponenten umfassen, die zusammen einen hohen Stellenwert im Konditionalitäts- und Beitrittsprozess erhalten: 1) Eine außen- und sicherheitspolitische Komponente, die sich auf die Angleichung an die EU bei wichtigen außenpolitischen Entscheidungen konzentriert; 2) „weiche“ Sicherheit und erweiterte Zusammenarbeit in bestimmten Politikbereichen wie Grenzsicherheit, Energie und Cybersicherheit und 3) eine Komponente für die Zusammenarbeit im Bereich Verteidigung, die sich auf die Umsetzung von Fahrplänen zur Angleichung und schrittweisen Aufnahme der Beitrittskandidaten in Plattformen und Institutionen der EU-Verteidigungszusammenarbeit wie die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (SSZ) konzentriert.

6.    Vereinfachung des Entscheidungsprozesses zur Erweiterung, um die Zahl der Vetos zu verringern. Ohne die Einführung einer qualifizierten Mehrheit im EU-Erweiterungsprozess, sprich bei der Anwendung der neuen Methodik, würde die Erweiterung endlos durch einen einzelnen enttäuschten oder in erpresserischer Absicht agierenden Mitgliedstaat blockiert werden. Das Einstimmigkeitsprinzip bei Entscheidungen im Beitrittsprozess lässt sich von den Mitgliedstaaten leicht als Vorwand nutzen, die Erweiterung aufgrund bilateraler Streitigkeiten oder ihrer eigenen Innenpolitik zu stoppen, insbesondere wenn es sich um Mitgliedstaaten handelt, deren Erfolgsbilanz in Sachen Demokratie und Rechtstaatlichkeit umstritten ist. Die Notwendigkeit, den Entscheidungsprozess gegen den Missbrauch von Vetorechten zu schützen und gleichzeitig zu vereinfachen, ist unabdingbar. Die Einführung einer qualifizierten Mehrheit für Ratsbeschlüsse — 55 Prozent der Mitgliedstaaten, die mindestens 65 Prozent der gesamten EU-Bevölkerung repräsentieren — für alle Zwischenstufen der EU-Beitrittsverhandlungen zur Überprüfung der Fortschritte eines Kandidatenlandes würde den Prozess fairer und effektiver machen. Der Beschluss über die Aufnahme eines Kandidatenlandes in die EU würde weiterhin Einstimmigkeit erfordern. 

 

Auf nach Paris! 

Der Vorschlag von Präsident Macron, während der französischen Ratspräsidentschaft eine Konferenz zum Westbalkan zu organisieren, ist eine gute Gelegenheit für die EU, ihre strategische Zusammenarbeit mit den Westbalkanstaaten zu intensivieren. Dies würde folglich die strategische Autonomie der EU weiter stärken.

Die Vorstellung der Schaffung einer europäischen politischen Gemeinschaft trägt der kriegsbedingten Notwendigkeit Rechnung, den Kontinent strategisch zu vereinen. Die Konferenz sollte unmissverständlich bekräftigen, dass dieser strategische Kreis die EU-Erweiterung in vollem Umfang unterstützen würde. Die Mitglieder der europäischen politischen Gemeinschaft können ihre Ziele verfolgen, was im Falle des Westbalkan die Vollmitgliedschaft in der EU bedeutet.

Zur Förderung einer politischen und öffentlichen Debatte über den EU-Beitrittsprozess der westlichen Balkanstaaten sollte innerhalb einer in Paris ansässigen Institution eine Westbalkanzentrale eingerichtet und ein Stipendienprogramm ins Leben gerufen werden, um den Austausch zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen aus den westlichen Balkanstaaten, Thinktanks und französischen Organisationen zu fördern.

Die Detailfragen des Prozesses sind für das Schicksal des EU-Beitritts der Westbalkanländer nicht maßgeblich. Der Prozess kann nicht wichtiger sein als die Ergebnisse. Entscheidend ist der politische Wille der EU-Mitgliedstaaten, den Beitritt dieser Länder voranzutreiben. 

Daher bietet dieses Positionspapier Argumente, diesen politischen Willen nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine wieder zu erlangen. Zudem werden die wichtigsten Prinzipien dargelegt, auf deren Grundlage der Prozess zu Ergebnissen führen würde. Das bestehende Instrumentarium für den EU-Beitritt ermöglicht die Einbeziehung dieser Grundsätze mit nur geringfügigen Änderungen der derzeitigen Regelungen und Verfahren. Die Einbeziehung dieser Grundsätze in den Prozess erfordert keine Vertragsänderung. 

In der Politik ist Timing alles. Die Zeit ist reif und die Umstände günstig. Die EU wurde auf den Trümmern eines Kontinents errichtet, der durch den Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Mehr als zwei Jahrzehnte nach den jugoslawischen Bürgerkriegen braucht die EU einen erneuten und energischen Integrationsschub, der dem Erweiterungsprozess mit den Ländern des Westbalkans frischen Schwung verleiht. Dies würde folglich die strategische Autonomie der EU weiter stärken.


 

Endnoten:

[1] Das Gleiche gilt für die außenpolitischen Erklärungen der EU und ihre Position zu China. Die Angleichung Serbiens an die GASP liegt insgesamt unter 50 % - der mit Abstand schlechteste Wert in den Westbalkanstaaten.
    
[2] European Stability Initiative, „Hamster in the Wheel. Credibility and EU Balkan Policy“, Januar 2020.  https://esiweb.org/sites/default/files/reports/pdf/ESI%20-%20Hamster%20in%20the%20Wheel%20-%2015%20January%202020_0.pdf; Michael Emerson et al., „A template for Staged Accession to the EU“, Centre for European Policy Studies and European Policy Centre Belgrade, Oktober 2021. https://www.ceps.eu/wp-content/uploads/2021/10/A-Template-for-Staged-Accession-to-the-EU.pdf; Srdjan Cvijić und Adnan Ćerimagić, „Rebuilding Our House Of Cards: With More Glue“, Institute for Democracy und Institut für die Wissenschaften vom Menschen (Europe’s Fellows Programm), November 2020. https://idscs.org.mk/wp-content/uploads/2020/11/9_A5_REBUILDING-OUR-HOUSE-OF-CARDS_WITH-MORE-GLUEENG.pdf   


[3] Das erste Mal wurde die europäische Perspektive der Balkanländer auf dem Zagreber Gipfel im Jahr 2000 zugesichert: https://reliefweb.int/report/albania/balkans-zagreb-summit-24-nov-2000-final-declaration 

[4]
  Dieser Vorschlag kam erstmals von Srdjan Cvijić und Adnan Ćerimagić in „Rebuilding Our House Of Cards: With More Glue“ (vgl. Endnote ii) und Zoran Nechev https://twitter.com/srdjancvijic/status/1323547610599227392?s=20&t=zB4ttFd63QAb0EcLBdRs2w