Die Impfung – ein knappes Gut? Europa im Diskurs-Debatte

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Fotocredit: Robert Newald, The participants in the debate sit on stage beneath a large screen reading Europa im Diskurs

Der Theatersaal des Burgtheaters musste nicht nur zum Bedauern von Direktor Martin Kušej erneut leer bleiben – doch virtuell verfolgten am Sonntagvormittag zahlreiche Zuschauer*innen die Europa im Diskurs-Debatte zum Thema „Die Impfung – ein knappes Gut?“. In dieser Livestream-Premiere versammelten sich Expertinnen und ein Experte auf der Bühne, um abseits der tagespolitischen Debatten und genau ein Jahr, nachdem die WHO den Covid-19-Ausbruch zur Pandemie erklärt hatte, um die weltweite Verteilung und Knappheit von Impfstoffen sowie die Bedeutung von globaler Solidarität in der Krise zu diskutieren. Gesundheitsminister Rudolf Anschober hätte auch mit auf der Bühne sitzen sollen, musste seine Teilnahme an der Debatte jedoch krankheitsbedingt absagen.

Die gegenwärtige Situation ist für Shalini Randeria, Rektorin des IWM und Moderatorin der Diskussion, durch Paradoxien gekennzeichnet. Ein solches Paradoxon sei eine trotz der beobachtbaren massiven gesundheitlichen Folgen von Covid-19 weit verbreitete Impfskepsis in Teilen der Bevölkerung. Barbara Prainsack, Leiterin des Instituts für Politikwissenschaften an der Universität Wien und der Studie Solidarity in Times of a Pandemic (SolPan)  sowie Mitglied der Österreichischen Bioethikkommission, verweist auf aktuelle Forschungen, die durch die Kombination aus quantitativen und qualitativen Forschungsmethoden einen nuancierten Blick auf dieses Phänomen ermöglichen. Es müsse differenziert nach Motivationen derjenigen gefragt werden, die sich jetzt nicht unmittelbar impfen lassen wollen, betont Prainsack. Erst durch qualitative Interviews würde ersichtlich, dass häufig auch jene zu den „Impfskeptikern“ gezählt werden, die Impfstoffe schlichtweg zunächst bedürftigeren Menschen zur Verfügung stellen wollen. Zudem sei zu beobachten: Die Impfbereitschaft steige mit zunehmendem Informationsgrad und mit der Aussicht, sich selbst und andere schützen zu können, so die Politologin Katharina T. Paul, die ebenfalls für die multinationale Studie SolPan forscht.

Während die Frage der Impfskepsis im nationalen Kontext ein vieldiskutiertes Thema sei, müsse man sich vergegenwärtigen, dass „wir im globalen Vergleich Luxusdiskussionen führen“, so die Vakzinologin Ursula Wiedermann-Schmidt, Leiterin des  Instituts für Spezifische Prophylaxe und Tropenmedizin. Sie kritisiert eine „Überinformationspolitik“, die zu einem Vertrauensverlust in Impfstoffe und Zulassungsbehörden beitrage. Es gehe um die Rückkehr zu einer sachlichen Debatte, aber auch darum, die Situation in Europa im globalen Kontext zu bewerten. Dem pflichtete auch der aus Abuja, Nigeria zugeschaltete Marcus Bachmann (Advocacy & Humanitarian Affairs Representative für  Ärzte ohne Grenzen Österreich (MSF)) bei. In Ländern des Globalen Südens fehle vielfach jegliche Perspektive, überhaupt Zugang zu Impfstoffen zu erhalten, wovon besonders das Gesundheitspersonal massiv betroffen sei.

Ein zentraler Unterschied im Ländervergleich, so Katharina T. Paul, sei, dass Public Healthunterschiedlich verstanden und organisiert werde. Die schnelle Durchimpfung der israelischen Bevölkerung sei teilweise dadurch zu erklären, dass Israel auf bestehende Instrumente und gut funktionierende Impfregister zurückgreifen habe können. Auch skandinavische Länder, die im Gesundheitswesen schon länger auf Prävention gesetzt hätten, konnten sich bereits etablierter Strukturen bedienen, meint Wiedermann-Schmidt – in Österreich dagegen musste ein solches Impfregister erst etabliert werden.

The stage of the Burgtheater, with the panelists seated at a distance from each other. A large screen behind bears the name of the event in black and white.
Fotocredit: Robert Newald

Darüber hinaus, so Shalini Randeria, seien mit Blick auf die Knappheit von Impfstoffen ebenfalls Paradoxien erkennbar: Obwohl in Ländern des Globalen Südens sehr viele ungenützte Produktionskapazitäten vorhanden seien, gebe es einen Mangel an Impfdosen. Eine zentrale Ursache dafür seien bestehende Rechte zum Schutz geistigen Eigentums an Covid-19-Impfstoffen. Indien und Südafrika haben bei der Welthandelsorganisation ergebnislos einen sogenanntenpatent waiver eingebrachten, also einen Antrag auf Aussetzung des Patentschutzes für Covid-19-Impfstoffe, Medikamente und Geräte für die Dauer der Pandemie. Dies wurde jedoch von den USA, Großbritannien und der EU abgelehnt.

Dass solche Patente problematisch sind, unterstreicht auch Marcus Bachmann. Bestehende Produktionskapazitäten in Schwellenländern und Ländern des Globalen Südens können dadurch nicht genutzt werden, obwohl bereits jetzt sowohl das notwendige Know-how als auch geeignete Entschädigungsmodelle für die Patentinhaber*innen zur Verfügung stehen. Dabei handle es sich angesichts des langsamen roll-outs von Impfstoffen schlicht um eine Notwendigkeit, sich diese Produktionskapazitäten zugänglich zu machen. Für einen rasches Ende der Pandemie sei es zentral, dass „das derzeit bestehende Impfstoff-Oligopol überwunden wird“. Er ruft zudem in Erinnerung, dass erst ein globaler Pool an freien Lizenzen für HIV-AIDS im Jahr 2010 dazu geführt habe, dass Medikamente auf dem afrikanischen Kontinent leistbar wurden.

Als Vertreter der Interessen der Allgemeinheit habe der Staat die Aufgabe, Vakzine zur Verfügung zu stellen und stehe diesbezüglich in einem Spannungsverhältnis mit dem Schutz geistigen Eigentums, ergänzt Barbara Prainsack. In manchen Kontexten wirken geistige Eigentumsrechte auch innovationshemmend, daher sei Patentschutz kontextabhängig zu beurteilen. Wiedermann-Schmidt hingegen bewertet eine generelle Aufhebung jeglichen Patentschutzes kritisch und verweist darauf, dass die derzeitige Problematik einer Knappheit nicht auf die Entwicklung der Impfstoffe zurückzuführen sei, sondern darauf, dass nicht schnell genug produziert werden könne.

Ein weiteres Paradoxon: In einer Krise globalen Ausmaßes dominieren nationalstaatliche Denk- und Vorgehensweisen. Katharina T. Paul verweist darauf, dass Gesundheitspolitik traditionell eine nationalstaatliche Materie sei, die Krise biete jedoch eine Chance, etablierte Denkmuster zu durchbrechen. Eine Fokussierung auf den Nationalstaat, so auch Marcus Bachmann, sei schlicht unpraktikabel und führe dazu, dass gerade marginalisierte und vulnerable Gruppen unterversorgt bleiben. Vor diesem Hintergrund hält es Ursula Wiedermann-Schmidt für zentral, dass die WHO COVAX-Initiative, die einen weltweit gleichmäßigen und gerechten Zugang zu Covid-19-Impfungen ermöglichen will, nicht nur ein Lippenbekenntnis bleibt, sondern tatsächlich Umsetzung findet. Die Frage der globalen Solidarität sei aus moralischen und aus Public Health-Gründen von größter Relevanz.

Vor allem aber gehe es darum, eine globale Impfstrategie zu verfolgen und nationalstaatliche Denkmuster zu durchbrechen, sind sich die Diskutierenden einig: „In solchen Krisenzeiten muss globale Solidarität das Gebot der Stunde sein“, bekräftigt Shalini Randeria.

Europa im Diskurs ist eine Kooperation des IWM mit Burgtheater, Erste Foundation und DER STANDARD

 

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