Don’t Stand So Close To Me. Recht und soziale Regeln des „Social Distancing“

Corona Diary
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Kann sich irgendjemand an einen lebensweltlichen Einschnitt der jüngsten Vergangenheit erinnern, der allgemeiner, tiefergreifend und unmittelbarer gewesen ist als die derzeitigen Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus? Nur Kriegszeiten und politische Revolutionen führen üblicherweise solche rechtlichen und sozialen Normänderungen im Schlepptau. Und nicht einmal immer diese: Einen Tag nach Ausrufung der (deutschen) Republik am 9. November 1918 notiert der Theologe Ernst Troeltsch: „Die Bürger gingen in Massen wie gewöhnlich im Grunewald spazieren … Alles etwas gedämpft wie Leute, deren Schicksal irgendwo weit in der Ferne entschieden wird, aber doch beruhigt und behaglich, daß es so gut abgegangen war …. Auf allen Gesichtern stand geschrieben: Die Gehälter werden weiterbezahlt.“

Wirtschaftliche Sicherheit und Kontinuität des Alltags bildeten hier, vor mehr als 100 Jahren, eine behagliche Grundierung in Zeiten des politischen Umbruchs und Verfassungswandels. Aktuell befindet sich die Welt seit Mitte März 2020 in einer Corona-Revolution des privaten und öffentlichen Lebens, die wirtschaftliche Gewissheiten beseitigt, politische Regime verändert und alltägliche Umgangsformen auf den Kopf gestellt hat. In kürzester Zeit haben neue Regulierungen – meist unter dem unscharfen Label „Corona-Maßnahmen“ – unser hergebrachtes Verständnis von Staat und Gesellschaft tiefgreifend verändert und infrage gestellt.

Wollte man ein Symbol für Alltäglichkeit ebenso wie Kollektivität der Maßnahmen küren, so schiene mir die Chiffre des „social distancing“ am geeignetsten. „Social distancing“ wurde in kürzester Zeit Norm und Praxis der neuen Welt. Das Gebot, Sozialkontakte auf physische Distanz zu halten und körperliche Interaktion zu vermeiden, hätte sprachlich sicher präziser ausgedrückt werden können, weil es eben nicht um Distanz in sozialen Kontakten an sich, sondern nur um die potenziell infektiöse Körperlichkeit ging. Der Berliner Soziologe Steffen Mau spricht daher alternativ von der „Vermeidung physischer Kopräsenz von Menschen“, da es eigentlich um „ein anspruchsvolles distant socializing“ handele.

Aber vielleicht liegt gerade im unpräzisen Begriff „social distancing“ jene Wahrheit, die uns emotional plausibler erscheint: Wir erfahren Distanz zu anderen Individuen primär in Form einer Medialisierung des menschlichen Kontakts. Behördliche Kontaktverbote schränken privates und öffentliches Leben, Kultur und Wirtschaft ein – wobei jede Aufzählung den Eindruck erwecken könnte, es gäbe Bereiche, die nicht betroffen sind. Das Gegenteil ist der Fall: Gerade die ubiquitäre, universelle Reichweite der Norm des social distancing maßregelt unser aller Leben sowohl im Öffentlichen als auch im Privaten (bis hinein in das Intime) durch präzedenzlose Verbote und Gebote.

Tobte vor nur drei Jahren ein politischer Kulturkampf um den Handschlag (Eurozine Version von „I wanna hold your hand“), so haben sich die Verhältnisse heute ins genaue Gegenteil verkehrt. „Wir geben uns zur Begrüßung die Hand“, hatte im April 2017 die deutsche Leitkultur-Parole gelautet, mit der der Innenminister von Berlin aus die kulturelle Identität des Abendlandes gegenüber anderen fremden sozialen Sitten abgrenzen wollte. Das Händeschütteln war geradewegs ein Identitätsmarker, und bestimmte Akteure versuchten es möglichst stark symbolisch aufzuladen. Die Diskussion war seinerzeit keineswegs ein globales Phänomen, allerdings war sie auch nicht auf einzelne europäische Nationalstaaten beschränkt.

Ähnlich verhielt es sich bis vor kurzem mit der Gesichtsverschleierung, die u.a. auch vom damaligen deutschen Innenminister Thomas de Maizière in ähnlich polarisierender Weise thematisiert wurde: „‘Gesicht zeigen‘ – das ist Ausdruck unseres demokratischen Miteinanders. Im Alltag ist es für uns von Bedeutung, ob wir bei unseren Gesprächspartnern in ein freundliches oder ein trauriges Gesicht blicken. Wir sind eine offene Gesellschaft. Wir zeigen unser Gesicht. Wir sind nicht Burka.“ Die Verschleierungs-Frage war vielleicht eine der rechtspolitisch intensivsten Kontroversen, die für die verschiedensten Konstellationen im öffentlichen Raum durchdekliniert wurde: in der Schule, am Badesee, vor Gericht und in Geschäften. Österreich erließ im Juni 2017 ein Anti-Gesichtsverhüllungsgesetz. Damit sollte gesetzliche Vorschrift werden, was zuvor als Leitkultur hochgehalten worden war: „Wir zeigen unser Gesicht“.

Wenn Händeschütteln und Gesicht-Zeigen identitäre Fundamente des Abendlandes waren, so sind sie nun handstreichartig durch einen biopolitischen Putsch beseitigt und durch ihr Gegenteil ersetzt worden. Mit ermattetem Gestus wird teilweise spielerisch der „Fußcheck“ („Wuhan-Shake“) praktiziert, wenn schon der Handschlag geächtet ist, oder das Lächeln mit den Augen geübt, wenn der Rest des Gesichts verhüllt bleiben muss. Hinzu kommen allein hierzulande zahllose weitere Vorschriften. Nicht nur Österreich limitierte die Zahl der Personen, mit denen man im öffentlichen Raum Umgang haben darf. Mit dem Metermaß – einem globalen, völkerrechtlich verabredeten Standard – wird neuerdings ferner die maximal erlaubte physische Distanz zwischen Individuen angegeben: „Beim Betreten öffentlicher Orte im Freien ist gegenüber Personen, die nicht im gemeinsamen Haushalt leben, ein Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten“, heißt es in § 1, Abs.1 der COVID-19-„Lockerungsverordnung“ (in Kraft getreten am 1. Mai 2020). Dass jene englische New-Wave-Band, die vor Jahrzehnten den Social Distancing-Song der Stunde „Don’t Stand So Close To Me“ einspielte, ausgerechnet „The Police“ hieß, hätte nicht besser ausgedacht werden können.

Präzedenzlose Einschränkungen, wenn nicht gar Abschaffungen des öffentlichen Raums als solchem flankieren die Normen. Das alles ist in mehrfacher Hinsicht wie eine Springflut über uns hereingebrochen: Es kam in kürzester Zeit, und es kam in einer für nicht möglich gehaltenen Breite und Massivität (was aus historischer Sicht nochmals nahelegt, von einer „Revolution“ zu sprechen). Eine in Cambridge basierte Forschergruppe zählte bereits 275 verschiedene (Typen von) Maßnahmen, mit denen der Corona-Virus eingedämmt bzw. bekämpft werden soll. Als sogenannte „Verrechtlichung“ gehen diese Maßnahmen einher mit der (1) Vergesetzlichung als Änderung und Vermehrung von Paragrafen und Artikeln (auch im Wege von Verordnungsermächtigungen zugunsten der Exekutive), (2) Bürokratisierung (wachsende Staatsaufgaben), sowie (3) Justizialisierung als verstärkter Austragung sozialer Konflikte vor Gericht.

Wahrscheinlich half bei Erlass wie Durchsetzung dieser Maßnahmen, dass das neue Regime eine „biopolitische Disziplinargesellschaft“ (Byung-Chul Han) schafft. Die gesundheitspolizeilichen Begründungen der Grundrechtseingriffe waren unterlegt von naturwissenschaftlichen Risikoprognosen. In ihnen verbanden sich Wissen und Nichtwissen im Angesicht einer kollektiven Angst. Ausbreitungswege, Krankheitsverläufe und Behandlungskapazitäten bleiben bis auf Widerruf gültige Annahmen von kurzen Zyklen. Es fehlt die Fantasie, sich anders politisch motivierte Maßnahmen vorzustellen, die eine Chance auf vergleichbare Akzeptanz gehabt hätten, wenn sie Geschäfte geschlossen, Demonstrationen verboten und Totalüberwachung mittels sensorischer Armbänder erwogen hätten. Dass dabei Gleichheit und Ungleichheit aufrechterhalten bleiben und zugleich neu verhandelt werden, war kaum anders zu erwarten. Das Virus hat uns einerseits zu globalen Einwohnerrn von „Coronistan“ gemacht, andererseits gelten vielfach unterschiedliche und unterschiedlich wirkende Regeln.

Wer sich im normativen Pluralismus des Corona-Dschungels schlecht zurechtfindet, ist in bester Gesellschaft: Denn die Normen sind unübersichtlich, fragmentiert, komplex, volatil. Ihre Rechtsqualität schillert – vermutlich selbst für Fachleute kaum klar erkennbar – zwischen bloßen Empfehlungen und Gesetzen im engeren juristischen Sinn. Die Grenze zwischen dem, was gesollt ist (sei es aufgrund einer Verordnung oder eines Gesetzes), und dem, was nur angeraten ist, war extrem unscharf bzw. wurde ständig überschritten, insbesondere wenn etwas, das nicht verboten war, als verboten dargestellt wurde. Auch auf offiziellen Webseiten wird unscharf von „Regelungen“ gesprochen, in Deutschland heißt es schon in der URL des Gesundheitsministeriums „zusammengegencorona“, was den Unterschied von Normsetzern und Normbetroffenen absichtsvoll einebnet. Genau mit derselben Intention wurde in Österreich vom „Team Österreich“ gesprochen; auch der ständig eingeforderte „Schulterschluss“ zwischen Regierung und Opposition zerstört eine für die Demokratie zentrale Polarität.

Hinzu kommt eine Pluralität an normsetzenden Körperschaften allein auf staatlicher Seite: Nationale Regierungen und Behörden, Bundesländer, Kommunen, etc. – sie alle üben Normsetzungskompetenzen aus oder haben jedenfalls bei der Implementation maßgebliche Mitspracherechte. Für die Betroffenen dieser Normen ist die Reaktion der Wächter kaum vorhersehbar und oft nicht verständlich (ähnlich dem Türhüter in Kafkas Parabel „Vor dem Gesetz“): Neben völliger polizeilicher Gleichgültigkeit im Angesicht eklatanter Normverletzungen stehen Berichte von schockierten Betroffenen über empfindliche Sanktionen, weil sie sich beim Spazierengehen „mit den Knien berührt“ hätten.

Seitdem wird über das Abstandhalten nachgedacht, debattiert und gestritten. Die dahinter stehende Angst vor Verunreinigung sitzt tief. Freilich ist die Angst vor einer Infektion hochgradig kulturell codiert und geschichtlich grundiert – es lohnt sich, Valentin Groebners Essays über „Reinheit“ nochmals zu lesen (hier [IWM Post 123, S.21] eine Zusammenfassung): Je nach geglaubten Ursachen modellieren sich die empfohlenen Maßnahmen. Spätestens dann wird deutlich, dass jene Ideologie von „Reinheit“ keineswegs politisch unschuldig ist und selbst niemals rein war.

Zudem wäre es voreilig, sich frei nach dem Motto „Angst isst Manieren auf“ in einen reinen Kulturpessimismus zu ergeben. Denn eine Neuverhandlung der Umgangsformen zwischen Corona-Recht und Gesundheits-Moral fördert auch ein produktives Nachdenken über gegenseitige Rücksichtnahme zutage. Im interkulturellen Vergleich erscheinen nun manche distanzierenden Praktiken wie Begrüßungsgesten ohne körperliche Berührung plötzlich sicherer – und deswegen höflicher. Auch das Anhusten und Schnäuzen erfährt nun erstmals eine effektive Ächtung, das konsequente Händewaschen seine überfällige Wertschätzung jenseits von Lippenbekenntnissen. Welche Normen davon nicht nur kurzfristig, sondern auch dauerhaft zurückbleiben könnten, was dies für unser Verständnis von Gesellschaft bedeutet, wird zu verhandeln sein. Als Faustregel gilt, dass solche Maßnahmen den Anlass überdauern, für den sie eingeführt wurden.

Wien, 14. Mai 2020.

Miloš Vec ist  Universitätsprofessor für Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte an der Universität Wien.