
1. Die Europäische Union steht vor einer großen, vielleicht ihrer bisher größten Herausforderung. Zum einen erweitert sie sich, und zwar dramatisch: Mehr als 70 Millionen Menschen werden europäische Pässe bekommen. Zum anderen versucht sie, sich selbst – in einem Verfassungsbildungsprozess – radikal neu zu definieren, sich in eine neuartige politische Einheit zu verwandeln.
Die Erweiterung bringt Menschen in die Union, die oft viel ärmer und kulturell sehr anders sind als die Mehrzahl der eingesessenen Bürger und aus jahrzehntelanger Unterwerfung unter kommunistische Regime Erfahrungen und Prägungen mitbringen, die den bisherigen EU-Bürgern fremd sind. In der Folge werden die wirtschaftlichen und kulturellen Differenzen innerhalb der Union deshalb sprunghaft wachsen und sich intensivieren. Gleichzeitig ist der Verfassungsbildungsprozess ein Versuch, die Einheit der Union ehrgeiziger zu definieren.
Was könnte in dieser Situation einer wachsenden Vielfalt bei gleichzeitig anspruchsvollerer Einheit die erweiterte, neu definierte Europäische Union zusammenhalten? Welche Wertvorstellungen, welche Traditionen, welche Ziele sind geeignet, die so unterschiedlichen Bewohner der in der Union vereinten Länder in einem demokratischen Gebilde zusammenzubringen – und auf diese Weise die künftige europäische Verfassung zu untermauern und damit realitätsfest zu machen?
Um diese Fragen zu untersuchen, beauftragte der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission, Romano Prodi, im Jahre 2002 eine Gruppe von unabhängigen Personen, über die geistige und kulturelle Dimension Europas nachzudenken – insbesondere über die Relevanz dieser Dimension für den Zusammenhalt der erweiterten und sich neu definierenden Europäischen Union. [1] Die vorliegenden Überlegungen fassen einige Ergebnisse dieser Reflexion zusammen.
2. Die bisherige Union war enorm erfolgreich. Sie hat dauerhafte Bindungen geschaffen, die einen europäischen Bürgerkrieg so gut wie unmöglich gemacht haben. Sie ist zu einer Friedensordnung geworden, die auf Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und sozialer Gerechtigkeit gegründet ist. In den Mitgliedstaaten hat sie die Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen des Zweiten Weltkrieges, den Wiederaufbau und die Entwicklung eines Wohlstandes befördert, wie ihn Europa bisher nie kannte.
Der Weg zu dieser Friedensordnung war wirtschaftliche Integration und graduelle Abschaffung der nationalen Ökonomien. Nach dem Ersten Weltkrieg besetzte die französische Armee das Ruhrgebiet, um den Wiederaufbau der deutschen Schwerindustrie zu verhindern. Nach dem Zweiten Weltkrieg beschlossen die Franzosen und die Deutschen ihre Kohl- und Stahlindustrien zu integrieren. Damit haben sie einen Grundstein für eine dauerhafte europäische Friedensordnung gelegt.
3. Um diese Entwicklung zu ermöglichen und zu tragen, war ein starker politischer Wille in den beteiligten sechs Gründungsstaaten notwendig. Dieser Wille konnte dank starker Integrationskräfte wirksam werden, die in Europa herrschten: der tiefe und weitverbreitete Schock des Zweiten Weltkrieges; die wachsende Bedrohung durch die Sowjetunion und die positive wirtschaftliche Entwicklung, die bereits bei der Gründung der damaligen EWG durch die Römischen Verträge erkennbar war und durch die Integration der nationalen Volkswirtschaften befördert wurde.
4. Mit wachsendem zeitlichen Abstand vom Zweiten Weltkrieg, der abnehmenden Gefahr politischer Spannungen und Konflikte zwischen dem atlantischen Bündnis und der Sowjetunion und der Erweiterung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zur Europäischen Gemeinschaft und schließlich zur Europäischen Union wuchs die relative Bedeutung der wirtschaftlichen Ziele der Union. Wirtschaftliches Wachstum, Steigerung des Lebensstandards, Ausbau der sozialen Systeme und Vollendung des gemeinsamen Marktes traten in den Vordergrund.
Mit der wachsenden Zahl der Mitgliedschaften nahmen auch die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede und die Vielfalt der Erwartungen zu, welche die EU-Bürger mit der europäischen Integration verbinden. Dabei wurde zunehmend deutlich, dass die wirtschaftliche Integration – wie wichtig sie und ihre politischen Konsequenzen auch sein mögen – alleine die ursprünglich wirksamen politischen Kohäsionskräfte nicht ersetzen kann. Die vom Rat in Lissabon formulierten Ziele, Europa bis 2010 zur leistungsfähigsten Wirtschaftsregion der Welt zu entwickeln, eine Beschäftigungsquote von 70 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung zu sichern und Wachstum, Wohlstand und soziale Gerechtigkeit dauerhaft zu verwirklichen, ist längst durch die tatsächliche seitherige Entwicklung relativiert. Jedenfalls führen diese Ziele die Europäer in der Europäischen Union nicht näher zusammen. Sie sind nicht in der Lage, den für die Union entscheidenden inneren Zusammenhalt und eine eigenständige politische Identität zu begründen. Und sie bilden kein ausreichendes Fundament für ein politisches Subjekt “Europäische Union” und damit für selbständige politische Handlungsfreiheit.
Wirtschaftliche Integration führt eben nicht ohne weiteres zur politischen Integration. Märkte erzeugen keine politisch belastbare Solidarität. Ebenso wie der Wettbewerb, der auf ihnen herrscht, entfalten sie zentrifugale Wirkungen. Sie schaffen die wirtschaftliche Grundlage eines Gemeinwesens und sind damit unverzichtbare Voraussetzung für seine politische Verfasstheit. Aber sie können die politische Integration und Verfasstheit der Union aus sich selbst heraus nicht hervorbringen. Die ursprüngliche Erwartung, die politische Einheit der EU folge der Vollendung des gemeinsamen europäischen Marktes, hat sich als Illusion erwiesen.
Wie die gegenwärtige Debatte über die Reform des Stabilitätspaktes zeigt, kann die wirtschaftliche Integration als Grundlage der europäischen Friedensordnung auf die Dauer nur Bestand haben, wenn ihr die durch eigenständige politische Entscheidungen begründete politische Integration folgt. Bezogen auf die Währungsunion bedeutet dies eine gemeinsame Wirtschaftspolitik. Die politische Integration wiederum muss sich auf einen inneren Zusammenhalt innerhalb der politischen Union stützen können, der auch dann wirksam bleibt, wenn die durch gemeinsame wirtschaftliche Erfolge begründeten Kohäsionskräfte in ihrer Wirksamkeit nachlassen oder durch Wettbewerbsprozesse innerhalb der Union überlagert werden.
Die politische Union braucht also einen politischen Zusammenhalt, eine politisch begründete Solidarität und Gemeinsamkeit. Ob es diese politischen Kohäsionskräfte gibt und ob sie auch in Zeiten der Krise und für die Überwindung wirtschafts- und sozialpolitischer Rückschläge ausreichen – daran entscheidet sich die Zukunft der Europäischen Union ebenso wie die Dimension ihrer politischen Integration.
5. Auch in der Erkenntnis dieser Zusammenhänge haben sich die Länder der Europäischen Union vor einiger Zeit bewusst auf den Weg der politischen Integration begeben. Der Verfassungsprozess ist der Ausdruck dieser Entscheidung. Warum soll aber die Europäische Union zu einem politischen Subjekt werden? Wozu braucht sie politische Handlungsfreiheit?
Zum einen entwickelt sich eine Wirtschaftsordnung nie in einem wertfreien Raum. Sie bedarf der rechtlichen Gestaltung und Sicherung, der Entwicklung der notwendigen Institutionen und der staatlichen Durchsetzung der im privatrechtlichen Raum begründeten Ansprüche und Verpflichtungen. Sie ist in die Sitten, Gepflogenheiten und Erwartungen der Menschen und in gesellschaftliche Institutionen eingebettet. Wie der gesamteuropäische Wirtschaftsraum – der gemeinsame Markt – sich mit den Wertvorstellungen der europäischen Bürger verträgt, so unterschiedlich sie auch sein mögen, ist deshalb kein akademisches sondern ein grundsätzliches politisches Problem. Dessen immer neue Bewältigung ist für die Europäer ebenso bedeutsam wie für das Funktionieren des gemeinsamen Marktes selbst.
Diese mit der Vollendung des gemeinsamen Marktes in ihrem ganzen Umfang evident gewordene politische Aufgabe bedarf, zweitens, der politischen Institutionen, der Gesetzgebung, des Regierens und der Gerichtsbarkeit. Erst die Entwicklung derartiger Institutionen (im Zusammenhang mit der Währungsunion eine »Wirtschaftsregierung«), ihre angemessene politische Legitimation und ihre erprobte Funktionsfähigkeit können die politischen Voraussetzungen schaffen, die einem politischen Gemeinwesen Gestalt und damit Identität verleihen. Vom Verfassungsbildungsprozess und in dessen Folge der Verabschiedung eines europäischen Verfassungsvertrages wird die endgültige Begründung der dauerhaften Legitimation des institutionellen Rahmens eines politisch verfassten Europas erwartet. Der Verfassungsvertrag soll die politische Einheit der Union definieren.
Drittens wird die Union mit neuen Aufgaben konfrontiert, für deren Lösung gemeinsames Handeln nötig ist und damit auch politische Institutionen, in deren Rahmen diese Gemeinsamkeit entstehen kann. Zu diesen Aufgaben zählen zweifellos:
- die Bewältigung der Folgen der demographischen Entwicklung;
- die politische und rechtliche Gestaltung der Immigration;
- die aufgrund der Immigration und der Erweiterung der Union, wie auch aus anderen Gründen, wachsende Ungleichheit
- schließlich: die Friedenssicherung in einer globalisierten Welt.
6. Wo nun können die Kohäsionskräfte für die neue politische Union gefunden werden, wenn die durch die wirtschaftliche Integration hervorgebrachten Gemeinsamkeiten nicht mehr ausreichen? Wenn diese Gemeinsamkeiten durch das Schwinden der in den letzten Jahrzehnten erzeugten wirtschaftlichen und sozialpolitischen Illusionen zusätzlich belastet und relativiert werden? Wenn die alten Kräfte, welche die (West-)Europäer zusammen hielten, nicht mehr ausreichend wirksam sind, um ein politisches Subjekt zu konstituieren? Diese Energien müssen, so glauben wir, in der gemeinsamen europäischen Kultur gesucht und gefunden werden.
(Das besagt allerdings nicht, dass die bisherigen Kohäsionskräfte künftig keine Rolle mehr spielten, und auch nicht, dass es keine weiteren gäbe – wie etwa die wachsende Bedeutung der institutionellen Gemeinsamkeiten mit plausibler, das heißt respektierter, nicht nur formaler Legitimation sowie den Wunsch nach sozial- und gerechtigkeitspolitischer Bindung der europäischen und globalen Märkte – den Wunsch nach einer europäischen Wirtschaftskultur, die sich an den Maßstäben der Europäischen Union orientiert.)
Was sich verändert hat, ist die relative Bedeutung der Kohäsionskräfte, ihr relativer Beitrag zum zukünftigen Zusammenhalt Europas. Wenn die Sehnsucht nach der Friedensordnung, die Abwehr äußerer Bedrohungen und zunehmend auch wirtschaftliches Wachstum und Wohlstandsversprechen als gemeinschaftsbildende Ziele an Wirkung verlieren und neue Ziele und Aufgaben das entstehende Defizit nicht auszugleichen vermögen, dann wächst die Bedeutung der einer gemeinsamen europäischen Kultur innewohnenden Integrationskraft.
Anders gewendet: Die europäische Kultur- und Wertordnung als immaterieller Faktor europäischer Integration nimmt in dem Maße an Bedeutung zu, in dem bisher vorherrschende materielle Zielvorstellungen als identitätsstiftende Faktoren an Bedeutung verlieren.
Damit wächst zugleich die Notwendigkeit, das, was wir unter europäischer Kultur verstehen, näher zu bestimmen und politisch wirksam werden zu lassen. Ersteres wäre nicht mit dem Versuch getan, eine Liste gemeinsamer europäischer Werte und Wertvorstellungen zu erstellen, die der europäischen Einheit als Basis dienen könnten – wenngleich die im Verfassungsvertrag enthaltene Charta der Grundrechte in diese Richtung zielt. Denn jede Kodifikation »europäischer Werte« trifft auf eine Vielfalt einzelstaatlicher, nationaler, regionaler und gesellschaftlicher Vorstellungen und Auslegungen. Eine Vielfalt, die auch durch einen Verfassungsvertrag und seine verbindliche Interpretation durch Gesetze und Gerichtsentscheidungen nicht beseitigt werden könnte.
Ungeachtet dieser definitorischen Schwierigkeiten kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, dass es einen gemeinsamen europäischen Kulturraum gibt: einen nicht eindeutig bestimm- und begrenzbaren Raum der Vielfalt unterschiedlicher, miteinander verschlungener und häufig auch einander widersprechender Traditionen, Vorstellungen und Aspirationen. Sie führen uns in einem gemeinsamen Kontext zusammen und lassen uns zu »Europäern« werden: Bürger und Völker, die einer politischen Einheit – und damit Verfasstheit – fähig sind, die wir als »europäisch« erkennen und erleben.
Dieser Kontext ist nicht definierbar, seine Grenzen sind offen, nicht wegen unserer Ignoranz – sondern strukturell: weil europäische Kultur, Europa, nicht nur ein Faktum ist, sondern eine Aufgabe und ein Prozess.
»Was ist europäische Kultur?«, »Was ist Europa?«, dies sind Fragen, die ständig aufs Neue gestellt werden müssen und nie abschließend beantwortet werden können – solange Europa Gegenwart ist, nicht bloß Vergangenheit. Die Identität Europas ist sozusagen Verhandlungssache, eine institutionelle Aufgabe. Wie weit können – und müssen – die Europäer sich und ihre Institutionen verändern, damit die Werte, Traditionen und Lebensvorstellungen Europas weiter leben und wirken können – will heißen: im Wechsel stets neuer Wirklichkeiten als dauerhafte, eine gemeinsame Identität stiftende Koordinaten Bestand haben können.
Europa und seine kulturelle Identität leben so von der ständigen Konfrontation mit dem Neuen, dem Anderen, dem Fremden – Europas Grenzen müssen immer wieder neu verhandelt werden. Das gilt sowohl für die inneren Grenzen Europas als auch für seine äußeren. So wird die Frage der europäischen Identität in der Folge der Immigrationsregelungen beantwortet und in den Verhandlungen über den Beitritt neuer Länder zu der Europäischen Union getestet werden. Weder diese Regelungen, noch die Verhandlungen können a priori, aufgrund feststehender, vorhandener Bestimmungen – wie etwa einem Katalog der »europäischen Werte« – entschieden werden.
7. Wenn Europa kein Faktum, sondern eine Aufgabe ist, dann kann es auch keine festen, vorhandenen oder ein für allemal definierten europäischen Grenzen geben. Auch hier gilt vielmehr, dass nicht geographische oder nationale Grenzen den europäischen Kulturraum definieren, sondern dieser den europäischen Raum bestimmt – als prinzipiell offenen Raum.
Das bedeutet auch: der gemeinsame europäische Kulturraum kann nicht als Gegensatz zu den nationalen Kulturen definiert werden. Die polnischen Bauern oder die englischen Arbeiter sollen die »europäische Kultur« nicht als etwas Fremdes oder sogar Bedrohliches wahrnehmen. Aus dem gleichen Grund kann diese Kultur auch nicht als Gegensatz zu einer bestimmten Religion (etwa zum Islam) bestimmt werden. Welche Inhalte in den Begriff »europäische Kultur« aufgenommen werden, ist keine philosophische Frage, die man a priori beantworten könnte; es ist auch keine bloß historische Frage. Es ist eine Frage, die politische Entscheidungen erfordert, welche die Bedeutung der Tradition angesichts der zu lösenden Zukunftsaufgaben aufzuzeigen versuchen.
8. Die europäische Kultur, dieser offene, immer aufs neue zu definierende Raum, stiftet noch keine politische Einheit Europas. Dazu bedarf es der Politik und ihrer Entscheidungen. Aber die europäische Kultur bietet der Politik eine Chance, Europa zu einer politischen Einheit werden zu lassen.
Die Einheit Europas ist aber nicht nur eine politische Aufgabe. Politik kann nur die Rahmenbedingungen schaffen, die Europas Einigung erleichtern oder erschweren. Europa, das ist nicht nur ein politisches Gebilde. Europa steht zugleich für eine »Kultur« von Institutionen, Ideen und Erwartungen, Gewohnheiten und Gefühlen, Stimmungen, Erinnerungen und Aussichten: eine »verbindende Kultur«, auf deren Boden erst ein politisches Gebilde wachsen kann.
Diese Kultur – man könnte sie »Kultur der Bürgergesellschaft« nennen – ist die Basis für politische Zusammengehörigkeit. Aber sie definiert damit zugleich auch die Bedingungen erfolgreicher Politik und die Grenzen staatlicher, politischer Regulierungen.
Um die für eine politische Einheit notwendige Kohäsion zu fördern, sollte die europäische Politik die Entstehung und Entfaltung der Bürgergesellschaft in Europa unterstützen. In deren Institutionen kann die gemeinsame europäische Kultur gesellschaftliche Wirklichkeit werden. Das erfordert die Bereitschaft der Politik und der staatlichen Institutionen zur Selbstbeschränkung.
Daraus folgt: Die politische Kultur Europas muss kompatibel sein mit den Anforderungen eines durch die europäische Kultur begründeten Gefühls der Zusammengehörigkeit. Wer die gemeinsame europäische Kultur und Geschichte als Grundlage politischer Identität in Anspruch nehmen will, muss deren Bedingungen politisch entsprechen. Die Inanspruchnahme ihrer Kohäsionskräfte erfordert ein entsprechendes politisches Handeln: Die Bedeutung einer persuasiven, erklärenden und überzeugenden politischen Führung nimmt zu. Die Legitimation staatlichen Handelns wird schneller in Frage gestellt, vor allem, wenn es sich als politisch bürokratisches Handeln äußert. Die Dezentralisierung von Überzeugungs-, Gestaltungs- und Entscheidungsprozessen wird wichtiger. Denn nur sie kann der kulturellen Vielfalt und dem Reichtum gesellschaftlicher Gestaltungsformen gerecht werden, die eine europäische Bürgergesellschaft ausmachen.
9. Damit die europäischen Länder zu einer lebensfähigen politischen Union zusammenwachsen können, müssen die Menschen Europas zu einer europäischen Solidarität bereit sein. Diese Solidarität muss stärker sein als die universale Solidarität, die Menschen für andere Menschen empfinden (sollen), etwa wenn sie humanitäre Hilfe leisten.
Europäische Solidarität – für andere Menschen mit seiner Brieftasche oder seinem Leben gerade zu stehen, weil auch sie Europäer sind – kann nicht von oben oktroyiert werden. Sie kann nicht nur institutionelle Solidarität sein. Sie muss von den Europäern auch individuell empfunden werden. Wenn individuelle Solidarität nicht gegeben ist,reicht die institutionell organisierte Solidarität nicht aus, um ein Gemeinwesen zu stiften.
Vielerlei kulturelle, geistige, wirtschaftliche und politische Tendenzen – nicht zuletzt die fortschreitende Individualisierung – haben in den letzten Jahrzehnten zur Erosion der verschiedenen Formen gesellschaftlicher Solidarität geführt. Die Krise des Wohlfahrtsstaats kann als eine Folge dieser Entwicklung gedeutet werden. Auch für den Zusammenhalt der sich erweiternden Europäischen Union ist diese Erosion von Bedeutung: Sie spiegelt sich wider in dem – im Vergleich zu früheren Erweiterungen – stark abgekühlten Willen der bisherigen Unionsbürger, den Neuankömmlingen wirtschaftlich und politisch unter die Arme zu greifen.
Die Mobilisierung einer gesamteuropäischen Solidarität gehört zu den wichtigsten dauerhaften Aufgaben europäischer Politik. Dabei dürfen wir uns nicht der Illusion hingeben, der Solidaritätsbedarf könnte allein durch institutionelle Maßnahmen befriedigt werden. Die institutionellen Maßnahmen müssen vielmehr von der Bereitschaft der Bevölkerung zur Solidarität getragen werden. Deshalb ist es wichtig, diese individuelle Solidarität nicht passiv, sondern aktiv zu definieren: im Hinblick auf die neu zu bewältigenden, gemeinsamen Aufgaben – und nicht nur auf den bisher angehäuften Besitz und seine Verteilung.
10. Eine besondere Herausforderung erwächst der europäischen Solidarität aus der Erweiterung der Union um die Länder des ehemaligen Sowjetimperiums. Wie wir mit dieser Herausforderung umgehen, wird für die Zukunft Europas entscheidend sein.
Wie wird diese Erweiterung die Bedingungen der europäischen Solidarität verändern? Was bringen die neuen Mitglieder mit an den gemeinsamen Tisch? Werden sie, wie manche fürchten, nur Spielverderber sein, werden sie – durch den Totalitarismus traumatisiert und ohne die Unterstützung durch die Tradition der Aufklärung – den Demokratisierungsprozess der Union verlangsamen oder ganz zum Stillstand bringen? Werden sie – durch ihre historisch wie strategisch bedingte Nähe zu den Vereinigten Staaten – eine gemeinsame europäische Außenpolitik vereiteln? Oder werden die neuen Mitglieder die Union nicht nur neuen Gefahren aussetzen, sondern ihr auch neue Chancen eröffnen?
Das Jahr 1989 hat Europa von Grund auf verändert. Es hat Westeuropa nicht nur eine Vergrößerung um den ehemals kommunistischen Osten beschert. Es hat Europa auch bereichert. Deshalb sollten die neuen Mitglieder trotz ihrer wirtschaftlichen Schwäche als ebenbürtige Partner in die Union aufgenommen werden. Sie sollten die neue Union zusammen mit den alten Mitgliedern mitgestalten können. Auch in ihren Traditionen, in ihren Erfahrungen sollte das Verbindende, das Europäische gesucht werden.
Dass die Europäische Union 1989 die historische Chance einer Wiedergeburt bekam, war nicht zuletzt Resultat des revolutionären Aufbegehrens der Menschen im kommunistisch regierten Osteuropa. Die osteuropäischen Revolutionen zeugen von der Tragfähigkeit der Solidarität der Bürgergesellschaft. Sie sind der beste Beweis dafür, dass ein wirklicher politischer Realismus die Realität dieser Bande in Betracht ziehen muss – und nicht nur die in den »real existierenden« politischen Institutionen organisierten Interessen.
11. Bei der Suche nach den Kohäsion und Identität stiftenden Kräften in der Europäischen Union kommt der Frage nach der öffentlichen Rolle dereuropäischen Religionen besondere Bedeutung zu.
Aus tragischen Erfahrungen weise geworden, bemühten sich die europäischen demokratischen Gesellschaften in den letzten beiden Jahrhunderten darum, die Religionen aus dem politischen Raum zu entfernen. Nicht ohne Grund galten sie als spaltend, nicht als einigend. Das ist wohl auch heute noch oft der Fall. Aber die europäischen Religionen könnten auch ein Potential sein, das die Menschen in Europa zusammen statt auseinander bringt.
Sicher erscheint uns, dass die Anwesenheit der Religion im öffentlichen Raum nicht auf die öffentliche Rolle der Kirchen oder auf die gesellschaftliche Relevanz der religiösen Anschauungen reduziert werden kann. Denn die Religionen sind längst zu einem untrennbaren Bestandteil der verschiedenen Kulturen geworden, die wir in Europa vorfinden. Sie entfalten ihre Wirkungen »unter der Oberfläche« der politischen und staatlich-institutionellen Ebene, mit Auswirkungen im gesellschaftlichen Raum wie im individuellen Bereich. Die Folge ist ein neuer Reichtum an Religionsformen, die mit kulturellen Inhalten verwoben sind.
Auch in Europa – wo Modernisierung mit Säkularisierung Hand in Hand zu gehen scheint – sind die Religionen nicht aus dem öffentlichen Leben wegzudenken. Ihre gemeinschaftsstiftenden Fähigkeiten sollten gefördert und für den Zusammenhalt des neuen Europas genutzt werden. Dabei sollte man nicht die damit verbundenen Gefahren übersehen: Zu ihnen gehören eine mögliche Invasion des öffentlichen Raumes durch religiöse Institutionen ebenso wie die Instrumentalisierung einer Religion für die Rechtfertigung religiös-ethnischer Konflikte. Man sollte aber auch nicht vergessen, dass viele angeblich religiöse Konflikte politische oder soziale Gründe haben, welche durch gesellschaftliche Maßnahmen gelöst werden können und müssen, wenn sie sich nicht religiös aufladen sollen.
In der letzten Zeit hat die Frage der öffentlichen Rolle der Religionen in Europa eine besondere Brisanz gewonnen: durch die Kriege auf dem Balkan, durch die Immigration aus den muslimischen Ländern und im Zusammenhang mit einem möglichen EU-Beitritt der Türkei. Die Frage der politischen Relevanz des Islam wird dabei als die wichtigste wahrgenommen.
Es ist in der Tat schwer zu leugnen, dass die verstärkte Anwesenheit verschiedener Formen des Islam im öffentlichen Raum Europas neue Chancen und neue Gefahren für den europäischen Integrationsprozess mit sich bringt. Sie erfordert, möglicherweise, eine Überprüfung der gängigen Vorstellungen vom öffentlichen Raum. Unter den Muslimen selbst gibt es eine Tendenz zur De-Kulturalisierung ihrer Religion, also zu deren Herauslösung aus dem jeweiligen kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhang – mit potentiell gefährlichen Konsequenzen. Dennoch besteht der einzig gangbare Weg zu einer möglichen Lösung der damit verbundenen Probleme in der Berücksichtigung eben dieses Zusammenhangs – und nicht in einer Gegenüberstellung von abstrakten, aus dem Gewebe des wirklichen gesellschaftlichen Lebens gewaltsam herausgeschnittenen Größen wie »Christliches Europa« versus »Islam«.
12. Wie weit beeinflussen Fragen nach dem geistigen und kulturellen Zusammenhalt Europas die Rolle Europas in der Welt? Wenn Europa die Wertbezogenheit seiner einheitsstiftenden Regeln anerkennt, wird es sich kaum einer durch diese Werte definierten Solidarität mit anderen verweigern können. Aus dieser global definierten Solidarität folgt als europäischer Auftrag, einen seinen Kräften und Möglichkeiten entsprechenden Beitrag zum Frieden in der Welt und zur Bekämpfung der Armut zu leisten. Eine Berechtigung, mit Hilfe etwa von Institutionen einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik anderen politischen Subjekten einen bestimmten Wertekatalog aufzuzwingen, lässt sich aus der globalen Solidarität dagegen nicht ableiten.
Das Grunddilemma der europäischen Außenpolitik, das sich aus der Reflexion der Bedingungen der europäischen Solidarität ergibt, ist das Dilemma zwischen der Logik des Friedens und der Logik der Kohäsion. Europa versteht sich als beides: als eine Friedenszone und als eine Wertegemeinschaft. Dieses Dilemma kann nicht a priori gelöst werden. Es gibt keine a priori Gesetze, aus denen man eine solche Lösung ableiten könnte. Es gibt kein Wesen Europas, keine feststehende Liste europäischer Werte. Es gibt keine »Finalität« des europäischen Integrationsprozesses.
Europa ist ein Zukunftsprojekt. Nicht nur seine Friedensordnung, seine Institutionen, seine politische, wirtschaftliche und soziale Ordnung, sondern auch seine Identität und Selbstbestimmung stehen immer wieder – potentiell mit jeder Entscheidung – zur Debatte und auf dem Spiel. So war es immer schon in der Geschichte Europas. Europas Fähigkeit zur ständigen Entwicklung und Erneuerung war und ist die wichtigste Quelle seines Erfolgs und seiner Einmaligkeit. Diese Quelle muss immer neu erkannt und institutionell gefasst werden: politisch, durch die Bürgergesellschaft und durch die kulturellen Kräfte Europas. Worauf es letztlich ankommen wird: Wir müssen das europäische Erbe erhalten und nutzen – und dürfen es nicht verschütten.
Oktober 2004
1. Zentrale Beiträge aus dem Kontext der Reflexionsgruppe sind 2004 erschienen in den Heften 26 und 27 der am IWM herausgegebenen Zeitschrift Transit – Europäische Revue.
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Transit – Europäische Revue, Nr. 28/2004