In der hiesigen Presse fanden sich aber auch ganz andere Töne. Befragt, was die deutschen Ereignisse für die Alpenrepublik und für Europa bedeuten würden, befürchtete der weltberühmte Romancier Johannes Mario Simmel Mitte November 1989, die „Wiedervereinigung“ des großen Nachbarvolkes führe unweigerlich binnen eines Dezenniums zum Krieg auf dem alten Kontinent: „Eine Wiedervereinigung würde eine große Katastrophe und einen gewaltigen Schock für die vier Siegermächte bedeuten. Deutschland würde damit zur größten Industrienation werden, und spätestens in zehn Jahren könnten wir den nächsten Krieg haben, weiß der Himmel, gegen wen.“ Namhafte Historiker pflichteten dem Bestsellerautor bei und bezeichneten die sich abzeichnende Vereinigung ebenfalls als eine politische Katastrophe für Österreich und nicht zuletzt für ganz Europa. „Selbst das Reden davon kann schon gefährlich sein“, konstatierte ein Geschichtswissenschaftler im November 1989.
Elf Monate später, am 3. Oktober 1990, war die deutsche Einheit politische Wirklichkeit geworden und Europa hatte sein Antlitz vollends verändert. Seither sind zwanzig Jahre vergangen – und der Kontinent blieb von dem prophezeiten Krieg gottseidank verschont.
Auch österreichische Ökonomen glaubten an eine düstere Zukunft. Sie prophezeiten ein wirtschaftliches Desaster für das kleine Land und sahen die Zinsen in schwindelnde Höhen steigen. Österreich, so Hellmuth Klauhs, der damalige Präsident der Nationalbank, im Frühjahr 1990, werde unter der kommenden deutschen Währungsunion besonders leiden. Hugo Portisch („Mr. Österreich“) fürchtete die künftig enge wirtschaftliche Zusammenarbeit der beiden deutschen Staaten. Der Journalist und Fernsehhistoriker erwartete, dass die Ostdeutschen nunmehr huckepack in die Europäische Gemeinschaft mitgenommen werden würden – und damit auch deren Wirtschaftskraft. Eine ökonomisch völlig haltlose Befürchtung, denn die DDR war durch den begünstigten innerdeutschen Handel ohnehin längst ein stilles Mitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gewesen. Das wussten die politisch Verantwortlichen in Europa – und hatten es bis dato beschwiegen. Nun richteten zahlreiche österreichische Autoren das Schreckbild einer unüberschaubaren und einer unbezähmbaren gesamtdeutschen Wirtschaftspotenz auch deshalb auf, weil man in Österreich die Sorge hegte, die Neuordnung der beiden deutschen Staaten könnte einen negativen Einfluss auf die eigenen ökonomischen Ambitionen als Drehscheibe im West-Ost-Handel haben.
Erwartungsgeschichte: Archäologie der Zukunft
Ob in Berlin oder in Bonn, ob in Budapest oder in Warschau, in Leipzig oder in London, in Prag oder Paris, in Washington oder in Moskau, in London oder in Wien, in Ost und West: Spätestens im Herbst des Jahres 1989 eröffnete sich weltweit eine ganz außergewöhnliche Herausforderung. Politiker und Publizisten, Partei- und Kirchenleute, Diplomaten und Demonstranten, Intellektuelle, Bürgerrechtler und einfache Bürger – in unterschiedlichen Zusammenhängen spürten die Menschen die machtvolle Dynamik weit reichender Veränderungen. Doch die Wege dieses Wandels zeichneten sich noch nicht ab, die Zukunft war in diesen Wochen und Monaten noch nicht vorhersehbar. Das schuf Raum für neues Denken und für neues Fühlen. Der Herbst 1989 gerann zum Frühling der Erwartungen.Erwartungen sind als Kategorie historischen Denkens seit langem bekannt. Schon der Theologe, Philosoph und Kirchenvater Augustinus, der das mittelalterliche Geschichtsdenken maßgeblich prägte, wies in seinen Confessiones darauf hin, dass Erwartungen eine von drei Zeitformen im menschlichen Bewusstsein darstellen:
„Denn es sind diese Zeiten als eine Art Dreiheit in der Seele (…) und zwar die Gegenwart von Vergangenem, nämlich Erinnerung (memoria); die Gegenwart von Gegenwärtigem, nämlich Augenschein (contuitus), die Gegenwart von Künftigem, nämlich Erwartung (expectatio) .“
Gegenwart und Zukunft spiegeln sich in Erwartungshorizonten; im Modus der Erwartung verbindet der Mensch zwei Zeitdimensionen, indem er in einer bestimmten Gegenwart Bilder von der Zukunft entwirft. Erwartungen werden gewöhnlich von Erfahrungen überlagert. Einstige Erwartungen versinken daher bald in der Vergessenheit. Wer sich also auf eine Archäologie der Erwartungsschichtungen einlässt, hat die Chance, zugleich auch eine verborgene und vielleicht auch eine verdrängte Geschichte zu entdecken.
„Soviel wie in diesen Wochen ist in unserem Land noch nie geredet worden, miteinander geredet worden, noch nie mit dieser Leidenschaft, mit soviel viel Zorn und Trauer und mit soviel Hoffnung. Wir wollen jeden Tag nutzen, wir schlafen nicht oder wenig, wir befreunden uns mit neuen Menschen und wir zerstreiten uns schmerzhaft mit anderen.“ So die ostdeutsche Schriftstellerin Christa Wolf am 4. November 1989 vor rund einer Million ostdeutscher Demonstranten auf dem Berliner Alexanderplatz. In den Wochen und Monaten jenes Herbstes wurden überall auf der Welt nicht nur Visionen und Utopien, sondern auch Ängste und Sorgen geboren. In den Gesichtern der Menschen im Osten spiegelten sich sowohl die Stimmung eines hoffnungsfrohen Aufbruchs wie die Befürchtungen vor einem kommenden Umbruch.
Fremdbilder spiegeln Selbstbilder
„Droht das IV. Reich?“ „Wer fürchtet sich vorm Vierten Reich?“ Schlagzeilen wie diese, die an das nationalsozialistische „Dritte Reich“ gemahnten, waren in österreichischen Medien in jenem Herbst 1989 zu lesen. Kommentatoren beschworen jetzt eindringlich den seit 1945 mühsam aufgebauten und emotional abgesicherten nationalen Konsens der Alpenrepublik. Spätestens seit den siebziger Jahren empfand eine gesicherte Mehrheit Österreich als eigene Nation, betrachtete sich eine Mehrheit als ein Volk, das nicht mit den Deutschen in eins zu setzen ist. Würde dieses nach dem Zweiten Weltkrieg mühsam erarbeitete Wir-Gefühl halten? Würde es einem Sog standhalten, der sich durch ein sich vereinigendes Deutschland ergab? Wenn die Leute in Ostdeutschland nicht mehr nur „Wir sind das Volk!“, sondern – wie seit der Öffnung der Mauer – „Wir sind ein Volk!“ skandierten, könnte das ja womöglich ein Vorbild für „deutsch“ denkende Landsleute abgeben: Die Angst war groß, das Geschehen auf dem Leipziger Ring werde sich alsbald auf der Wiener Ringstraße wiederholen: Bestand nicht die Gefahr, dass an der Donau und in den Alpen ebenfalls der Ruf „Wir sind ein Volk“ erschallte?
Aber nicht nur eine innere, sondern auch eine äußere Bedrohung durch das vereinte Deutschland wurde in Österreich diskutiert. Der Wiener Psychoanalytiker und Psychiater Erwin Ringel, Spezialist für die österreichische Gemütsverfassung („ Die österreichische Seele“), formulierte im März 1990 in der Neuen Arbeiterzeitung: „Wenn man gesehen hat, wie der deutsche Bundeskanzler, kaum dass sein Land eine Spur von Selbständigkeit erreicht hat, mit den ,Ostdeutschen’, Polen und sogar auch mit den Russen umgegangen ist, wer seine Forderungen und Bedingungen gehört hat, dem kann es doch nicht entgangen sein, dass hier ein Machtreich zu entstehen droht, vor dem sich alle Nachbarn (und nicht nur sie) fürchten müssen. Bereits zweimal in diesem Jahrhundert gingen Weltkriege von Deutschland aus, einer davon ein ‚Ausrottungsfeldzug’. Wie groß ist dann die Gefahr, wenn nun dieses Land zur längst erreichten Weltwirtschaftsmacht auch noch die militärische dazugewinnt?“ „Principiis obsta“ rief das „Gewissen der Nation“ erregt der Bundesregierung in Wien zu.
Das „Machtreich“ und der Machtmensch: Nicht nur in Österreich wurde das künftige Deutschland gerne mit der Physiognomie von Helmut Kohl in eins gesetzt: „massig, beharrlich, unsensibel“ galten als Attribute des deutschen Bundeskanzlers – und gleichermaßen als Attribute des ganzen Landes. Fotos vom großen westdeutschen Regierungschef Kohl und von seinem kleinen Pendant aus Ostdeutschland Lothar de Maizière wurden auch in Deutschland symbolisch gedeutet: Hier „umarmte“ ein mächtiges und gewaltiges West-Deutschland einen schmächtigen und nahezu hilflosen Verwandten. Der frühere Ministerpräsident der DDR kommentierte diese Pressebilder später so: „Zwischen Kohl und mir ist wahrlich keine Männerfreundschaft entstanden. Er – der rheinische Katholik, der machtbewusste, auch vierschrötige Mann, ich dagegen ein wenig protestantisch-musisch angehaucht. Kohl hat in seinen Erinnerungen geschrieben, zwischen uns hätte die Chemie nicht gestimmt. Wo er Recht hat, hat er Recht.“ Die beiden deutschen Regierungschefs gaben schon zur Zeit der friedlichen Revolutionen ein Bild ab, das all die Erwartungen, all die Befürchtungen und Bedrohungen aus österreichischer Perspektive geradezu mustergültig zu verdichten schien.
Die Ängste bei zahlreichen namhaften Kommentatoren des Zeitgeschehens waren groß. Nicht sosehr die Tatsache, dass Johannes Mario Simmel und viele andere Opinion Leader so dachten ist heute interessant – vielmehr die Tatsache, dass diese Vorstellungen und Visionen in Medien aufgegriffen und abgedruckt wurden. Vor allem politisch denkende und fühlende Schichten in Österreich zeigten sich Ende 1989 stark verunsichert. Unter der vielsagenden Headline „Deutschland – Na und?“ veröffentlichte ein Wochenblatt Umfrageergebnisse vom Dezember 1989, denen zufolge nur eine knappe Mehrheit der Österreicher die deutsche Wiedervereinigung für wünschenswert hielt, wobei deutlich mehr Frauen als Männer für den Umbruch votierten. Mehr als die Hälfte der Maturanten und Akademiker äußerten sich negativ.
Solche Zuschreibungen formulierten und formatierten drängende eigene politisch-kulturelle Problemlagen des kleinen Landes inmitten Europas, das, in historischen Zeitläufen gerechnet, eben erst zu sich selbst gekommenen war. Die verbalen und visuellen Bilder, die österreichische Interpreten im Herbst des Jahres 1989 von „den Deutschen“ ausmalten und beschworen, waren Ausdruck des eigenen Gefühlshaushalts – einer Gemengelage aus Angst und Achtung vor dem großen Nachbarn und der Befürchtung, der eigene nationale Konsens könne im Strudel des deutschen Einheits-Postulates plötzlich auf- und untergehen. Die Freude und Begeisterung über die Öffnung des Eisernen Vorhanges zuerst an der ungarisch-österreichischen, dann an der deutsch-deutschen Grenze hatte also eine ernstzunehmende Kehrseite: die Furcht vor einem künftig überdimensionalen Nachbarn und die Sorge um die psychosoziale und damit um die politische Stabilität des eigenen Landes.
Bilder von den anderen, Fremdbilder, widerspiegeln stets auch die eigenen Selbstbilder; Alteritäts-Diskurse sind immer auch Identitäts-Diskurse.
Freilich fehlten es auch nicht an Ermahnungen, geduldig und besonnen zu bleiben. Otto von Habsburg attestierte die Wochenpresse eine gesamteuropäische Perspektive – denn er konnte für die bedrohte österreichische Seele auch ein gewichtiges Plus aus der Öffnung der deutsch-deutschen Grenze herauslesen. Er knüpfte subtil an die gute alte Zeit der k. und k. Monarchie an, indem er kurz und bündig postulierte: „Die Österreicher und Ungarn haben den Preußen den Weg in die Freiheit gezeigt.“ Dass man die vereinten Deutschen auch künftig unter europäischer, vielleicht sogar unter österreichischer „Kontrolle“ halten könne, schwang durchaus in manchen Äußerungen mit. Der Theaterkritiker und Schriftsteller Hans Weigel bekundete ebenfalls im November ’89 seine Freude über die Ereignisse in Deutschland und er erklärte demonstrativ, vielleicht sogar etwas provokativ, seine Liebe zu Berlin. Hinsichtlich der neuen Gefahrenherde plädierte er für ein gesundes österreichisches Selbstbewusstsein: „Wir hier sind stark im Nehmen.“ Und, bezogen auf die Ostdeutschen, die nun auch Wien näher rücken würden: Sie seien in Not, also werde man ihnen wie dereinst den Ungarn in Not helfen. Und ansonsten gelte für alle Fälle die alte Wiener Weisheit: „Wir wer’n s’schon demoralisieren.“
Buchveröffentlichung zum Thema:
Thomas Ahbe/Rainer Gries/Wolfgang Schmale (Hg.), Die Ostdeutschen in
den Medien. Das Bild von den Anderen nach 1990, Leipziger Universitätsverlag
2009.
http://www.univerlag-leipzig.de/article.html;article_id,938
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