Es gibt einen Testfall, wie sich die Lage in der Ukraine entwickeln kann: Weißrussland. Dort verletzt der ehemalige Kolchosdirektor Lukaschenko seit Jahren sämtliche Menschenrechte. Missliebige Oppositionspolitiker wurden entweder ausgewiesen oder verprügelt, einige verschwanden auch spurlos. All das geschieht nur gut 700 Kilometer von Berlin entfernt. Auch wenn Minsk wie zu sozialistischen Zeiten schön geputzt und sauber gefegt aussieht, wären die staatlich kontrollierte Wirtschaft und das Regime ohne Unterstützung aus Russland nicht tragbar. Weißrussland bekommt seit Jahren verbilligte Gaslieferungen aus Moskau. Der russische Präsident Putin unterstützt Lukaschenko nach anfänglicher Distanz auch politisch, weil er dort eine strategische Einflusssphäre sieht.
Den Ukrainern steht nach der gefälschten Wahl ein ähnliches Schicksal bevor. Aufgrund des offensichtlichen Betrugs könnte der bisherige Premier Janukowitsch gar nicht anders, als seine illegitime Präsidentschaft mit einem Polizeistaat und strikter Zensur aufrechtzuerhalten. Die Ukraine besitzt jedoch ein anderes Gewicht als das realsozialistische Museum Weißrussland. Es ist nach Russland und der Türkei der wichtigste Nachbar der EU, ein Land von der Größe Frankreichs mit annähernd 50 Millionen Einwohnern. Sollte sich die Ukraine in eine Diktatur verwandeln, dann wäre die EU mit politischen Flüchtlingen und einem destabilisierten Nachbarstaat konfrontiert. Es ist außerdem nicht zu erwarten, dass sich die Ukrainer den stillen Staatsstreich durch Janukowitsch gefallen lassen. Es gibt dort eine Tradition des Widerstands. Als Stalin 1945 die vormals zu Österreich und dann bis 1939 zu Polen gehörige Westukraine annektierte, kämpften Partisanen bis in die fünfziger Jahre gegen die Sowjetisierung. Dieser Krieg nach dem Krieg, von dem in Westeuropa kaum jemand etwas weiß, kostete über 100.000 Ukrainern das Leben. Das schlimmste Szenario wäre jetzt ein gewaltsames Eingreifen der Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten und bürgerkriegsartige Auseinandersetzungen.
Nach Samuel Huntington könnte man die Entwicklung in Weißrussland oder in der Ukraine damit erklären, dass es sich hier um den byzantinisch-orthodoxen Kulturkreis handelt, in dem autoritäre Strukturen schon immer besser gediehen als die Demokratie. Dieses Denken ist auch in Deutschland verbreitet. So behauptete etwa der Altkanzler Helmut Schmidt 2000 in seinem Buch “Die Selbstbehauptung Europas. Perspektiven für das 21. Jahrhundert”, dass die Ukrainer ähnlich wie Weißrussland und Russland kaum in die kulturelle Entwicklung Europas integriert gewesen seien. Doch genau in der bewussten Abgrenzung zur ehemaligen Sowjetunion liegt der Fehler. Die Ukraine hat vor allem im Westen und in Kiew den Barock und zeitweise die Aufklärung miterlebt. Teile des Landes gehörten lange Zeit zur Habsburgermonarchie und sind entsprechend geprägt. Auch in Odessa und im Osten spürt man Unterschiede zum großen Nachbarn. Während Russland nach der Wende ein militarisiertes Land geblieben ist, geht es in der Ukraine ziviler, mediterraner zu. Diese Mischung verschiedener Kulturen steckt schon im Namen des Landes – Ukraina bedeutet wörtlich Land an der Grenze.
Seit der EU-Osterweiterung ist die Ukraine jedoch ein Land jenseits der EU-Grenze. Die Einreise nach Polen, für die Ukrainer das Fenster zum Westen, ist seit 2004 wesentlich komplizierter und an ein Visum gebunden. Noch schwieriger ist es, in die Schengen-Staaten zu kommen. Dies erfordert für Ukrainer, die nicht in der Hauptstadt leben, in der Regel drei Reisen nach Kiew und langes Schlangestehen vor den westlichen Botschaften. Diese Politik hat bei vielen Ukrainern den Eindruck erweckt, dass die erweiterte EU ihnen den Rücken zudreht. So gesehen ist die stärkere Anlehnung an Russland, die Janukowitsch bereits als Premier betrieben hat, eine nachvollziehbare Reaktion. Es kann auch nicht verwundern, dass Putin seine Arme weit ausstreckt und die Ukraine als sein politisches Einzugsgebiet versteht.
Was eine erneute Übermacht Russlands bedeuten würde, vermag ein kleiner Rückblick in die Geschichte zu verdeutlichen. Die Ukraine besitzt seit jeher eine strategische Schlüsselstellung für das östliche Mitteleuropa. Seit Russland Ende des 18. Jahrhunderts einen Großteil der Ukraine von Polen erwarb, war es die Hegemonialmacht in diesem Teil des Kontinents. Diese Zeit endete erst, als die Ukraine sich 1991 in einem Plebiszit für unabhängig erklärte und damit das Ende der Sowjetunion besiegelte. Wenn Putin sich dieses Land jetzt unterordnet, wäre Russland in Europa wieder eine echte Großmacht. Es überrascht daher nicht, dass er sich im Wahlkampf eindeutig auf die Seite des Russland-freundlichen Premiers Janukowitsch stellte, mit ihm öffentlich auftrat und Politik- und Medienberater nach Kiew entsandte.
Man muss Putin nicht unbedingt geostrategische oder imperiale Interessen unterstellen. Die Ukraine ist auch ein wichtiger Faktor für die russische Innenpolitik. Eine demokratische Ukraine mit unabhängigen Medien könnte gefährlich werden, zum Beispiel durch eine freie Berichterstattung über den Tschetschenienkrieg und als Gegenbeispiel für die innenpolitische Re-Sowjetisierung Russlands. Diese ist durch die Kontrolle über das Parlament, die Zentralisierung der Verwaltung, die Ausschaltung unabhängiger Fernsehsender und auf symbolischer Ebene schleichend eingeleitet.
Die EU und Berlin hätte spätestens misstrauisch werden müssen, als Putin sich offen in den ukrainischen Wahlkampf einmischte. Aber als Antwort auf dessen öffentlichen Auftritte in der Ukraine kam der polnische Außenminister Cimoszewicz nach Kiew. Weder der EU-Außenbeauftragte Xavier Solana, noch Joschka Fischer oder ein anderes Schwergewicht aus Westeuropa ließen sich in der Ukraine vor der Stichwahl sehen, obwohl es bereits im ersten Wahlkampf zu massiven Unregelmäßigkeiten gekommen war. Putin hat das Heft des Handelns nach wie vor in der Hand. Er gratulierte Janukowitsch bereits am Montag zum Sieg und sprach laut der Nachrichtenagentur Interfax von einem “offenen und ehrlichen” Wahlkampf. Dies ist an Zynismus schwer zu überbieten, gleichwohl unterstrich Bundeskanzler Schröder am Montag in der Talkshow mit Beckmann einmal mehr die guten demokratischen Absichten Putins.
Für die EU und die Bundesregierung ist es dringend geboten, in den kommenden Tagen nicht nur mit Worten, sondern gegebenenfalls mit Taten zu reagieren. Noch kämpft die ukrainische Opposition gegen den Wahlbetrug. Auch heute werden deshalb Hunderttausende von Menschen auf die Straße gehen. Es kommt darauf an, diese Massenbewegung, die an die Demonstrationen in Leipzig und Berlin von 15 Jahren erinnert, wirkungsvoll zu unterstützen. Auch die Perspektive einer engeren Anbindung an die EU könnte der Opposition einen Schub verleihen. Die EU sollte die Ukraine als ihr Interessensgebiet definieren – auch ohne einen konkreten Beitrittstermin. Sonst wird sie sich im Osten bald mit drei autoritär regierten Nachbarstaaten konfrontiert sehen, die eines Tages wie der alte Ostblock in neuem Gewande wirken.
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Philipp Ther ist Juniorprofessor für Polen- und Ukrainestudien an der Europa-Universität Frankfurt/Oder und derzeit IWM Visiting Fellow. Sein Artikel ist in der Süddeutschen Zeitung, Ausgabe vom 25. November 2004 erschienen.