Der ungarische Medienkrieg

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Glauben Sie mir nicht. Dies ist ein sehr persönlicher und einseitiger Bericht. Über einen unblutigen Krieg, der allen eine Lehre sein kann, die sich für die Nöte einer jungen Demokratie interessieren. Und für den Spaß, den man beim Aufbau einer Demokratie haben kann.

In memoriam Elemér Hankiss (1928-2015) veröffentlicht das IWM diesen Text aus dem Jahr 1993, der in der Zeitschrift Transit – Europäische Revue (Nr. 6) erschienen ist und angesichts der jüngeren Entwicklungen in Ungarn unerwartet an Aktualität gewonnen hat.

I

Der ungarische MedienkriegAn einem schönen Augustmorgen des Jahres 1990 erwachte ich leicht angeekelt mit dem merkwürdigen Gefühl, der Intendant des Ungarischen Fernsehens zu sein. Intendant gegen meinen Willen. Nach dreißig Jahren zwischen Schreibtisch und Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten war dies eine absurde und zugleich traditionell ostmitteleuropäische Situation. In Ermangelung eines qualifizierteren Kandidaten werden Leute in Positionen berufen, die außerhalb ihres Berufsfeldes liegen. Der falsche Mann an der richtigen Stelle? Der richtige Mann an der falschen Stelle?

Ehrlich gesagt, ich machte mir an jenem schönen Morgen kaum Gedanken über diesen Aspekt der osteuropäischen Sozialgeschichte. Viel mehr Kopfzerbrechen bereitete mir ein kleines, aber nicht unbedeutendes Detail. Von Schauspielern hatte ich gehört, daß es entscheidend sei, wie man die Bühne betritt. Das Problem bestand darin, von meinem häuslichen Schreibtisch an den Schreibtisch des Intendanten des Ungarischen Fernsehens zu gelangen. Die Entfernung betrug nicht mehr als drei Kilometer. Wie aber war ein nicht allzu lächerlicher und möglichst unzeremonieller Antritt zu inszenieren?

(a) Wurde erwartet, daß ich mir einen Dienstwagen schicken lasse? Einen dieser schwarzen russischen Wagen, wie ihn die kommunistischen Apparatschiks vierzig schmachvolle Jahre hindurch benutzt hatten? Ausgeschlossen.
(b) Sollte ich mein eigenes Auto nehmen? Damit war schon meine Frau unterwegs.
(c) Die Straßenbahn und die Untergrundbahn, wie ich das jahrzehntelang getan hatte? Natürlich.
(d) Wie sollte ich mich kleiden? Das stellte kein echtes Problem dar, hatte ich doch keinen von diesen Anzügen, wie ihn echte, seriöse Manager zu derlei Anlässen tragen. Die einzige verfügbare Alternative war die Uniform der notorisch lässigen Intellektuellen: Jeans und Pullover. (In den ersten zwei Jahren ihres Bestehens wimmelte es in den neuen demokratischen Parlamenten Ostmitteleuropas von diesen krampfhaft nonchalanten Jeans-und-Hemd- oder Jeans-und-Pullover-Intellektuellen; später überzeugte man sie, daß sie nicht wiedergewählt würden, wenn sie sich nicht in einen schwarzen Anzug mit passender Krawatte zwängten. Die Krawattenfarbe hatte schon in den letzten Jahren oder Monaten des Ancien régime sich zu ändern begonnen; erst von flammend- zu bordeauxrot, dann zu blau und grau; neuerdings tragen jüngere Parlamentarier auch schon Krawatten mit bunten postmodernen Arabesken.)
(e) Wie soll ich ernst bleiben, wenn ich auf die ersten Menschen im Gebäude stoße und die Rolle des Intendanten dieser großen Institution mit mehr als 3000 Angestellten spielen muß? (In meiner Forschungsgruppe waren wir nie mehr als zehn Wissenschaftler.) Ich beschloß, nicht ernst zu bleiben.

Nach Straßen- und U-Bahnfahrt ein kurzes Stück zu Fuß zu dem aus dem späten 19. Jahrhundert stammenden Fernsehgebäude (das bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs die Börse war), die grandiose Treppe hinauf zum Haupteingang, und da stehen sie schon, der Chor derer, die unbewegt, in formellem Schwarz, die nächsten zwei Jahre mein hektisches Kommen und Gehen verfolgen werden. Ich spreche von der Sicherheitskontrolle, wohlwollende, pensionierte Polizeibeamte mit Bauch, die erst in der letzten Episode des bald ausbrechenden Medienkrieges aus ihrer feierlichen Passivität aufgeschreckt werden sollten.

Jetzt, an diesem ersten Morgen, fragen sie nach meinem Ausweis. Ich habe keinen, erwidere ich, zufällig bin ich aber der Intendant dieser Institution. Nach kurzer Verlegenheit geben sie den Weg frei. Ich begebe mich in den dritten Stock.

Die Intendantensuite. Roter Teppich, Grünpflanzen, Sonnenschein. Ich klopfe an einer großen weißen Türe. Eine magere, ältere Dame mit funkelnden Augen und frostigen Umgangsformen. Sie war die Sekretärin von mehreren meiner Apparatschik-Vorgänger und ist überzeugt, daß ich sie auf der Stelle feuern werde. Sie begleitet mich zu meinem Büro, eingerichtet in einer für die achtziger Jahre typischen Mischung aus bolschewistischem Puritanismus und Kadaristischem Pomp, auf den Bücherregalen die Große Enzyklopädie und Lenins Werke (Stalins opera omnia waren bereits entfernt worden).

Ich sage zur Sekretärin, daß ich nichts gegen sie habe. Sie könne bleiben, falls sie möchte, und ich mit ihrer Arbeit zufrieden bin. Das erste Zeichen von Schwäche? Der erste Fehltritt? Sollte ich die alte Garde augenblicklich entlassen? Oder sollte ich die besten Experten behalten, um den Laden zu führen? (Zu diesem Zeitpunkt nahm ich diese Fragen nicht allzu ernst. Zum Glück. Andernfalls wäre ich in eine endlose und unglückliche Kontroverse verwickelt worden, die inzwischen ganz Ostmitteleuropa erfaßt hat. Nach ein paar Wochen beschloß ich, jedermanns Vergangenheit zu ignorieren und mich bei der Personalpolitik auf Fähigkeiten und Leistungen zu beschränken. Ich baute die gesamte bürokratische Struktur der Institution ab, entließ die Leiter aller Redaktions- und Produktionsabteilungen und ließ die wichtigen Posten neu ausschreiben).

Nach ein paar Minuten bleibe ich alleine in diesem großen, gespenstischen Büro. Den einzigen Trost bietet eine kleine Terrasse mit der Aussicht auf einen der schönen Plätze des Zentrums von Budapest mit den Neorenaissance- und Fin-de-siècle-Gebäuden der Nationalbank und daneben dem weißen Palast der amerikanischen Botschaft. In den kommenden zwei Jahren werde ich meinen distinguierteren Besuchern oder denen, die mir sympathisch sind, den legendären Spazierweg auf dem Dach des Botschaftsgebäudes zeigen, wo dem Volksglauben zufolge Kardinal Mindszenty in den Jahren, in denen er die Gastfreundschaft und den Schutz der Botschaft genoß, seinen Morgen- und Abendspaziergang absolvierte.

Da sitze ich nun und starre auf ein häßliches, cremefarbenes Telefon mit unzähligen Knöpfen. Warum bin ich hier drinnen und nicht draußen, auf dem Platz oder in meiner Lieblingsbibliothek zwei Ecken weiter, am Ufer der Donau? Was zum Teufel soll ich tun? Wie bin bloß in diese absurde und lächerliche Lage geraten? Ich fühle mich elend. Ich rufe meine Frau an. Sie lacht aus vollem Hals und legt auf.

II

Wie war ich in diese Lage geraten? Es war mein Fehler, auch wenn wir nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems im Jahr 1989, als die Mühlen der Demokratie zu mahlen begannen, kaum eine Wahl hatten. Mit “wir” meine ich Leute, die irgendwie zur Opposition gegen das kommunistische Regime gehört hatten, und im besonderen meinen Freund, der Intendant des Ungarischen Rundfunks wurde, und mich.

Die ersten freien Wahlen in Ungarn seit 1947 fanden im März und April 1990 statt. Da das Demokratische Forum, die größte Regierungspartei nach den Wahlen, nur eine schwache Mehrheit besaß, mußte es mit der stärksten Oppositionspartei einen Pakt schließen. Einer der ersten Punkte dieses Arrangements war die Bestellung von zwei unabhängigen Personen für die Position der Intendanten des ungarischen Fernsehens und Rundfunks. Keine leichte Aufgabe, da in den tollen Jahren 1988/89 und in der Hitze der Wahlkampagne von 1990 wenige Leute der Versuchung widerstehen konnten, sich kopfüber in die Parteipolitik zu stürzen. Nach vierzig Jahren verordneter Passivität waren die Menschen begierig, endlich etwas für ihr Land zu tun. Abgesehen davon war der Aufstieg in eine politische Position fast über Nacht zur attraktivsten und glanzvollsten sozialen Rolle geworden, die nicht nur Macht, sondern auch Berühmtheit, Prestige und eine neue Identität nach so vielen Jahren der Anonymität und Anomie einbringen konnte.
In dieser Situation kamen nun im Juni 1990 nach den Wahlen der Premierminister und der Führer der größten Oppositionspartei zu uns (wir beide, mein Freund Csaba Gombar und ich, waren Politikwissenschaftler und lehrten an der Budapester Universität) und boten uns diese Jobs an. Sie sagten, wir seien als unabhängige Kandidaten vorgeschlagen worden, denen man zutraute, einen Mittelweg zwischen den regierenden Parteien und der Opposition zu halten und die Unparteilichkeit der beiden Sender zu gewährleisten. Damals, in der postrevolutionären Euphorie, glaubten alle Parteien ernsthaft an die Unantastbarkeit des Prinzips der Pressefreiheit. Sie ahnten noch nicht, wie lästig diese Freiheit bald vielen von ihnen in der Praxis werden sollte.

Mehrere Wochen lang sagten wir nein, nein und abermals nein. Schließlich gaben wir nach und teilten ihnen mit, wir würden die Ernennung unter der Bedingung akzeptieren, daß das Gesetz über die Bestellung der Intendanten geändert wird. Im kommunistischen Regime hatte nämlich der Ministerrat das Recht, die Intendanten von Rundfunk und Fernsehen zu ernennen (unter der kaum verhohlenen Kontrolle des Politbüros). Wir erklärten, daß wir eine Ernennung durch den Premier nicht annehmen würden, da wir von ihm oder der Regierung in keiner Hinsicht abhängig sein wollten. Unsere Bedingung wurde akzeptiert und das Gesetz über Nacht geändert. Nach diesem neuen Gesetz, auf das sich die Unabhängigkeit der beiden Institutionen in den kommenden zwei Jahren gründete, hat der Premier nur das Recht, seine Kandidaten zu nennen, die – nach einer Anhörung in einem Parlamentsausschuß – vom Präsidenten der Republik bestellt oder nicht bestellt werden.

Selbst mit dieser Änderung nahmen wir unsere Posten nur für sechs Monate an, oder genauer gesagt, bis ein neues Mediengesetz verabschiedet und unsere Nachfolger gefunden sein würden. Das war im Juli 1990. Seit damals sind fast drei Jahre vergangen, und noch immer gibt es kein neues Mediengesetz, unsere Nachfolger wurden auch noch nicht gefunden. Statt dessen kam es zu einem Medienkrieg.

III

Wir übernahmen unsere Posten im August 1990. Die Flitterwochen (falls es denn solche gab) mit den regierenden Parteien waren nur von kurzer Dauer. Sie begriffen bald, daß sie auf die Falschen gesetzt hatten.

Mein Freund vom Rundfunk, ein leiser, freundlicher Mann mit einem scheuen Lächeln und übergroßer Bescheidenheit, ist einer der besten Politikwissenschaftler Ungarns; er benimmt sich aber, als sei er ein Neuling. Sein Lächeln kann als Ausdruck von Schüchternheit oder Schwäche mißverstanden werden. Doch falls die regierenden Politiker nach jemandem gesucht hatten, der benützt, beeinflußt und eingeschüchtert hätte werden können, so hat er sie mit seinem Lächeln unabsichtlich irregeführt, denn hinter dieser jungenhaften Erscheinung verbirgt sich ein starker und mutiger Charakter. Was mich betrifft, so mag ich weniger leise und bescheiden sein, bin aber empfindlich, was meine Unabhängigkeit betrifft, und allergisch gegen Leute, die mir sagen wollen, was ich zu tun habe.

Ihr größter Fehler lag allerdings woanders. Sie vergaßen oder ignorierten, daß auch wir an einer Krankheit litten, die in den vier Jahrzehnten kommunistischer Herrschaft unter osteuropäischen Intellektuellen weit verbreitet war. Es war ein unbehagliches Schwindelgefühl, ein Gefühl von Leichtigkeit, Schwerelosigkeit, von Selbstzweifel. Es war die Furcht, wir müßten eines Tages für das einstehen, was wir vierzig Jahre lang gesagt oder geschrieben hatten. Bezeugen, daß das, was wir dem Kommunismus in unseren Schriften, Diskussionen, Büchern mehr als vier Jahrzehnte lang entgegengesetzt hatten – die Ideen von Gerechtigkeit und Demokratie, von Zivilcourage und Toleranz, von Wahrheit und Freiheit -, mehr als bloße Worte und intellektuelle Frivolitäten gewesen waren. Zeigen, daß wir, statt bloß darüber zu sprechen, nach diesen Ideen leben konnten. 1989 kam schließlich der Augenblick der Wahrheit. Es war eine glückliche und ein wenig alarmierende Überraschung. Wir hatten Lampenfieber angesichts dieser Situation des Hic Rhodus, hic salta. Wir mußten die Integrität und Gültigkeit unserer Ideen und Handlungen beweisen.

hicEinerseits eine leichte Aufgabe, waren wir doch überzeugt, daß die Pressefreiheit und die politische Unabhängigkeit der öffentlichen Medien zu den Hauptgeboten einer demokratischen Politik gehörten, und dementsprechend handelten wir. Andererseits mochten wir zu schnell vorgegangen und in ein quijotisches Abenteuer geraten sein. Wir schufen zwei völlig unabhängige öffentliche Medien westlicher Prägung in einer Region, die sich gerade erst aus vierzig Jahren Diktatur und mehreren Jahrhunderten autoritärer Herrschaft erhob. Unser überstürztes Experiment, eine ungarische Version der BBC zu schaffen, zumindest was die Autonomie betraf, mag eine der Ursachen gewesen sein, die das auslösten, was in Ungarn dann unter dem Begriff Medienkrieg bekannt wurde.

IV

Natürlich ist es besser, einen Krieg mit Worten und politischen Strategien auszutragen als mit Panzern und Gewehren. Und es ist auch besser, wenn eine öffentliche Fernsehanstalt um ihre Unabhängigkeit kämpft, statt sich resigniert mit ihrer Abhängigkeit abzufinden. In diesem Lichte kann der mehr als zwei Jahre heftig geführte ungarische Medienkrieg als ein Zeichen relativen Friedens und einer gewissen Reife angesehen werden. Zugleich ist er die Ausnahme, zu der es bisher keine Regel gibt.

Die sanften oder weniger sanften Revolutionen brachten Ostmitteleuropa die lang ersehnte Pressefreiheit, sie haben aber nicht die elektronischen Medien von der Kontrolle durch die Regierenden befreit. Natürlich änderten sich Charakter und Intensität dieser Kontrolle wesentlich. Es blieb aber dabei, daß in den meisten postkommunistischen Ländern das öffentliche Fernsehen (das vor der Revolution der strengen Kontrolle durch die kommunistische Partei unterstand) nach den ersten freien Wahlen zum Regierungs-Fernsehen wurde. Veränderungen in der Regierung zogen daher regelmäßig jähe Veränderungen in der Führung des öffentlichen Fernsehens nach sich. In den meisten Fällen ersetzten die neuen Premierminister oder Präsidenten umgehend die alte Fernsehführung durch eine loyale neue.

Es gibt gute und schlechte Gründe für eine Kontrolle der Medien. Zu den guten, oder zumindest nicht gänzlich abzuweisenden zählt das Argument, daß der extrem schwierige Übergangsprozeß zu Demokratie und Marktwirtschaft gemeinsamer Ziele und nationaler Einheit bedarf und die Pläne und Entscheidungen der Regierung eine breite Unterstützung brauchen. Da Fernsehen und Rundfunk am Gelingen dieser Mobilisierungsstrategien wesentlich beteiligt sind, hält es die neue Regierung für unvermeidlich und legitim, ihre moralische Verpflichtung zugunsten einer Kontrolle über die Massenmedien zurückzustellen.

Zweieinhalb Jahre lang stellte Ungarn in vieler Hinsicht eine glückliche und unglückliche Ausnahme von dieser Regel dar. Der ungarische Rundfunk und das ungarische Fernsehen waren die einzigen unabhängigen öffentlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten in dieser Zeit in Ostmitteleuropa, mehr noch, sie waren die unabhängigsten öffentlichen Medien in Europa. Ihre Unabhängigkeit war geradezu absurd. Die neuen Bestimmungen zur Wahl der Intendanten sowie das Fehlen eines Mediengesetzes, welches ein gesundes Gleichgewicht zwischen der Unabhängigkeit dieser Institutionen und ihrer sozialen Kontrolle hätte schaffen sollen, verliehen den neu gewählten Intendanten praktisch die absolute Kontrolle über ihre Institutionen. Hätten sie beschlossen, aus ihren Institutionen beispielsweise Schuhfabriken zu machen, wäre es, juristisch gesehen, sehr schwierig gewesen, sie davon abzuhalten.

Tatsächlich schlugen sie eine weniger absurde (oder absurdere?) Richtung ein. Sie versuchten, ihre vormals von der Partei kontrollierten Institutionen in öffentliche Rundfunk- und Fernsehanstalten westlichen Typs umzugestalten, mit überparteilichen Nachrichten, aktuellen Programmen und einem breit gefächerten Bildungs-, Kultur- und Unterhaltungsprogramm. Sie waren erfolgreich und doch wieder nicht. Erfolgreich, weil ihr Programm bereits 1992 trotz viel schwächerer finanzieller Ausstattung mit den besten europäischen öffentlichen Fernsehanstalten konkurrieren konnte. Andererseits scheiterten sie, weil sie nach mehr als zwei Jahren erfolgreichen Widerstandes schließlich doch von der Parteipolitik geschlagen wurden.

Das kam nicht unerwartet, war doch während des ganzen Medienkrieges fast alle Macht auf der anderen Seite, bei den Regierungsparteien und der Regierung mit ihrem ganzen Instrumentarium von Legislative und Exekutive konzentriert. Aber auch wir konnten auf manchen Schutz und manch einflußreichen Partner zählen. Wir konnten uns erstens auf den Buchstaben und den Geist des Gesetzes verlassen. Zweitens erhielten wir im Laufe des Medienkrieges zunehmend Unterstützung von den Oppositionsparteien und vom größeren, in meinen Augen besseren Teil der Presse. Und nicht zuletzt besaßen wir die Macht der Unabhängigkeit. Unsere Gegner wußten ebensogut wie unsere Freunde, daß wir überhaupt nicht an unseren Intendantensesseln klebten, daß wir keine Macht anhäufen und nur allzubald wieder in unsere früheren Berufe zurückkehren wollten. Man konnte uns weder erpressen noch einschüchtern.

V

Ich war an dem hier dargestellten Konflikt aktiv beteiligt, daher ist mein Bericht notwendig subjektiv. Selbst die folgenden Fakten, die die Schritte und die Entwicklung der Auseinandersetzungen chronologisch wiedergeben, würden wohl von jenen, die auf der anderen Seite standen – also von der Regierung, den regierenden Parteien und vor allem von deren populistisch-nationalistischen rechten Flügeln – anders interpretiert werden.
Sicherlich würden sie betonen, daß sie ebenso für die Pressefreiheit waren und sind wie wir und daß die Regierung aus verschiedenen äußeren Gründen, darunter unser Fehlverhalten, gezwungen war, die Autonomie des Ungarischen Fernsehens und Rundfunks zu beschneiden.

Ich habe keinen Anlaß, die Aufrichtigkeit der Regierung im Hinblick auf ihren Respekt vor der Pressefreiheit in Zweifel zu ziehen, zumindest nicht die des Premierministers Antall. Vierzig Jahre lang war diese Freiheit der Heilige Gral, nach dem alle strebten, die zur Opposition gegen das kommunistische Regime gehörten. Ebenso steht außer Zweifel, daß in der euphorischen Zeit der ersten freien Wahlen die Mehrzahl der neuen Politiker für die Freiheit der Medien war. Damals wäre es für jede Partei absurd gewesen, eine Medienkontrolle durch die Regierung vorzuschlagen.

Die Frage, wer den Medienkrieg angefangen hat, wird immer noch kontrovers beantwortet. Die Regierung behauptet, die Hauptverantwortung liege bei der Presse, die, mit der Opposition sympathisierend, auf breiter Front angriff und bereits in den ersten Tagen der Regierung alles attackierte, was sie tat oder unterließ. Unter diesem Druck mußte sie handeln. Zuerst versuchte man, eine regierungsfreundliche Presse auf die Beine zu stellen. Nachdem dies mißlungen war, wandte sich die Regierung den beiden großen Medien, Fernsehen und Hörfunk, zu und versuchte, Einfluß zu gewinnen und später auch Druck zu machen, um mehr Unterstützung zu bekommen. Da diese Medien in den Augen der Regierung von ehemaligen Sozialisten kontrolliert wurden, die sich jetzt als Liberale gaben, war es gerechtfertigt, ja im Namen von Pressefreiheit und -neutralität geboten, eine gewisse Kontrolle auszuüben und die Verantwortlichen dazu zu zwingen, eine bessere Ausgewogenheit zu garantieren.

Aus der Sicht der Opposition waren dies ungerechtfertigte Anschuldigungen und leere Rhetorik, die den Ehrgeiz der Regierung und ihrer Parteien bemänteln sollten, alle Macht in ihren Händen zu konzentrieren und eine direkte politische Kontrolle über die beiden Medien zu gewinnen. Dies alles mit dem Ziel, eine autoritäre Demokratie zu installieren, die nächsten Wahlen zu gewinnen und so ihre Herrschaft ein für alle Mal zu etablieren.

Im übrigen ist mir durchaus bewußt, daß die ungarische Regierung keineswegs die einzige in Europa – den Westen eingeschlossen – ist, die versucht hätte, Kontrolle über die öffentlichen Medien zu gewinnen. Ich muß auch einräumen, daß ihre Strategie in den ersten beiden Jahren des Konflikts zivilisierter und akzeptabler war als die Mittel, die so manche Regierung im Westen eingesetzt hat. Sie hat ihren Kampf in dieser Zeit im vorgegebenen gesetzlichen Rahmen geführt.

Die Tatsache, daß die Regierung in den letzten Monaten des Medienkriegs ihre Geduld verlor und Fernsehen und Rundfunk im Handstreich zu nehmen versuchte statt das Urteil eines ordentlichen Gerichtes abzuwarten, war indes nicht ihr schlimmster Verstoß. Der wirkliche Schaden lag darin, daß sie in einem Land, das Jahrhunderte lang mittels autoritärer Herrschaft, Bürokratie und Überzentralisierung in einem rückständigen, halbkolonialen Zustand gehalten worden war, die Unabhängigkeit zweier wichtiger öffentlicher Institutionen zerstört hat. Indem die regierenden Kräfte diese destruktive osteuropäische Tradition wiederaufgenommen haben statt die Entwicklung einer pluralistischen Demokratie interagierender unabhängiger Institutionen zu unterstützen, haben sie – meiner Meinung nach – den 1989 einsetzenden Prozeß der Demokratisierung in Ungarn gefährlich verlangsamt.

Mag sein, daß ich mich täusche, jedenfalls interpretiere ich die Fakten in diesem Lichte. Was waren die Fakten?

VI

Juli 1990: Der Premierminister schlägt die beiden Kandidaten für die Intendantenposten des Ungarischen Fernsehens und Hörfunks vor. Nach einer Anhörung vor dem Kulturausschuß des Parlaments und ihrer einstimmigen Annahme werden sie vom Präsidenten der Republik in ihrem Amt bestätigt.

Dezember 1990: Beginn der Konflikte mit der Regierung bzw. den regierenden Parteien. Regierungspolitiker melden Zweifel an den Mitarbeitern an, mit denen ich die leitenden Positionen des Fernsehens besetzt hatte. Unser Budget wird um die Hälfte gekürzt.

Januar 1991: Beginn der radikalen Reorganisation der Institution mit dem Ziel, aus einer bürokratischen Staatseinrichtung eine moderne und flexible Fernsehgesellschaft zu machen: Organisation und Management wie beim kommerziellen Fernsehen, aber unter Wahrung der Vorzüge und besonderen Verpflichtungen eines öffentlichen Mediums. Rechte Gruppen und Parteien greifen uns daraufhin mit verschiedenen Vorwürfen an:
– Wir kommerzialisierten das nationale Fernsehen.
– Wir amerikanisierten es.
– Wir bezahlten unseren Stars Tantiemen, die das Gehalt des Premierministers weit überstiegen.
– Unsere Journalisten und Programme seien in bezug auf die Regierung voreingenommen und zu kritisch.
– Durch unsere Reorganisation hätten wir die alten Arbeitszusammenhänge zerstört, woraufhin die nationalen kulturellen Werte im Programm ins Hintertreffen geraten seien.

April 1991: Der Premierminister beginnt, offensichtlich unter dem Druck des rechten Flügels seiner Partei, verschiedene Kandidaten für die Posten der stellvertretenden Intendanten von Fernsehen und Rundfunk vorzuschlagen (mit der immer weniger verhüllten Absicht, jemanden zu installieren, über den die Regierung ihren Einfluß auf diese Institutionen ausüben kann). Seine Versuche blieb fast ein Jahr lang ohne Erfolg.

November 1991: Ich initiiere ein neues Abendnachrichtenprogramm, um ein Gegengewicht zu den sich immer mehr durchsetzenden Rechtstendenzen im bestehenden Nachrichtenprogramm zu schaffen. Die Strafe folgt auf dem Fuße: In der Budgetdebatte im Dezember wird uns praktisch die gesamte Finanzierung gestrichen.

1. März 1992: Endlich gelingt es dem Premierminister, den beiden Institutionen stellvertretende Intendanten aufzuzwingen.

3. März 1992: Ich entlasse meinen Stellvertreter, was zu einem langen und heftigen Rechtsstreit mit dem Premier führt.

Mai und Juni 1992: Da er den Streit nicht für sich entscheiden kann und zugleich wachsendem Druck vom rechten Flügel seiner Partei ausgesetzt ist, schlägt der Premier dem Präsidenten der Republik vor, meinen Kollegen und mich des Amtes zu entheben. Nachdem ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß zu keinem Ergebnis gekommen ist, lehnt der Präsident den Vorschlag ab.

August 1992: Der Vizepräsident des Demokratischen Forums, Csurka, veröffentlicht sein berüchtigtes Manifest, in welchem er ein diffuses populistisch-nationalistisches Programm mit fremdenfeindlichen und antimodernen Untertönen propagiert. In Csurkas Mythologie gibt es eine jüdisch-bolschewistisch-liberal-kosmopolitische Verschwörung gegen die ungarische Nation, als deren Hauptagenten Gombar und ich demaskiert werden.

September und Oktober 1992: Ich entlasse den Chefredakteur der Hauptabendnachrichten (ein ehemaliger Parteisekretär, der zum Sprachrohr der nationalistischen Kräfte geworden war) und den Chefredakteur des wichtigsten politischen Auslandsmagazins (ein ehemaliges Mitglied des Parteipräsidiums im Ungarischen Fernsehen, der nach 1989 ebenfalls zum Herold der ungarischen Rechten geworden war – kein schlechter Journalist im übrigen). Gombar hatte kurz vorher im Rundfunk ähnliche Schritte unternommen.

November und Dezember 1992: Im Gegenzug eröffnet der Premierminister ein Disziplinarverfahren gegen mich, um mich schließlich zu entlassen. Dagegen protestiere ich und lege Klage ein. Nach meiner Auffassung war er nie mein Dienstherr (er konnte es schon deshalb nicht sein, weil ein solches Abhängigkeitsverhältnis gegen die Pressefreiheit verstoßen würde und daher gegen das Gesetz wäre).

Dezember 1992: Während der Debatte über das Budget 1993 verabschiedet die Mehrheit des Parlaments eine Verordnung, nach der das Budget des Ungarischen Fernsehens und Rundfunks mit 1. Januar 1993 Bestandteil des Budgets des Premierministers werden.

27. Dezember 1992: Die Vorlage zum neuen Mediengesetz scheitert im Parlament.

6. Januar 1993: Gombar und ich übermitteln dem Präsidenten der Republik ein Schreiben, in dem wir ihn darum bitten, uns von unseren Amtspflichten zu entbinden. Bis heute hat er dieser Bitte nicht entsprochen.

VII

Auch ohne Kafka, Broch, Capek und Mrozek kann Osteuropa auf eine lange und beeindruckende Geschichte der Absurditäten blicken. Auf jene der k.u.k.-Zeit folgten in den zwanziger und dreißiger Jahren ungarische, tschechoslowakische und polnische und später die mörderischen Absurditäten des Bolschewismus. Der ungarische Medienkrieg hat sein bescheidenes Scherflein zum Repertoire der nachrevolutionären Absurditäten beigetragen.

Man denke etwa an die Hungerstreiks. Im Juni 1992 inszenierte Bischof Tökes, der beim Ausbruch der Revolution in Rumänien – falls es überhaupt eine solche war – eine wesentliche Rolle gespielt hatte, einen kurzen Hungerstreik als Protest gegen ein rumänisches Gerichtsurteil, welches die für ein Blutbad in Siebenbürgen Verantwortlichen freigesprochen hatte. Er setzte ein Beispiel, das Schule machen sollte. Ein paar Wochen später begann ein Abgeordneter der ungarischen Regierungspartei einen Hungerstreik mit einem weitaus weniger edlen Ziel. Er verlangte unseren (meinen und Gombars) sofortigen Rücktritt. Alsbald ging ein Rundfunkredakteur in Hungerstreik mit der Forderung, daß Gombar auf der Stelle seinen Hut nehmen solle. Daraufhin wieder verkündeten zwei weibliche Popsänger, sie würden einen Hungerstreik zu unserer Unterstützung beginnen; sie hatten ein bißchen Übergewicht und ohnedies eine Schlankheitskur geplant. Glücklicherweise stellten die Streikenden ihre Protesthandlungen ein, bevor die Hungerstreikepidemie sich zu einer Tragikomödie und einer verheerenden politischen Kettenreaktion ausweiten konnte.

Damals glaubte ich, das Privileg zu genießen, der erste Fernsehintendant zu sein, gegen den ein Parlamentsabgeordneter einen Hungerstreik führte. Ich war im Irrtum. Wenige Wochen später erzählten mir englische Kollegen von einem walisischen Abgeordneten des britischen Parlaments, der vor ein paar Jahren mit der Forderung in Hungerstreik getreten war, daß die BBC auch Programme in walisischer Sprache senden solle. Er bekam sie. Sein ungarischer Kollege hatte weniger Erfolg. Er bekam lediglich einen warmen Händedruck von Herrn Csurka.

Im September 1992 gab es Demonstrationen von rechts, unter anderem gegen den Präsidenten der Republik, Arpad Göncz, meinen Amtskollegen und mich. Etwa 15 000 Demonstranten forderten meinen Rücktritt. Eine Woche später demonstrierten etwa 60 000 Menschen gegen diese Angriffe im Namen demokratischer Grundrechte und -werte.

Auch diese Proteste waren mit einer Aura des Absurden umgeben. Ich liebe farbenfrohe Demonstrationen und habe keine Abneigung gegen die ungarische Fahne wie manche meiner liberaleren Freunde. Mein Problem bei der gegen uns gerichteten Demonstration lag in ihrer merkwürdigen Widersprüchlichkeit: (a) Die Demonstration wurde von der Vereinigung jener organisiert, die nach 1956 zu Gefängnisstrafen verurteilt worden waren. (b) Sie demonstrierten gegen die Kommunisten und gegen mich. (c) Auch ich war nach 1956 im Gefängnis gelandet, zusammen mit denen, die nun gegen mich protestierten. (d) Ich hatte nie mit der kommunistischen Partei zu tun gehabt, außer daß sie mich nach 1956 ins Gefängnis gesteckt und mich in den darauffolgenden Jahrzehnten schikaniert hatte, wo sie nur konnte. (e) Die Demonstranten unterstützten und applaudierten zwei meiner Kollegen, von denen einer Parteisekretär und der andere Mitglied des kommunistischen Parteipräsidiums im Fernsehen gewesen war.

Vielleicht kann man all dies besser verstehen, wenn man die frivole, wenn nicht zynische Bemerkung des Staatssekretärs Tamas Katona akzeptiert, mit der er die Präsenz einer großen Zahl von ehemaligen ergebenen Kommunisten in den Regierungsämtern begründete. Wenn ich mich nicht irre, sagte er, daß selbst eine demokratische Regierung gute Söldner brauche, und lächelte dabei listig unter seinem majestätischen ungarischen Schnurrbart. Angeblich hat Herr Csurka diese Aussage lapidar um das Verdikt “Wer ein guter Exkommunist ist, entscheide ich!” bereichert.

Als ich am nächsten Tag diese merkwürdigen Widersprüche in einem offenen Brief aufzugreifen wagte, drohten mir die beiden Fernsehleute mit einem Gerichtsverfahren, weil ich gewagt hatte, etwas aus ihrer Vergangenheit zu erwähnen, was offenbar ihr persönliches Eigentum war und dem Schutz ihres Persönlichkeitsrechts unterlag.

Nach diesem Ausflug ins Absurde möchte ich auf die Schizophrenie meiner gegenwärtigen Lage zurückkommen. Während ich diese Zeilen schreibe, fliege ich gerade über den Atlantik und weiß absolut nicht, wer und was ich bin. Ich hoffe es zwar nicht, aber ich könnte immer noch der Intendant des ungarischen Fernsehens sein. Aber vielleicht bin ich’s nicht mehr. Man könnte sagen, daß ich es de jure zwar bin, de facto aber nicht mehr. Oder wäre es richtiger, daß ich es einem ungarischen Gesetz nach noch bin, einem anderen nach jedoch nicht mehr? Um diese Zwei- oder Vieldeutigkeit erklären zu können, muß ich über den letzten Akt des Medienkrieges oder der Medienkomödie berichten.

Am 6. Januar 1993 schrieben Gombar und ich, wie erwähnt, einen Brief an den Präsidenten der Republik mit der Bitte um Entlassung aus unseren Ämtern. Wir führten folgende Gründe an: Erstens fühlten wir uns nach dem Scheitern des Mediengesetzentwurfs im Dezember 1992 im Parlament und mangels Aussicht auf die Verabschiedung eines neuen Entwurfs vor der allgemeinen Wahl 1994 von unserem Versprechen entbunden, bis zum Erlaß eines Mediengesetzes im Amt zu bleiben. Zweitens hätten unsere Institutionen durch den Verlust ihrer finanziellen Unabhängigkeit aufgrund des neuen Budgetgesetzes ihre hart erkämpfte Autonomie eingebüßt. Ihre Rückverwandlung in das, was sie vor 1989, in den schlechten alten Zeiten gewesen waren, werde vorangetrieben. Drittens wollten wir keine Beihilfe zur Zerstörung von zwei der bedeutendsten autonomen Institutionen unserer neuen Demokratie leisten.

Der Premierminister nutzte hastig diese Gelegenheit. In seinem Brief vom 20. Januar schrieb er uns, daß er unseren “Rücktritt” annehme und beauftragte die beiden Vizeintendanten mit der Führung der beiden Institutionen. Am nächsten Tag ließ der Präsident der Republik verlautbaren, daß wir nicht zurückgetreten seien, daß es ausschließlich sein Recht sei, unser Ansuchen anzunehmen oder auch nicht, und daß, falls der Premier unsere Entlassung vorschlägt, und dies sei sein einziges Recht, er den Antrag prüfen und seine Entscheidung innerhalb einer angemessenen Frist treffen werde.

Es ist weder tragisch noch außergewöhnlich, daß in einem Land wie Ungarn oder auch anderswo Präsident und Premierminister in einer wichtigen Angelegenheit nicht übereinstimmen und sogar öffentlich darüber streiten. Von Frankreich bis zur ehemaligen Tschechoslowakei und Polen gibt es zahlreiche Beispiele für solche Konflikte. Natürlich sind sie bei der Geburt und Entwicklung zerbrechlicher neuer Demokratien gefährlicher. Die Situation, in der Gombar und ich gezwungen wurden zu entscheiden, ob der Präsident oder der Premier recht hatten, war nicht tragisch, wohl aber absurd. Und es wäre sinnlos und grausam gewesen, jeden Tag den tausenden Kollegen, Managern, Produzenten, Kameramännern, Redakteuren, Sicherheitsbeamten, Putzfrauen etc. die Entscheidung aufzuerlegen, wem gegenüber sie nun loyal sein sollten: uns oder den neuen von der Regierung eingesetzten Männern.

Wir wollten unsere unschuldigen Kollegen nicht in diese Tortur hineinziehen, und wir wollten auch nicht in eine gemeine und erniedrigende Streiterei mit den Regierenden verwickelt werden, die alle Mittel und Macht in ihren Händen hielten. Nach langem Abwägen verfaßten wir am 20. Januar einen offenen Brief, in dem wir unser Dilemma erläuterten. Wir stellten fest, daß wir uns als die rechtmäßigen Intendanten dieser Institutionen sahen, unsere Ämter aber nicht ausüben würden, solange nicht der Präsident der Republik, der Premier, das Parlament, der Verfassungsgerichtshof oder ein Gericht diesen Wirrwarr geklärt haben. Das war unser jüngster und ich hoffe letzter Streich im Medienkrieg.

Und jetzt fliege ich in der Touristenklasse (für Nichtintendanten) über den Atlantik und kommentiere einen Bericht des Rechnungshofes über das Ungarische Fernsehen (eine öde Intendantenpflicht).

VIII

Als die Regierung alle rechtlichen Möglichkeiten erfolglos ausgeschöpft hatte, suchte sie nach Möglichkeiten, mich und meinen Kollegen vom Rundfunk mit politischen Mitteln in die Knie zu zwingen. Im Mai 1992 ersuchte der Premier den Kulturausschuß des Parlaments, unsere “Kompetenz” zur Leitung der beiden Institutionen zu untersuchen. Da er sich in diesem Ausschuß auf eine Regierungsmehrheit stützen konnte, riskierte er nicht sehr viel.

Gombar und ich wählten unterschiedliche Strategien. Er ging zur Verhandlung und verlas eine kurze Stellungnahme: Er erkenne die Autorität des Ausschusses nicht an, weil dieser kein neutrales Organ sei – und ging hinaus. Skandal. In der nächsten Woche erschien ich mit fünf Experten und Tausenden von Dokumenten und verkündete, daß ich glücklich sei, hier zu sein und wichtige Angelegenheiten mit solch hervorragenden Politikern diskutieren zu können. Allgemeine Heiterkeit. “Aber”, fügte ich hinzu, “ich werde Sie zwingen, diese Untersuchung ernst zu nehmen, wie es sich für eine anständige Demokratie gehört. Ich werde Ihnen in den nächsten Tagen das Leben schwer machen. Ich werde es Ihnen sehr schwer machen, ein Urteil zu fällen, ohne die Fakten, Zahlen und Belege zu berücksichtigen, die ich Ihnen vorlegen werde.” Und die Verhandlungen dauerte drei lange Tage.

Zunächst argumentierten Abgeordnete der Regierungsparteien, daß ich bei Umgestaltung und Management des Ungarischen Fernsehens einige Verordnungen und Gesetze mißachtet hätte. Nachdem wir dies widerlegen konnten, versuchten sie das Publikum und sich selbst zu überzeugen, daß das Ungarische Fernsehen den Interessen der ungarischen Nation nicht im notwendigen Maße diene, daß es zu international, zu amerikanisiert, kommerzialisiert, “antimagyarisch” geworden sei. Als wir mit Zahlen, Statistiken und Analysen das Gegenteil bewiesen, verloren sie die Beherrschung, fegten alle Unterlagen, Zahlen und Beweisstücke vom Tisch und griffen zur ultima ratio der Parteipolitiker: “Wir, die Regierungsparteien, haben das Vertrauen in Sie verloren, und das ist ein hinreichender Grund, Ihre Entlassung auch ohne weitere Fakten, Beweise und Argumente zu beantragen.”

Das war ein interessanter Anschauungsunterricht in Sachen Demokratie. Ein geradezu ergreifender Anblick, wie Abgeordnete der Regierungsparteien, oder zumindest einige von ihnen, mit ihrem Gewissen kämpften. Wie sie versuchten, ihre Parteiinteressen (und Antipathien gegen diesen streitlustigen Intendanten) in das Korsett gesetzlicher Vorschriften zu zwängen. Zu diesem Zeitpunkt schaute fast das ganze Land diesem Schauspiel zu. Und viele Zuschauer mochten zum ersten Mal im Leben verstanden haben, daß Demokratie keine abstrakte Idee ist, sondern, ganz prosaisch, aus einer wohlbestimmten Anzahl von Regeln besteht. Sie konnten begreifen, daß eine demokratische Politik klarer, von allen Beteiligten akzeptierter Spielregeln bedarf und ebenso der Bereitschaft ihrer Bürger, sich an diese Regeln zu halten, selbst wenn ihren augenblicklichen Interessen besser gedient wäre, wenn sie sie brächen.

Ein halbes Jahr später, im Januar 1993, erfuhr diese Zeremonie ihre Wiederholung, diesmal ohne das respektable persönliche Drama mancher Beteiligter. Nach mehr als zweijähriger Amtszeit schienen die Regierungspolitiker nun ihre frühere Scheu und Keuschheit eingebüßt zu haben. Anscheinend hatten sie allmählich begriffen, daß sie an der Macht waren. Angesichts des bevorstehenden Nationalkongresses des Demokratischen Forums verloren sie zunehmend ihre Beherrschung, und einige von ihnen preschten vor, um den rechten Kräften ihren aufrechten Patriotismus zu beweisen. In dem gegen mich eingeleiteten Disziplinarverfahren setzte der Premierminister den Justizminister als Vorsitzenden und drei weitere Minister als Mitglieder des Disziplinarausschusses ein. Sie begingen mit Nonchalance einen rechtlichen Formfehler nach dem anderen und spielten die zynische Komödie eines formalen Prozesses bis zu Ende.

Das war ein echter Skandal, der im ganzen Land Widerhall fand. Die Prozeßprotokolle wurden publiziert (in einer Form und unter Umständen, die an die guten alten Zeiten des Samisdat erinnerten) und über Nacht zu einem Bestseller. In einem Budapester Theater rezitierten Schauspieler Passagen vor einem zwischen Lachen und Empörung hin- und hergerissenen Publikum. Der Medienkrieg verwandelte sich in eine Tragikomödie.

Einige Journalisten gingen so weit, den Prozeß als den “ersten Schauprozeß” nach den freien Wahlen in Ungarn von 1990 zu bezeichnen. Dies war natürlich eine stark überzogene Metapher. Wahr ist, daß das ganze Verfahren vom politischen Willen motiviert worden war, sich der Intendanten von Fernsehen und Rundfunk zu entledigen. Wahr ist auch, daß der ganze Fall vorfabriziert worden war und das Urteil schon vor dem Prozeßende feststand. Wahr ist, daß der Disziplinarausschuß das Urteil fällte, ohne die zahllosen Fakten und Beweisstücke zu berücksichtigen, die für den Angeklagten sprachen. In allen anderen Punkten aber gab es wesentliche Unterschiede. All dies ereignete sich 1993 in einer Demokratie und nicht 1953 in einer Diktatur. Die Einsätze waren viel niedriger. Statt des Henkers begrüßten eine jubelnde Menge und sympathisierende Journalisten den Verurteilten. Dieser legte Berufung ein und erklärte, er würde an den Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gehen, falls sich kein wirklich unabhängiges Berufungsgericht in Ungarn fände.

IX

Der Medienkrieg hat dem Land manchen Schaden zugefügt. Er hat aber auch mindestens ebensoviel Gewinn gebracht.

Nach mehreren Jahrzehnten des künstlichen Friedens und des universellen Kompromisses, die uns der Kadarismus beschert hatte, der Konflikte paranoisch und hermetisch ausschloß, war der Medienkrieg ein Ereignis, aus dem wir lernten, daß begrenzte Konflikte in demokratischen Gesellschaften nützlich und unverzichtbar sind.

Nach vierzig Jahren verschiedenster Formen von Sklaverei half der Medienkrieg den Menschen zu begreifen, daß in einer Demokratie sogar der Mächtigste nicht allmächtig ist. Die Leute konnten auch erfahren, die meisten zum ersten Mal, wie mächtig das Gesetz in einer demokratischen Gesellschaft sein kann. Sie konnten sehen, daß zwei fragile öffentliche Institutionen, die sich nur auf den Buchstaben und den Geist des Gesetzes stützen können, ihre neu begründete Autonomie gegen extrem starken Druck und gegen Attacken von Regierungsseite und von den Regierungsparteien beinahe zwei Jahre behaupten konnten.

Nach 1989 mußten wir lernen, daß eine Demokratie weder importiert, noch von der Stange gekauft werden, noch über Nacht aus dem Boden gestampft werden kann. Sie muß erst geschaffen werden im Laufe eines langen und mühseligen Lernprozesses, an dem sich alle beteiligen und ihre Verantwortung übernehmen. Daß wir eine Regierung haben, die dem Parlament verantwortlich ist, bedeutet nicht, daß alle anderen weiterleben können in den Höhen und Tiefen einer kindlichen Unverantwortlichkeit, die wir in den vier Jahrzehnten des Kommunismus genossen und an der wir zugleich gelitten hatten: als es leicht und legitim war, den Kommunisten für alles Elend in unserem Leben die Schuld zu geben.

Die Leute mögen auch begriffen haben, warum die Existenz autonomer Institutionen eine conditio sine qua non der modernen Demokratien ist. Die Interessen einer komplexen zeitgenössischen Gesellschaft können am besten durch die Interaktion eines breiten Spektrums autonomer Institutionen vermittelt und integriert werden, unter denen die Regierung lediglich eine der wichtigsten darstellt.

Dieses dezentralisierte, auf Wechselwirkung abgestellte Modell kann für ein Land wie Ungarn besonders bedeutend sein, wo die soziale und politische Entwicklung über Jahrhunderte durch zentralistische, autoritäre Regime verzögert und verzerrt wurde.

1992 wurden das Ungarische Fernsehen und der Ungarische Rundfunk in ihrem hartnäckigen Kampf um Autonomie zu Hauptakteuren in einer Gesellschaft, die gegen die Zentralisierungsbestrebungen der Regierung protestierte. Diese Dimension erhob den Medienkrieg für einige Monate in den Rang einer exemplarischen politischen Auseinandersetzung.

X

Wir konnten zu unserem Erstaunen auch lernen, daß selbst Skandale eine positive Rolle im öffentlichen Leben einer Demokratie spielen können. Falls sie nicht zu häufig, zu groß, zu sehr à l’italienne sind und ein gutes Schauspiel liefern, können sie dem Kampf der politischen Akteure Publicity und das nötige Rampenlicht verschaffen und eine Art Katharsis des öffentlichen Lebens bewirken.

In den ersten Monaten des Jahres 1992 nahm ich eine Art Forschungsurlaub und lehrte als Gastprofessor an der Stanford University. An einem schönen Morgen, Anfang März, rief man mich aus Budapest an. Meine Kollegen berichteten mir, daß der neue Vizeintendant (der als “politisch unabhängige” Person ernannt worden war) sich als Mann der Regierung entpuppt hatte (besser gesagt, des populistischen rechten Flügels der Regierungspartei). In den ersten Stunden seiner Amtszeit hatte er fünf Leute auserkoren, von denen einer Sekretär der KP gewesen war, einer Mitglied des Präsidiums derselben Partei und ein weiterer Mitglied der kommunistischen Miliz nach der Revolution von 1956 und darüber hinaus für zwei Jahrzehnte allmächtiger Leiter der Personalabteilung des ungarischen Fernsehens. Neben ihrer makellosen kommunistischen Vergangenheit hatten sie noch etwas gemein: Sie hatten ihr Mäntelchen rechtzeitig gewendet und waren überloyale Bekenner des neuen populistisch-nationalistischen Glaubens.

Sie begingen allerdings den Fehler, in ihrem Übereifer zu schnell mit der Umstrukturierung der Institution zu beginnen. So gaben sie mir die Gelegenheit zu intervenieren. Ich sandte auf der Stelle ein Fax an den neuen Vizeintendanten, mit Kopien an den Premier und den Präsidenten der Republik, in dem ich ihn in der dritten Stunde seiner Amtszeit vom Dienst suspendierte. Ich nahm das erste Flugzeug nach Budapest.

Als ich ankam, forderte der Premier mich auf, die Suspendierung zurückzunehmen, weil ich, seiner Interpretation zufolge, nicht das Recht hatte, jemanden zu entlassen, den er ernannt hatte. Nach einem Gespräch mit meinen Anwälten antwortete ich, daß ich nach Auslegung der geltenden Gesetze und Vorschriften das Recht dazu hätte. Ein bitterer Rechtsstreit folgte, der schließlich beim Verfassungsgericht landete. Dieses ließ eine Erklärung von solch virtuoser Komplexität und Mehrdeutigkeit verlautbaren, daß beide Seiten sie zu ihren Gunsten auslegen konnten. Der Premier beantragte beim Staatspräsidenten aufgrund dieser Erklärung meine Entlassung. Und der Präsident weigerte sich aufgrund derselben Erklärung, den Antrag zu unterzeichnen.

Die Bühne für die nächste Aufführung arrangierte die Regierung selbst. Als sie mich am 6. Dezember 1992 entließ, fügte sie die Order hinzu, daß ich das Gebäude nicht betreten dürfe, bis der Disziplinarausschuß sein Urteil gefällt hätte. Das war ein Fehler, ja mehr als einer. Erstens war die Entlassung unrechtmäßig oder zumindest rechtlich umstritten. Zweitens gab es keine solide rechtliche Grundlage, mir den Zutritt zum Gebäude zu verwehren. Dies war ein unkluger und aussichtsloser Racheakt meiner Verfolger, die fühlten, daß sie nach zwei erfolglosen Jahren ihrem Ziel nahe waren. Sie machten es mir einfach. Da ich das Disziplinarverfahren und die Suspendierung als ungesetzlich oder zumindest als anfechtbar betrachtete, erklärte ich, daß ich sie bis zur gerichtlichen Entscheidung ignorieren würde. Und verkündete, daß ich am nächsten Morgen wie immer in mein Büro gehen würde.

Dies war mein zweiter, nun aber zeremonieller Antritt. Wieder nahm ich die Straßenbahn und die Untergrundbahn, da ich nicht wollte, daß mich die Schar der Sicherheitsbeamten in schwarz zu früh erblickte. Aus der Ferne sah ich schon, daß – wie im dritten Akt einer Lehár-Operette – die Treppe zum Haupteingang von Menschen wimmelte. Ich rannte die Stufen hinauf und stieß gegen die Linie der Wachebeamten, die mir nach einem Moment des Zögerns und der Verlegenheit – wie mehr als zwei Jahre zuvor – Platz machte und mich hineinließ, durch die Menge der Journalisten, der Fernsehkameras, der Kollegen, die die große Eingangshalle und die Galerien füllten, lachten und weinten, jubelten und klatschten. Nicht mich feierten sie, sondern sich selbst, uns alle und diesen flüchtigen Augenblick des moralischen Sieges, den letzten süßen Augenblick unserer Unabhängigkeit, für die wir zwei Jahre gemeinsam gekämpft hatten. Selbst wenn ich versuche, kühl und zynisch zu bleiben, muß ich gestehen, daß dies ein großer Augenblick in unserem Leben war. Und gutes Theater.

Budapest/Wien im Juni 1993
Aus dem Englischen von Andrea Marenzeller