
Pushkin statue in front of the Russian State Museum
23.01.2014
Sie rufen einen an und schreiben einem. Schreiben einem und rufen einen an. Lasst uns dies und jenes unterschreiben, sagen sie. Eine Erklärung muss her, sagen sie, lasst uns eine Erklärung anfertigen, die es in sich hat! Wie sie alle gleichzeitig und ausgiebig an unserer grandiosen Erklärung kauen werden, die noch dazu die Unterschriften solch respektabler Leute tragen wird, und wie sie dann um Verzeihung bitten, losheulen und beteuern werden, dass sie so etwas nie mehr tun. Na dann!
Oder sie grüßen einen, sagen, sie würden mit einem sprechen wollen. Wer, frage ich, unterbricht mich in einem derart wichtigen Augenblick? Es unterbricht Sie die Zeitung, das Magazin, das Radio so und so, antwortet eine leidende mädchenhafte Stimme, die nicht der Musterschülerin von gestern zu gehören scheint. Hätten Sie einige Minuten für mich, sagt sie. Ohne meine Antwort abzuwarten, fährt sie fort. Könnten Sie nicht, fragt sie, einen kurzen Kommentar abgeben? Soll er kurz sein, kann ich das wohl machen.
Man muss kein Hellseher sein. Es geht um Kiew, worum denn sonst.
Ich versuche etwas zu sagen und sage auch etwas. Dabei weiß ich ganz genau, dass ich und das nette Mädchen aus der Redaktion, und alle anderen, welchen das Wort als einziges überaus zerbrechliches Instrument dient, uns gegenseitig hinters Licht führen. Wir haben ja die traurige Gewissheit, dass das Wort nur ein Wort ist und mehr nicht. Dass man mit einem Wort schon längst nichts und niemanden mehr verbrennen kann, dass das Wort schon längst seine metaphorische Fähigkeit eingebüßt hat, auch nur irgendetwas in Brand zu stecken, geschweige denn die Herzen der Menschen, dass das Wort einer leeren und fruchtlosen Sprache angehört, mag es auch eine beunruhigte, spöttische, elegante, provokante, bisweilen von Zitaten erfüllte Sprache sein.
Mit diesem nicht wirklich neuen Zustand haben besonders wir uns mehr oder weniger auseinandergesetzt. Der Versuch, sich an ihn zu gewöhnen, sich daran zu gewöhnen, dass die Welt der Worte eine Sache ist, und die Welt blinder animalischer Gewalt eine andere – das will doch nicht gelingen. Es will nicht gelingen in einem Land, das den Namen und das Gebiet eines vollkommen anderen, irgendwohin verschwundenen Landes besitzt, in welchem sich alles um das Wort drehte, in welchem man für das Wort königlich belohnt und in den Olymp befördert oder auch gefoltert und totgeschlagen werden konnte, in welchem die Worte die Fähigkeit besaßen, zahlreiche von denen zu überleben, die sie geäußert haben. Wir leben in einem vollkommen anderen Land, das von jenem nur den Namen und die ihm eigene, selbstgefällige Knechtschaft geerbt hat. Worte gibt es keine mehr, wozu denn auch. Wie es in einem Lied aus meiner Kindheit heißt: „über die Liebe sprich nicht, über sie wurde alles gesagt“. Es wurde alles gesagt, das stimmt.
Aber der lebende Mensch ist inkonsequent. Der Autor, der sich doch zu den Lebenden zählt, ist keine Ausnahme. Aus diesem Grund drücke ich trotzdem mit Worten aus, was ich einfach nicht nicht sagen kann. Wie auch immer es gelingen mag.
Also, Kiew.
Wir wissen noch nicht, niemand unter uns weiß, womit das alles enden wird, will sagen, womit das morgen, übermorgen enden wird. Ich will lediglich das sagen – womit das alles nämlich in historischer Perspektive enden wird, ist klar.
Klar ist es deshalb, weil die geistesgegenwärtigen und verantwortungsvollen Bürger der Ukraine bereits bewiesen haben, dass sie keine Sklaven mehr sein werden. Nie wieder. Darin besteht ein entscheidender Unterschied zwischen der Ukraine und meiner unglücklichen Heimat, ungeachtet aller Ähnlichkeit unserer Sprachen und unseres historischen Schicksals. Die Ukraine und meine Heimat unterscheiden sich ungefähr in der gleichen Weise voneinander, in der sich ukrainische und russische Geistliche in ihrem Verständnis von Pflicht und Bestimmung voneinander unterscheiden. Die Gestalt des Priesters oder Mönchs, der inmitten des Schlachtfelds versucht, die ausufernde Gewalt einzudämmen, ist auf unseren Plätzen schwer vorstellbar. Eine Raketenbasis mit Weihwasser besprengen, sich in der ersten Reihe während einer feierlichen Versammlung am Tag des Tschekisten zur Schau stellen, einen aus den eigenen Kreisen aufgrund seiner besonderen Verdienste mit Eure Exzellenz zu betiteln oder eine aggressive Gruppe wahnsinniger, abergläubischer Obskuranten segnen – das tun die Unseren mit Vergnügen! Ein Beispiel für furchtlose Barmherzigkeit, Geduld und Menschenliebe sein – das schaffen sie kaum.
Sollten die freien und mutigen Bürger der Ukraine in den nächsten Tagen siegen, erwartet sie ein riesiger Haufen schwer zu lösender Probleme, an deren Bewältigung sie sich mit der gleichen Geistesgegenwart, Verantwortung und Courage machen müssen. Weil die Freiheit es nicht nur wert ist, sie auf vereisten Barrikaden zu verteidigen, sondern sie auch in eine schöpferische Tätigkeit zu verdichten, zu gestalten und zu transformieren – in den eiligen Alltag kleiner, jedoch nicht unwürdiger, vor allem aber notwendiger Aufgaben.
Falls auch in den nächsten Tagen die grobe, rüpelhafte Kraft die Oberhand gewinnen sollte, werden die Bürger der Ukraine trotzdem nie wieder Sklaven sein. Sie werden höchstens zu Kriegsgefangenen. Und das ist ein großer Unterschied. Im Gegensatz zu einem Sklaven wird sich ein Gefangener niemals und um nichts in der Welt mit seinem Schicksal abfinden.
Auch Worte können sich nicht mit dem ihnen auferlegten Schicksal abfinden, bestenfalls dem eines Museumsexponats, eines alten rostigen Degens, an einem staubigen Teppich befestigt. Sie werden trotzdem in der hoffnungslosen, gähnenden Leere erklingen bis sie jemand hört.
Lew Rubinstein ist Dichter und Essayist. Nach dem Studium der Philologie war er als Bibliothekar tätig. Seit Ende der 1960er-Jahre verfasst er poetische Arbeiten, seit 1974 serielle Textzyklen als so genannte Kartotheken. Zusammen mit Andrej Monastyrskij, Dimitrij A. Prigov und Vladimir Sorokin gilt er als wichtigster Vertreter des Moskauer Konzeptualismus. Er lebt in Moskau.
Übersetzung aus dem Russischen: Julian Pokay
Zuerst erschienen in Grani, 23. Januar 2014.
© Autor / Grani