Es war Präsident Bush sen., der unmittelbar danach diese Frage aus amerikanischer Sicht beantwortet: Zur künftigen europäischen Friedensordnung gehöre Deutschlands Verbleib in der NATO. In dem Maße, wie die militärische Bündnisfrage immer mehr zur zentralen Frage der internationalen Zustimmung zur deutschen Vereinigung wurde, traten die möglichen Alternativen, wie die Schaffung neuer Institutionen einer künftigen europäischen Friedensordnung in den Hintergrund. Mit der Bündnisfrage stellte sich am Ende nur die Frage, ob der künftige „Zustand des europäischen Friedens“ die Sowjetunion ein- oder ausschließt.
Stellte sich noch Anfang Januar 1990 die Frage, wie viel Zeit und Vertrauensbildung für eine Lösung der internationalen Aspekte der deutschen Einheit nötig sei, damit Gorbatschow nicht in der Sowjetunion scheitert, so änderte sich dies bis Ende Januar 1990 diametral. Die USA entschied sich Mitte Januar 1990 gegen das Szenario eines „graduellen Prozesses“, weil sie verhindern wollte, dass die Deutschen vor die Alternative gestellt würden, zwischen NATO und Einheit wählen zu müssen. Dabei spielte die Nutzung des Zeitfaktors eine entscheidende Rolle. Je schneller die deutsche Einheit vollzogen werde, desto weniger Alternativen für eine künftige Friedensordnung stünden zur Wahl. Die Rede vom engen Zeitfenster wurde so ab Ende Januar 1990 zum bestimmenden politischen Hebel für den politischen Prozess und zum Ausschluss von Alternativen auf internationaler wie nationaler Ebene.
Vorbemerkungen
Zu meiner Person: Ich war als Abgeordneter des letzten, frei gewählten Parlaments der DDR, als Parlamentarischer Staatssekretär im Außenministerium und als Leiter der Zwei-plus-Vier- Delegation der DDR Beteiligter in dem Prozess. Ich bin also durchaus gefährdet, die eigene Rolle zu beschönigen, das eigene Handeln zu rechtfertigen. Als Zeitzeuge und Beteiligter neigt man selbstverständlich zu selektiver Wahrnehmung, zur Legitimation des eigenen Handelns und zur Verdrängung des eigenen Versagens. Ich möchte mich daher bei der Erörterung der im Prozess der deutschen Vereinigung angelegten Alternativen vorrangig auf solche beziehen, die andere Akteure vertreten haben oder die sich aus deren Interessen nachzeichnen lassen.[1]
Wenn der Zweck dieser Tagung eine kritische Bilanz der seit 1989 in Mittel- und Osteuropa geschehenen Umwälzungen ist, dann sind aber nicht nur die damaligen Akteure historisch belastete Zeugen. Auch die Geschichtsschreibung und die öffentliche Meinung sind Zielgebiete interessengeleiteter Geschichtspolitik und unterliegen der Neigung zum „retrospektiven Determinismus“ (Henri Bergson), also der nachträglichen Bestätigung des Faktischen. Das heißt, aufgrund der vorhandenen Kenntnis des historischen Verlaufs werden gewöhnlich jene Umstände oder Handlungen hervorgehoben, die das Ergebnis der Geschichte stützen.
Wenn man die bekannte, weil realisierte Lösung der deutschen Frage mit anderen, damals diskutierten Lösungen vergleicht – Expectations in Comparison – bedeutet das nach 20 Jahren nicht, die Ergebnisse zu dementieren. Wohl aber ist es eine Möglichkeit, die Folgen zu verstehen.
1. Die Legende vom „engen Zeitfenster“ für die deutschen Vereinigung
Alternativen zeigen sich an den Weichenstellungen in einem Prozess. Hier werden bestimmte Annahmen und Erwartungen zur Begründung für Entscheidungen, die von den zuvor möglichen Alternativen eine zwingend erscheinen lässt. Die Frage ist also: Welche Annahmen und Erwartungen waren es, die alternative Lösungen der deutschen Frage aus dem Weg zu räumten? Es geht hier nicht um Geschichtsrevision, sondern um die Kritik von Mythen, um die Aufklärung der die Geschichtsschreibung leitenden Interessen.
Der Historiker Alexander von Plato beschreibt in seinem Buch „Die Vereinigung Deutschlands – ein weltpolitisches Machtspiel“ die in der deutschen Öffentlichkeit verbreitete Vereinigungslegende so: „Das Volk der DDR hat auf Initiative der Bürgerrechtsbewegung, geführt von einem weitsichtigen westdeutschen Bundeskanzler, unter dem Beistand … Gorbatschows, unter der Bedrohung sowjetischer Generale, unter der Nutzung eines nur kurzen Zeitraumes seine Befreiung erkämpft und sich mit der Bonner Republik …vereint.“[2]
Es gibt also nach dieser Legende positive Faktoren für das Gelingen der vom Volk der DDR gewollten Einheit (der weitsichtige Kanzler und der hilfreiche Gorbatschow), negative Faktoren (die sowjetischen Generäle) und den Zeitfaktor. Die Kürze der Zeit hervorzuheben, bedeutet einerseits: Es musste alles schnell gehen, deshalb konnte nicht alles perfekt sein. Aber es kann auch heißen: Es wurde der Faktor der kurzen Zeit genutzt, um es hinzukriegen. Der Zeitfaktor, das Zeitfenster, dient also zur Erklärung, warum es nur so und nicht anders ging. Es lässt sich offensichtlich nicht leugnen, dass es auch anders hätte gehen können.
Ich möchte im Folgenden auf die Annahmen und Erwartungen bei der Lösung der internationalen Aspekte der deutschen Vereinigung eingehen, weil die Entscheidungen in diesem Bereich schließlich alle Entscheidungen, im Bereich der innenpolitischen Aspekte, einschließlich der ökonomischen, dominierten.
2. Das Ziel und die Bedingung: Deutsche Einheit in einer europäischen Friedensordnung
Als Ausgangspunkt für mögliche Alternativen bei der Gestaltung der deutschen Vereinigung soll Helmut Kohls „10-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas“ gelten. Er in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag am 28. November 1989 vorstellte, dienen. Es handelte sich um einen Stufenplan zur deutschen Einheit, der die Einbettung des deutschen Einheitsprozesses in die gesamteuropäische Entwicklung versprach, den „ EG-Beitritt reformorientierter Ostblockstaaten“, eine Forcierung des KSZE-Prozesses, sowie eine umfangreiche Abrüstung und Rüstungskontrolle voraus.
Das Ziel seiner Politik formuliert Helmut Kohl so: „Mit dieser Politik wird auf einen Zustand des europäischen Friedens hingewirkt, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangen kann.“ Das Ziel, die deutsche Einheit, ist gekoppelt an eine Bedingung: „ein Zustand des europäischen Friedens“.
Präsident Bush sen. reagierte wenige Tage später auf Kohls 10-Punkte-Plan mit seinen „Vier Prinzipien“ die er auf seinem Treffen mit Gorbatschow auf Malta so interpretierte:
1. „Selbstbestimmung muss vorbehaltlos und ungeachtet des möglichen Ausgangs angestrebt werden“; so es zu einer Vereinigung kommen, müsse diese 2. „im Rahmen einer weiteren Einbindung Deutschlands in der NATO sowie in eine zunehmend integrierte Europäische Gemeinschaft“ und 3. Schritt für Schritt in Form eines „friedlichen, graduellen (…) Prozesses“ stattfinden; und 4. müsse in Übereinstimmung mit der Schlussakte von Helsinki die Unverletzlichkeit existierender Grenzen respektiert werden[3].
Die Differenz zwischen Kohl und Bush ist die Erwähnung der NATO durch Bush. Die militärische Bündnisfrage wird der entscheidende Punkt für die Frage, welche europäische Friedensordnung angestrebt wird.
Um zu verstehen, was die Alternative ist, möchte ich aus einem Dokument zitieren. Am 4. Januar 1990 besuchte Helmut Kohl Präsident Mitterand zu einem mehrstündigen Gespräch. Der veröffentlichte Gesprächsvermerk gibt einen Eindruck über die damalige Einschätzung der Situation und ihrer Möglichkeiten. Zur Frage der Bündniszugehörigkeit sagte Helmut Kohl, die angestrebten konföderativen Strukturen bedeuteten, „dass die beiden Länder in einer Übergangszeit zusammenarbeiten, obwohl sie unterschiedlichen Blöcken angehörten“. Mitterand sprach ebenfalls von unterschiedlichen Bündniszugehörigkeiten von Ost- und Westdeutschen und mahnt zur Vorsicht: „Die Vereinigung Deutschlands dürfe nicht so erfolgen, dass die Russen sich verhärten“. Mitterand habe aber keine Antwort darauf, „wie die Sowjetunion das Aufgeben ihrer militärischen Position akzeptieren werde, wenn nicht die USA und die anderen Mächte ihre Position aufgäben.“ Mitterand: „Für das weitere Handeln sei das Timing wichtig….Das Schicksal Gorbatschows hänge von Helmut Kohl mehr ab als von Ligatschow.“ Helmut Kohl versicherte Mitterand, dass er sich dieser Verantwortung bewusst sei: Er wolle Gorbatschow sagen, dass man Zeit brauche… „Wenn es uns gelinge, die Probleme zeitlich zu entzerren, und wenn Gorbatschow Vertrauen habe, dass wir kein Fait accompli schaffen wollen, sehe er … eine Chance für ein Arrangement.“ [4] .
Die Alternativen stellen sich also Anfang des Jahres 1990 wie folgt dar:
- Der „ Zustand des europäischen Friedens…, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangen kann “ schließt entweder die Sowjetunion ein oder aus.
- Um die europäische Friedensordnung, die eine Bedingung für die deutsche Einheit ist, herzustellen, braucht es Zeit und Vertrauensbildung – oder Gorbatschow wird stürzen und der Prozess scheitert an der Sowjetunion.
3. Die Strategie der USA und der Zeitfaktor
Robert L. Hutchings schreibt in seinem Buch „Als der Kalte Krieg zu Ende war“ über die amerikanischen Interessen: „Unsere westdeutschen Partner haben niemals wirklich begriffen, dass für die Vereinigten Staaten bei diesem Vereinigungsprozess mindestens ebensoviel auf dem Spiel stand wie für sie. Unsere Diplomatie in dieser Zeit war vollständig darauf ausgerichtet, die amerikanischen – nicht die deutschen – Interessens zu verteidigen.“[5] Offensichtlich bestand bei den USA Anfang 1990 die Befürchtung, dass ohne eine eigene Initiative und Führung in diesem Prozess eine Lösung die ihren Vorstellungen widersprach, nicht auszuschließen war.
Bis Mitte Januar 1990 galt das Konzept eines „graduellen Prozesses“ für die deutsche Vereinigung, entsprechend der vier Prinzipien, die Präsident Bush dazu in Malta gegenüber Gorbatschow formuliert hatte[6]. Der Kurswechsel fand in der zweiten Januarhälfte statt, etwa zwischen dem 19. und 25. Januar 1990. Er ging mit der Einschätzung einher, dass die Prozesse in der DDR sich nochmals beschleunigten und alle vor vollendete Tatsachen stellen könnten. Die Frage war: Widersprach dies den amerikanischen Interessen oder es vielleicht sogar vorteilhaft? Robert Hutchings, der damals beim National Security Council im Weißen Haus arbeitete, formulierte nach seinen Angaben das Konzept „Je schneller, desto besser“ zum ersten Mal am 19. Januar 1990[7]. Andere ehemalige Mitarbeiter im Stab des Weißen Hauses, wie Condoleezza Rice und Philip Zelikow, verweisen auf ihre eigenen Beiträge in den folgenden Tagen.[8]
Die damalige amerikanische Einschätzung lautete, dass „die Alternative einer eigenständigen, demokratischen DDR gar nicht mehr bestand und ein beschleunigter Vereinigungsprozess … die Möglichkeit, ihm Steine in den Weg zu legen, nur minimieren konnte“. Das bedeutete aber, dass eine Lösung, die mit den Interessen der USA in Einklang stand, deren „aktiven Führungswillen“ bedurfte.
Aus Sicht der USA gab es nämlich die Gefahr, dass wegen der nach wie vor bestehenden alliierten Vorbehaltsrechte der Prozess „in völlig unkalkulierbare Richtungen führen konnte, etwa zu einer internationalen Friedenskonferenz“, oder „das Moskau die Deutschen bedrängen könnte…etwa auf einen Austritt aus der NATO oder zumindest die Verbannung von Atomwaffen von deutschem Boden, oder dass sie der Forderung nachkommen würden, alle in Deutschland stationierten Streitkräfte abziehen zu lassen, die deutsche Truppenstärke zu begrenzen und einen Sonderstatus für das ostdeutsche Territorium zu erklären.“[9]
Die Schlussfolgerung für die USA hieß, alles zu tun, um zu verhindern, dass die Deutschen vor die Alternative gestellt würden, zwischen Nato und Einheit wählen zu müssen. Es ging folglich darum, den Sowjets zuvor zu kommen, „Moskau vor derart viele faits accomplis (zu) stellen, dass die Sowjets nur noch zu hohen eigenen Kosten an Gegenmaßnahmen denken konnten“[10]. Das heißt, die Geschwindigkeit des Prozesses musste zugunsten der USA arbeiten. Das „enge Zeitfenster“ war folglich ein Instrument, um den Einfluss der Sowjetunion zu minimieren und möglichst wenig zu regeln.
Dem widerspricht auch nicht die im US-Außenministerium geborene Idee eines „Sechser-Mechanismus“, die sogenannten „Zwei-plus-Vier-Gesprächen“[11], weil sie die Möglichkeit gaben, die Sowjets in ein Verfahren einzubinden, in dem praktisch nur über die Beendigung der alliierten Vorbehaltsrechte entschieden werden sollte.
4. Wodurch konnte der Zeitfaktor zum entscheidenden politischen Hebel gemacht werden?
Das Argument vom „engen Zeitfenster“ hatte zwei Seiten: Einerseits die Mahnung, die Situation könne außer Kontrolle geraten. Das war im Herbst 1989 der Fall – aber aus Sicht der etablierten Politik, denn die Bevölkerung hatte hier die Politik vorgeführt. Derselben Bevölkerung musst man also klar machen, dass unbeherrschbare Verhältnisse, spontane Entwicklungen, unerwünschte Akteure die Lage bestimmen könnten, und nur ein „engen Zeitfenster“ für einen guten Ausgang zur Verfügung stand. Andererseits eröffnete die Rede vom „engen Zeitfenster“ die Möglichkeit, die Kontrolle des Prozesses zu behalten, ehe sich die neuen Verhältnisse von selbst festigten, ein Eigenleben entfalten und unerwünschte Ergebnisse herauskämen.
Das Argument, die DDR-Bevölkerung wolle eine schnelle Vereinigung reicht nicht aus, um zu erklären, warum sich die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges auf einen kurzen Prozess zur deutschen Einheit eingelassen haben. Die Vier Mächte reservierten sich noch im Februar 1990 mit dem sogenannten „2+4-Mechanismus” zur Lösung der “äußeren Aspekte der Herstellung der deutschen Einheit”[12] , ihre Entscheidungshoheit über den Prozess. Sie hätten sich nicht wirklich durch die Ostdeutschen zu etwas zwingen lassen.
Das galt auch für die Bundesregierung. Ihr Argument, dass Fakten geschaffen würden, vor allem, dass eine längere Phase der Unsicherheit ihr noch mehr Übersiedler aus der DDR bescheren würde, ist nicht besonders belastbar. Immerhin hatte die Bundesrepublik in dieser Hinsicht das kleinere Problem gegenüber der DDR, deren Wirtschaft durch anhaltende massenhafte Abwanderung schnell zum Erliegen gekommen wäre.
Das Argument des Druckes aus der Bevölkerung diente praktisch zwei Zwecken:
- außenpolitisch, insbesondere an die Adresse der Sowjetunion, als Hinweis darauf, dass jede Verzögerung bedeute, sich mit vollendeten Tatsachen abfinden zu müssen;
- innenpolitisch als Hebel gegen Vorstellungen in der DDR-Volkskammer und in der DDR-Regierung, von der Bundesrepublik Zugeständnisse für bestimmte Neuregelungen in ganz Deutschland bzw. Sonderregelungen für den Osten durchzusetzen.
Der Zeitfaktor wurde also Ende Januar 1990 zum bestimmenden politischen Hebel für den politischen Prozess. Auch die alte DDR- Regierung unter Modrow versuchte Ende Januar 1990 mit einer Beschleunigung der Dinge noch einmal, die Initiative des Handelns zu gewinnen:
- Am 28. Januar 1990 rief Ministerpräsident Modrow die Spitzen der am Runden Tisch versammelten Opposition zu sich, erklärte ihnen, dass man keine Zeit mehr habe, bis zum Mai mit den Wahlen zu warten und verabredete mit ihnen vorgezogene freie Wahlen zum 18. März.
- Am 29. Januar 1990 erklärte Modrow vor dem Parlament, der alten DDR Volkskammer, dass die Regierung die Kontrolle verloren hätte[13] und bildete eine “Regierung der Nationalen Verantwortung” unter Einschluss der Opposition.
- Am 30. Januar 1990 brachte Hans Modrow von einer Reise nach Moskau die Botschaft mit, Präsident Gorbatschow habe bei seinem Treffen mit Ministerpräsident Modrow sein generelles Einverständnis mit einer deutschen Vereinigung gegeben.[14]
- Am 1. Februar 1990 Modrow versuchte Modrow mit seinem Deutschlandplan noch einmal die Initiative zurückzugewinnen. Mit dem Sprung auf den „Zug der deutschen Einheit“ hoffte er sowohl innenpolitisch mit Blick auf die Wahlen, als auch gegenüber Bonn in die Vorhand kommen.[15] .
Auch aus Sicht der Bundesrepublik – sowohl des Bundeskanzleramtes als auch des Auswärtigen Amtes – bot die Verengung des Zeitfensters mehr Chancen als Risken: ein ungeregelter beschleunigter Prozess würde die sukzessive Schaffung von begünstigen[16]. Am 10. Februar 1990 holte sich Bundeskanzler Kohl von Gorbatschow in Moskau die Zusage, “dass es Sache der Deutschen ist, den Zeitpunkt und den Weg der Einigung selbst zu bestimmen”[17] . Obwohl diese Zusage nicht über diejenige hinausging, die Modrow bereits erhalten hatte, wurde sie von der Bundesregierung als ihr Durchbruch inszeniert. Am 13. und 14. Februar verweigerte Kanzler Kohl Modrows DDR-„Regierung der nationalen Einheit“ den geforderten „Solidarbeitrag“ zur Stabilisierung der DDR-Wirtschaft in Höhe von 15 Mrd. DM.[18] Damit signalisierte Kohl signalisierte der DDR-Bevölkerung klar und deutlich, dass Bonn nun darüber entscheidet, wie es mit der DDR weitergeht.
Modrows Konzept „Deutschland einig Vaterland“ war vor diesem Hintergrund der letzte Versuch, auf die neue Lage durch die Flucht nach vorn zu antworten, den Zeitfaktor eventuell für sich selbst zu nutzen. Das Vorziehen der freien Wahlen um zwei Monate auf den 18. März schloss auf Seiten Modrows die Hoffnung auf bessere Chancen bei den Wahlen ein. Erwartet wurde auch ein Wahlsieg der SPD in der DDR, die ihrerseits einen sofortigen Anschluss an die Bundesrepublik ablehnte.
Zum Szenario des „engen Zeitfenster“ gehörte nämlich auch die Anfang Februar 1990 erstmals diskutierte neue Variante des Weges zur Deutschen Einheit: Beitritt nach Artikel 23 Grundgesetz statt Vereinigung[19]. Der Vorschlag, die Herstellung der deutschen Einheit nach Artikel 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik erschien als Abkürzung eines langen Weges, ohne vertragliche Regelungen. Dieses Konzept konnte bis März 1990 nur noch an der SPD in der DDR scheitern. Sie hatte versprochen, einen “gestreckten Weg zur deutschen Einheit” zu gehen, also die Vereinigung nach Artikel 146 des Grundgesetzes durchführen, mit einer neuen gemeinsamen Verfassung und mit Übergangs- und Anpassungsperioden für die Wirtschaft – wie es in allen Fällen des Beitritts zur Europäischen Gemeinschaft der Fall war.
Nach der Niederlage vom 18. März hatte die SPD zu einer Zusammenarbeit auf Regierungsebene nur noch die Alternative, als Hemmschuh der Einheit von der Regierung vorgeführt zu werden. Der Koalitionskompromiss der DDR-Regierung hieß: Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland nach vorausgehender vertraglicher Vereinbarung.
Das Dilemma dieser Position war aber offensichtlich: Mit Zeitablauf war jeder erfolgreiche Schritt dieser Politik zugleich die Aufgabe eines Stückes eigener Souveränität bedeuteten. Das enge Zeitfenster entzog schließlich den Boden für Alternativen.
5. Schlussfolgerung: Die europäische Friedensordnung und die offenen Fragen
Das am 28. November 1989 von Helmut Kohl formulierte Ziel, einen „ Zustand des europäischen Friedens zu schaffen, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangen kann “, hatte sich 1990 auf die Alternative der Einbeziehung oder des Ausschlusses der damaligen Sowjetunion verengt.
Das Element der Einbeziehung der Sowjetunion durch die Entwicklung einer 2. Säule und politischen Arms der NATO, wie es in der am 6. Juli 1990 von der NATO in London abgegebenen Erklärung steckte, blieb mehr als vage. Ebenso erging es der im November 1990 verabschiedeten “Charta von Paris”. Sie sollte eine europäische Friedensordnung begründen, in der die ehemalige KSZE als Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ausreichend Kompetenzen für die Konfliktvermeidung und -regelung erhalten sollte. Stattdessen entstand ein gefährliches Vakuum in Europa, dessen katastrophaler Ausdruck der wahrscheinlich vermeidbare Sezessionskrieg in Jugoslawien war.
Insofern bewahrheiten sich die von Kohl und Mitterand am 4. Januar 1990 ausgesprochenen Befürchtungen. Sie hatten recht, dass die europäische Friedensordnung, nur gelingen könne, wenn man sich dafür die Zeit nehme und Vertrauensbildung betreibe. Die 1990 unter Zeitdruck gefundene Lösung schwächte Gorbatschow im eigenen Land entscheidend. Dass er 1991 scheiterte, wurde für die Öffnung und die Hinwendung Russlands nach Europa zu einer schweren Hypothek. Indem der Westen auf das Dilemma der uneingelösten gesamteuropäischen Friedensordnung nach 1990 mit einer sukzessiven Ausweitung der NATO nach Osten reagierte, stellte er Russland erneut vor ein Problem der „Einkreisung“.
Mitterand hatte bereits in dem Gespräch mit Helmut Kohl im Januar 1990 vor dem „russischen Problem“ gewarnt. Bei einer Niederlage Gorbatschows würde das Problem in Gestalt eines neuen imperialen Anspruchs neu entstehen. „ Wenn die Militärs gewönnen, würden sie mit der Liberalisierung weitermachen. Aber die nationalistischen Elemente würden stark in den Vordergrund gestellt. Blut würde in Georgien und anderen Teilen der Sowjetunion fließen.“[20] So viel Weitsicht war damals selten.
1. Ich habe mich bei der Vorbereitung meines Beitrages neben eigenen Unterlagen vor allem auf den Quellenband „Deutsche Einheit“ Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, München: Oldenbourg 1998, gestützt. Außerdem waren für mich sehr instruktive Quellen die Berichte amerikanischer Beteiligter hervorheben: Philip Zelikow und Condoleezza Rice, Sternstunde der Diplomatie, Berlin: Propyläen 1997 (im Original: Germany Unified and Europe Transformed, Boston : Harvard U. Press 1995). und Robert L. Hutchings, Als der Kalte Krieg zu Ende war. Ein Bericht aus dem Innern der Macht. Berlin : Fest 1999.
2. A. v. Plato, Die Vereinigung Deutschlands, – ein weltpolitisches Machtspiel. Berlin: C.Links 2002, S.15
3. Robert L. Hutchings, Als der Kalte Krieg zu Ende war. Ein Bericht aus dem Innern der Macht. Berlin : Fest 1999
4. „Deutsche Einheit“ , Dokumente zur Deutschlandpolitik, Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, München: Oldenbourg 1998,, S. 684ff
5. R.L. Hutchings, S. 132
6. Vgl. Robert L. Hutchings, Als der Kalte Krieg zu Ende war. Ein Bericht aus dem Innern der Macht. Berlin : Fest 1999. S. 145
7. R.L. Hutchings, S. 154f.
8. P. Zelikow, C. Rice, Sternstunde der Diplomatie, Berlin, 1997, 2. Auflage, S. 223f
9. R.L. Hutchings, S. 154f.
10. R.L. Hutchings, S. 156f.
11. P. Zelikow, C. Rice, S. 238ff, und S. 562, Fußnote 31: als Autoren genannt Dennis Ross und Robert Zoellick.
12. Die sogenannte “Ottawa-Formel” vom 13.2.1990, <vereinbart zwischen den USA, Großbritannien, Frankreich, der Sowjetunion und den beiden deutschen Staaten auf der Open-Skies-Konferenz. Vgl. Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 27, 20.2.1990, S.215
13. Vgl. Rede des Ministerpräsidenten Modrow vor der Volkskammer am 29.1.1990, In: U. Thaysen, Der Runde Tisch, Oder: Wo bleibt das Volk?, Opladen 1990, S.90f
14. Vgl. Interview des Berliner Rundfunk vom 30.1.1990, in: Deutschland Archiv 3/1990, S.468
15. Vgl. “Deutschland einig Vaterland”. In: Deutschland Archiv 3/1990, S. 471f. Deutschlandplan des Ministerpräsidenten der DDR, H. Modrow, 1.2.1990. Modrow schlägt als Weg zur deutschen Einheit einen 3-stufen Prozeß von Vertragsgemeinschaft über Konföderation zu einem “Deutschen Bund” vor, in Anlehnung an Bundeskanzler Kohls 10-Punkte-Programm vom 28.11.89. Außenpolitisch fordert Modrow die “militärische Neutralität von DDR und BRD auf dem Weg zur Föderation”.
Zur militärischen Bündnisfrage heißt es, die “vier Mächte sollten ihre Absicht erklären, nach Bildung eines einheitlichen deutschen Staates… alle Fragen abschließend zu regeln einschließlich der Anwesenheit ausländischer Truppen auf deutschem Boden und der Zugehörigkeit zu Militärbündnissen”
16. W. Weidenfeld, Außenpolitik für die deutsche Einheit, Stuttgart, dva 1998, S.223
17. Presseerklärung von Bundeskanzler Dr. Kohl zum Treffen mit Präsident Gorbatschow am 1o.2.1990, in: Deutschland Archiv 3/1990, S. 474
18. Modrow forderte einen von Kohl in Dresden am 19.12.1990 bereits zugesagten Solidarbeitrag in Höhe von 10 bis 15 Milliarden DM. Vgl. U. Thaysen, Der Runde Tisch, Oder: Wo bleibt das Volk?, Opladen 1990, S.139
19. Vgl. W. Weidenfeld , S.232
20. „Deutsche Einheit“, Dokumente zur Deutschlandpolitik, a.a.O. S. 685