Überflüssig. Deutungsbegriff für neue gesellschaftliche Gefährdungen?

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Im Oktober 2004 porträtierte die Berliner taz unter dem Titel »Überflüssig in diesem Land« den Reserveoffizier der Bundeswehr, Andreas S. In das Bild, das sich die Gesellschaft ebenso wie die Soziologie von ›den‹ Überflüssigen, von der »uneinheitlichen Gruppe der am Arbeitsmarkt Marginalisierten.

Überflüssig. Deutungsbegriff für neue gesellschaftliche Gefährdungen?

»Überflüssig in diesem Land«

Im Oktober 2004 porträtierte die Berliner taz unter dem Titel »Überflüssig in diesem Land« den Reserveoffizier der Bundeswehr, Andreas S. In das Bild, das sich die Gesellschaft ebenso wie die Soziologie von ›den‹ Überflüssigen, von der »uneinheitlichen Gruppe der am Arbeitsmarkt Marginalisierten: Langzeitarbeitslose, Sozialhilfeempfänger, arbeitssuchende Jugendliche, Beschäftigte im Tieflohnsektor und in prekären Arbeitsverhältnissen, Working poor« (Pelizarri 2004, S. 43), kurzum: dem neuen »Subproletariat« gemacht hat, will sich Andreas S. zunächst so gar nicht einfügen. Worum es in der soziologischen Rede von Exklusion, von Prozessen der Entkoppelung geht – ignoriert zu werden, nicht mehr richtig dazuzugehören und dies auch in der Behandlung durch gesellschaftliche Institutionen zu erfahren –, davon erzählt seine Geschichte gleichwohl: Nach zwölf Jahren als Zeitsoldat, zuletzt als Kompaniechef eines Transportbataillons, und eineinhalb Jahren als Leiter eines mittelständischen Versandbetriebes, zudem ausgestattet mit einem guten BWL-Diplom der Universität der Bundeswehr, wurde ihm nach mehr als zwei Jahren Erwerbslosigkeit im Sommer 2004 im Testlauf für »Hartz IV« eine sogenannte »1-Euro-Beschäftigung« als Reinigungskraft im örtlichen Hallenbad zugewiesen. Diese, so der Sprecher der zuständigen Landesarbeitsagentur Niedersachsen / Bremen, stellen keine Arbeitsplätze dar, sondern Arbeitsgelegenheiten, die »Langzeitarbeitslose überhaupt wieder an eine geregelte Tätigkeit heranführen« sollen. Daraufhin schickte S., bevor er seine Arbeitsgelegenheit im Hallenbad antrat, Bundesverteidigungsminister Peter Struck die ihm verliehenen Orden zurück und widerrief seinen Diensteid: »Wenn es in Deutschland keine Arbeit gibt«, so S. in seinem Brief an den Minister, »bin ich überflüssig in diesem Land«.

Andreas S. ist nur einer von vielen, die derzeit die Hintergrundseiten deutscher Zeitungen bevölkern und die von neuen gesellschaftlichen Gefährdungen zu künden scheinen. Nicht zufällig rücken diese Berichte einen wie ihn ins Zentrum, verkörpert er doch gleichsam einen Prototyp der alten Bundesrepublik: den mindestens der unteren Mittelschicht zugerechneten männlichen Familienernährer mit bis dato kontinuierlich verlaufener Erwerbsbiografie. Sie sind es, die augenscheinlich ›am meisten‹ zu verlieren haben, waren doch für sie die Normalitätsfiktionen der industriellen Gesellschaftsformation mit der auch sozialpolitischen Privilegierung des männlichen Normalarbeitsverhältnisses am deutlichsten Realität. Doch nun, aufgewacht aus dem »kurzen Traum immerwährender Prosperität« (Lutz 1984), finden sie sich wieder in einer »Kultur des Zufalls« (Castel 2000a), in der auch sie die tendenziell sozial entgrenzte Erfahrung machen (müssen), verzichtbar zu sein, zumindest potentiell zu den von Zumutungen Betroffenen zu gehören statt zu den von Regelungen Begünstigten. Jedenfalls hat die Erfahrung ›rauszufallen‹ bzw. die Angst davor tiefe Spuren darin hinterlassen, wie immer mehr Menschen ihre eigene Situation und Zukunft wahrnehmen und einschätzen. Jedes beliebige Alltagsgespräch kann derzeit diese Wende nehmen: Jede/r kennt jemanden, den oder die ›es‹ getroffen hat. Längst hat der »krasse soziale Wandel« (Clausen 1994) nicht nur den ›Rand‹ der Gesellschaft erfasst, sondern auch weite Teile der Mitte der Bevölkerung, die allerdings im globalen Maßstab immer noch in nicht nur relativem Wohlstand lebt. Es scheint ganz so, kommentiert Robert Castel, dass »wir, an Wirtschaftswachstum, Quasi-Vollbeschäftigung, an den Fortschritt der Integration und an die Ausweitung der sozialen Sicherung gewohnt, mit ängstlichem Gefühl eine gebannt geglaubte Realität wiederentdecken: die erneute Existenz von ›in der Welt Nutzlosen‹, von überzählig gewordenen Subjekten und Gruppen« (Castel 2000a, 19). Doch die überzählig gewordenen Subjekte, die »Überflüssigen«, so könnte man Castel zuspitzend fortfahren, sind längst nicht nur ›mitten unter uns‹, es droht auch, dass wir selbst dazu gehören.

Es ist diese Figur ›des‹ oder ›der‹ Überflüssigen, die im Zentrum meiner Ausführungen steht. Ich möchte diskutieren, ob diese Metapher das Potential für einen soziologischen Deutungsbegriff hat, um die neuen gesellschaftlichen Gefährdungen, die im Zeichen fortwährender Selektion und einer Innen/Außen-Spaltung von Gesellschaft zu stehen scheinen, sowie das damit einhergehende soziale Leid aufzuschließen. Zunächst frage ich danach, welches Bild sich die Soziologie von den Überflüssigen gemacht hat. Im zweiten Schritt wende ich mich genauer der Frage zu, von welchem krassen sozialen Wandel sie zu künden scheinen. Danach gehe ich drittens ein auf die Exklusionsforschung, in der die Metapher der Überflüssigkeit einen prominenten Platz einnimmt, und diskutiere Ertrag wie Grenzen des Exklusionsbegriffs. Mit diesem Rüstzeug kehre ich abschließend zur Metapher der Überflüssigkeit zurück. Ich werde zu zeigen versuchen, dass sie nicht zuletzt aus methodologischen Gründen weniger zur Diagnostik der Soziallage einer dauerhaft marginalisierten Population taugt, denn dazu, jene neue Form sozialer Ungleichheit zu beschreiben, die als gesellschaftlich verallgemeinerte, transversale Erfahrung des Entzugs von sozialer Aufmerksamkeit und Geltung zu beschreiben wäre.

Überflüssig/e?

Gegen die Rede von »Überflüssigen« hatte Dirk Baecker 1998 in einem von der Zeitschrift Mittelweg 36 organisierten Streitgespräch eingewandt, dass die Rede von Menschen, die herausfallen, schon allein deshalb soziologisch untauglich sei, da diese, »wenn man sie fragen könnte, (…) ob sie das Gefühl haben, dass sie rausfallen, sicherlich antworten würden: nein« (Baecker u. a. 1998, 69). Es sei, so räumt auch Heinz Bude in selbigem Gespräch ein, »eine merkwürdige Gruppe, die von sich selbst als Gruppe gar nichts« wisse (ebd., 66 f.). Doch entgegen Baeckers Verdikt ist nicht nur die – oft intuitive – Wahrnehmung von und Angst vor Ausschluss ubiquitär, auch die Metapher der Überflüssigkeit ist aus dem soziologischen Diskurs aus- und, wie die Geschichte von Andreas S. zeigt, in die Selbstbeschreibung von Gesellschaftsmitgliedern eingezogen. Würde nun Dirk Baecker Andreas S. fragen, so hätte dieser für jenen allerdings eine differenzierte Antwort parat. Denn dieser weiß nicht nur um sein ›Überflüssigsein‹, er hat vor allem erkannt, dass der ›Fehler im System liegt‹, kurzum: er nicht überflüssig ist, sondern überflüssig gemacht wird: »Ich bin«, schrieb S. an den Bundesverteidigungsminister, »der festen Überzeugung, dass in diesem Land – und ich bin nur ein Gesicht von vielen – topqualifizierte Führungskraftpotenziale vergeudet werden und ungenutzt bleiben«.

Aber weder Dirk Baecker noch Heinz Bude hätten Andreas S. befragt. Denn die soziologische Phantasie hat sich vorerst ein ganz anderes Bild von den Überflüssigen gemacht. Andreas S. kommt darin – bislang zumindest – eher nicht vor. Zwar wird das Neue des krassen sozialen Wandels auch in der sozialen und ökonomischen Verunsicherung der »Mittelstandsgesellschaft« gesehen, darin, dass es um soziale Verwundbarkeiten geht, die eine Verbindung zwischen Mitte und Rand der Gesellschaft herstellen, doch eine Durchsicht der Literatur ergibt, dass der Blick bisher vor allem auf die »Fremden des Konsumzeitalters« (Bauman 1999), auf die »truly disadvantaged« (Williams 1987) gerichtet ist: Arme, Illegalisierte, langzeitarbeitslose Männer und Frauen (in Ostdeutschland), alleinerziehende Mütter, MigrantInnen in der 2. und 3. Generation, Jugendliche ohne Perspektive im ländlichen Raum sowie im globalen Kontext etwa Landlose, Flüchtlinge oder die Slumbewohner der Mega-Cities.

Niklas Luhmann beispielsweise spricht von einer »in die Milliarden gehenden Menge« (Luhmann 2000, 390) überflüssiger Menschen, die weltweit unter Bedingungen von Exklusion leben. Dabei sei der dramatische Unterschied zu denjenigen Formen von Exklusion, die in vormodernen Gesellschaften existierten, dass heute die »Mehrfachabhängigkeit von Funktionssystemen den Exklusionseffekt verstärkt« (Luhmann 1997, S. 631). Dabei könne soziale Ausgrenzung insbesondere aus dem Wirtschaftssystem in seiner extremsten Form zur Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen von den Inklusionsverhältnissen der Funktionssysteme insgesamt führen, so dass Bereiche des Elends nicht nur im sozialen, sondern auch im physischen Raum entstehen. Die Ausgeschlossenen würden so immer weiter ins Abseits gedrängt, bis sie von nahezu allen Kommunikationsbezügen abgekoppelt seien und nur mehr als Körper vorkämen, einzig damit beschäftigt, den nächsten Tag zu überstehen: »keine Arbeit, kein Geldeinkommen, kein Ausweis, keine stabilen Intimbeziehungen, kein Zugang zu Verträgen und zu gerichtlichem Rechtsschutz, keine Möglichkeit, politische Wahlkampagnen von Karnevalsveranstaltungen zu unterscheiden, Analphabetentum und medizinische wie ernährungsmäßige Unterversorgung« (ebd., S. 630). Allerdings seien diese Phänomene nicht in den ›alten‹ Kategorien der Ungleichheitsforschung zu verstehen. Es ginge nicht um Klassenherrschaft, soziale Unterdrückung oder Ausbeutung – und zwar aus dem schlichten Grund, weil man nichts finde, »was auszubeuten oder zu unterdrücken wäre« (ebd.).

Eine ähnliche Diagnose stellt Manuell Castells, der mit Blick auf Entwicklungen in der Dritten und Vierten Welt diagnostiziert, dass wir uns »von einer Situation sozialer Ausbeutung zu einer Situation funktionaler Irrelevanz« bewegen und wir einen Tag erleben werden, »an dem es ein Privileg sein wird, ausgebeutet zu werden«, denn noch schlimmer als Ausbeutung sei es, ignoriert zu werden (Castells 1990, 213). Auch Claus Offe warnt – mit Blick auf die westlichen Wohlstandsgesellschaften – vor Ausgrenzung ›nach unten‹, durch die eine »neue Unterklasse« aus sogenannt »Untauglichen«, Nicht-Teilnahmeberechtigten, eben »Überflüssigen« entstehe (Offe 1996, 273 f.). Pietro Ingrao und Rossana Rossanda konstatieren, »zu den Wohlhabenden, den Mittelschichten und den Armen [geselle sich] die Kategorie der Ausgeschlossenen«, »deren entscheidendes Merkmal nicht ist, dass sie über ein zu geringes Einkommen verfügen, sondern dass sie außerhalb des Produktions- und Verteilungssystems bleiben« (Ingrao/Rossanda 1996, 96). Auch Ralf Dahrendorf weist beharrlich auf die Gefahren für moderne, offene Gesellschaften hin, wenn zu viele Menschen gesellschaftlich ignoriert und um ihre Lebenschancen gebracht würden. Es gebe »in den OECD-Ländern heute eine beträchtliche Kategorie nicht nur von Verlierern, sondern von Verlorenen«: Menschen, »die nicht mehr glauben, dass Supermärkte oder politische Wahlen, Bürgerinitiativen oder öffentliche Feste auch für sie da sind. Sie leben zwar in der Gesellschaft, gehören aber nicht dazu« (Dahrendorf 2002, 8). Eine wachsende Zahl von »Entkoppelten« macht schließlich Robert Castel aus: Offenkundig sei die immer »hartnäckigere Präsenz von Individuen, die gleichsam in einem Zustand der Haltlosigkeit innerhalb der Sozialstruktur treiben und deren Zwischenräume bevölkern, ohne dass sie aber einen fest angestammten Platz finden können. Schemen mit verschwommenen Umrissen in den Randzonen der Arbeit und im Grenzbereich der gesellschaftlich geregelten Formen des Austauschs: Langzeitarbeitslose, Bewohner der heruntergekommenen Vorstädte, Opfer des industriellen Strukturwandels, arbeitssuchende Jugendliche« (Castel 2000a, 12 f.).

Dies sind nur einige Vertreter einer soziologischen Gegenwartsdiagnose, in der die Feststellung einer wachsenden Zahl Überflüssiger, einer zunehmenden und sich verfestigenden Polarisierung zwischen einem kleiner werdenden Innen und einem wachsenden, in sich heterogenen und ausgefransten Außen – und damit verbunden die Schwächung sozialer Kohäsion sowie die Erosion gesellschaftlicher Solidarität – im Vordergrund stehen. Sie alle stellen das Auftreten der Überflüssigen in den Zusammenhang globaler gesellschaftlicher Transformationsprozesse und sozialstruktureller Umschichtungen, etwa im Kontext des Übergangs von einem fordistischen zu einem postfordistischen Regulationsregime, von einer industriellen Arbeitsgesellschaft zu einer postindustriellen Dienstleistungs-, Wissens- und Informationsgesellschaft. Die Perspektive auf die Überflüssigen ist dabei in der Regel eine Außenperspektive, eine, die – in durchaus kritischer Absicht – vom Markt her denkt: Menschen werden überflüssig, weil sie nicht einmal mehr zur Ausbeutung gebraucht werden und in der Folge ihre Einbindung in Gesellschaft überhaupt brüchig wird. »Überflüssig« ist hier also vor allem eine Kategorie sozialstruktureller Freisetzungs- und Entwertungsprozesse. Implizit ist diesen Diagnosen eine Zwei-Welten-Theorie von Exklusion: Es gibt eine Welt der Chancen und der Berücksichtigung auf der einen und eine Welt des Ausschlusses und der Ignorierung auf der anderen Seite. Die als überflüssig Identifizierten geraten vor allem als jene in den Blick, denen etwas widerfährt. Sie sind diejenigen, die des Rückhalts durch mächtige Organisationen und/oder gefestigte Lebenswelten entbehren, und damit tendenziell handlungsunfähig sind, eben: nicht teilnahmeberechtigt.

Doch fragen wir noch einmal genauer, von welchen gesellschaftlichen Umbrüchen die Überflüssigen künden. Haben sich neue soziale Ungleichheiten herausgebildet, die nicht länger vertikal, sondern entlang einer horizontalen, gleichwohl asymmetrischen Innen/Außen-Spaltung organisiert sind – und für die es folglich neuer soziologischer Beschreibungen bedarf? Produziert der neue Kapitalismus, wie auch immer er in verschiedenen Theorieprogrammen charakterisiert wird, eine wachsende Zahl Überflüssiger, die dauerhaft keinen Platz finden in der Sozialstruktur? Ist eine Population – les Misérables, die Pauper, die Elenden des 19. Jahrhunderts, das Lumpenproletariat, das tote Gewicht der Reservearmee – zurückgekehrt, die einer historisch längst überwunden geglaubten Phase der Entwicklung kapitalistisch organisierter Gesellschaften zugehört? Und künden diese Überflüssigen von der Wiederkehr entsprechender gesellschaftlicher Verhältnisse, wie sie das 19. Jahrhundert kannte: Verhältnisse, die von einer so profunden inneren Spaltung bestimmt waren, dass Beobachter von den »zwei Nationen« (Benjamin Disraeli) innerhalb einer Gesellschaft sprachen, zwischen denen es weder sozialen Umgang noch Mitgefühl gebe? Aber haben die wohlfahrtsstaatlichen Überflussgesellschaften der langen Nachkriegszeit, deren Programm Inklusion ist und die durch ein historisch bis dato einmaliges Ausmaß rechtlicher und über den Markt vermittelter Einbindung der arbeitenden Bevölkerung strukturiert sind, das Problem der Überflüssigkeit – und damit das Rätsel der Kohäsion dieser Gesellschaften – nicht gelöst? Bringt man sich daher nicht um die Gelegenheit, den womöglich fundamental anderen Charakter des gegenwärtigen gesellschaftlichen Wandels zu begreifen, wenn er mit den Sozialfiguren des 19. Jahrhunderts beschrieben wird?

Kann schließlich – zumindest für die westlichen, demokratisch verfassten Wohlfahrtsgesellschaften – von Exklusion im Sinne einer funktionalen Irrelevanz, einer tendenziell totalen Abkopplung von allen Funktionssystemen gesprochen werden? Im strengen Sinne lässt sich in einer Gesellschaft nie von Situationen außerhalb des Sozialen sprechen: Bekanntlich kann man nicht nichtkommunizieren. Unbestreitbar ist jedenfalls, dass zwischen Andreas S. und den BewohnerInnen brasilianischer Favelas oder indischer Slums, die Luhmann vor Augen hatte, wenn er von den weltweit in die Milliarden gehenden Massen von Überflüssigen sprach, Welten liegen. Die Dritte Welt ist eben noch nicht, wie Christoph Hein (2004) jüngst in der ZEIT düster prophezeite, überall. Gerade auch ob dieser Unvereinbarkeiten, insbesondere der Heterogenität sowohl der Situationen, die als Situationen von Exklusion gedeutet werden, als auch der Vielgestaltigkeit derjenigen, die unter dem Signum des Überflüssigen gefasst werden, ist daher sehr genau sowohl die analytische Kapazität des Exklusionsbegriffes zu prüfen als auch nach der Reichweite der Metapher ›der‹ oder ›des‹ Überflüssigen zur Beschreibung des gegenwärtigen Wandels zu fragen.

Neue gesellschaftliche Gefährdungen?

Ich komme damit zur Frage nach dem Neuen des ›krassen sozialen Wandels‹. Die Symptome dieses Wandels wurden eingangs bereits angedeutet: Die tendenziell entgrenzte soziale Erfahrung des Kontingentwerdens der eigenen Biografie, die zumindest temporäre Prekarisierung von Beschäftigung und Lebenslagen und die damit verknüpften Momente eines sozialen Entwertungsprozesses sowie die wiederum daraus resultierende Erfahrung von Unsicherheit (der eigenen Position, der Ansprüche und des Lebensunterhalts), Ungewissheit (in Bezug auf die Stabilität des status quo) und Sorge um die eigene Unversehrtheit (des eigenen Körpers, der eigenen Person und aller Dinge, die daran hängen: soziale Nahbeziehungen, Eigentum usw.).

Wie die neue gesellschaftliche Figuration zu beschreiben wäre, innerhalb der diese Gefährdungen situiert sind, dazu existieren in der Soziologie bisher eher Suchbewegungen als definitive Antworten. Mit Peter Wagner (1995) lässt sich zunächst generell konstatieren, dass die die »organisierte Moderne« kennzeichnenden institutionellen Ordnungen von Markt und Staat brüchig geworden und delegitimiert sind. Der damit anstehende Umbau von Staat, Markt und Gesellschaft steht dabei im Zeichen der Verallgemeinerung der ökonomischen Form des Marktes. Das heißt, wir haben es mit einer gegenüber der organisierten Moderne qualitativ veränderten Topologie des Sozialen zu tun, in der die Grenzen zwischen Ökonomie, Staat und Gesellschaft dadurch neu bestimmt werden, dass »die Imperative ökonomischer Rentabilität gleichmäßiger denn je alle jene ›Wertsphären und Lebensordnungen‹ durchdringen, deren Differenzierung voneinander Max Weber doch einst zum Unterpfand moderner Gesellschaften nahm« (Neckel 2001, S. 252). Deutliches Indiz dafür ist etwa die Tendenz, jede soziale Streitfrage als private Sorge zu interpretieren und bisher sozialstaatliche, auf der Idee gesellschaftlicher Solidarität basierende Verantwortungen in die Zuständigkeit nicht- bzw. semistaatlicher gesellschaftlicher Einrichtungen oder in die nur noch bedingt sozialstaatlich gestützte private Verantwortung der Individuen zu transferieren. Ulrich Beck spricht hier von einer »politischen Ökonomie der Unsicherheit« (Beck 2002, S. 7), in der »Risikoregime« – bei gleichzeitiger Umverteilung der Risiken vom Staat und der Wirtschaft auf die Einzelnen – immer mehr Bereiche des Lebens erfassen. Der »Tendenz nach [entstehen] individualisierte Existenzformen und Existenzlagen, die Menschen dazu zwingen, sich selbst – um des eigenen materiellen Überlebens willen – zum Zentrum ihrer eigenen Lebensplanungen und Lebensführung zu machen« (Beck 1986, S. 116 f.). Es sind mithin die Einzelnen, die zur »lebensweltlichen Reproduktionseinheit des Sozialen« (ebd., S. 119) werden, indem sie sich selbst durch Kapitalisierung der eigenen Existenz ökonomisch steuern (sollen). Dies reicht von der Verantwortung, informiert zu konsumieren oder sich bewusst zu ernähren, über die Verantwortung für die eigene ›Beschäftigungsfähigkeit‹ und das Management des persönlichen ›Gesundheitsportfolios‹ bis zu dem, was Arlie Hochschild »Emotionsmanagement« nennt (Hochschild 1998, S. 10 ff.).

Man kann hier von einem Wechsel in der herrschenden Meinung über das Soziale sprechen: Eine »Kultur der Wahl« (Beck 2002) auf Grundlage statusbezogener Rechte, in der die Individuen die Entscheidungen treffen können, die sie treffen wollen und in der sie in einem gewissen Ausmaß von der Notwendigkeit befreit sind, für ihre jeweilige Lebenslage allein die Verantwortung zu übernehmen, wird tendenziell ersetzt durch eine »Kultur des Zufalls« (Castel 2000a) auf Grundlage persönlich wahrzunehmender Optionen und Chancen. Es ist die Formel der »Ich-AG«, die die mit diesem Wechsel verbundene zeitgenössische Exklusionsproblematik auf den Punkt bringt. Das unternehmerische Selbst ist das Leitbild dafür, wie in Zukunft Inklusion organisiert sein wird und wie wir alle unser Leben meistern sollen: Dass wir nämlich die eigenen Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen und vielfältige Chancen flexibel und eigenverantwortlich nutzen. Das Bild der »Ich-AG« verweist aber auch auf sein Negativ, nämlich die Gefahr, im Falle von Scheitern gänzlich auf uns selbst zurückgeworfen und aus dem Spiel zu sein. Der Individualisierung glücklichen Gelingens entspricht so eine des schicksalhaften Scheiterns. Sinnbildlich könnte man daher sagen, dass aus Sicht der Gesellschaft diejenigen überflüssig sind, die die Anforderung – aus welchen Gründen auch immer –, nicht bedienen können, sich flüssig zu verhalten, auf jedwede Kontingenz flexibel zu reagieren, sich mimetisch anzugleichen, diejenigen, die nicht beweglich genug sind, um Chancen zu ergreifen, bevor ein anderer es tut.

In diesem Sinne künden die Überflüssigen in der Tat von einem paradoxalen Wandel der Gesellschaften, in denen Erwerbsarbeit einerseits mehr denn je nicht nur die Hauptstütze für die Verortung in der Sozialstruktur, sondern nach wie vor die zentrale Quelle gesellschaftlicher Wertschätzung und Anerkennung ist, diese andererseits als Institution massiv erschüttert wurde und der Zugang zu existenz- und anerkennungssichernder Erwerbsarbeit weniger denn je für alle gegeben ist. Über eine schärfer werdende Innen/Außen-Spaltung von Gesellschaft hinaus künden die Überflüssigen mithin von Verwerfungen, die auf die Mitte der Gesellschaft zurückverweisen. Sie künden von der Erosion der Normalitätsfiktionen des Wohlfahrtsstaates, von der sozialen Angst, einer schrumpfenden Gruppe anzugehören, von dem latenten Gefühl, sich aufgrund unglücklicher Umstände mit einem Mal selbst in einer staatsabhängigen Schicht wiederfinden zu können, in der die Grenzlinien von erwartbaren Zuerkennungen und gerechtfertigten Ansprüchen nach Maßgabe der öffentlichen Finanzlage willkürlich verändert werden. Sie künden von der Unterminierung der moralischen Ökonomie der Arbeitsgesellschaft, in der offensichtlich weder individuelle Leistung noch soziale Anrechte garantieren, dass man im Spiel bleibt, man einen Platz findet in der Sozialstruktur.

Aporien des Exklusionsbegriffs

Die Logik von Exklusion ist heute also offenkundig weniger die Logik von räumlicher und/oder rechtlicher Segregrierung, sondern eine prozessuale, temporale Logik von Destabilisierung, von sukzessiven und ineinandergreifenden Degradierungsvorgängen, die Logik der allmählichen Gefährdung von Biografien, der Prekarisierung von Beschäftigung und Wohlstand, die Logik von Abstiegsbedrohung und Deklassierung, die Logik der sozialen Entwertung. Zudem eine Logik, in der verschiedene Mischungsverhältnisse von Inklusion und Exklusion auftreten können. Eine Logik also, die es nahe legt, Exklusion nicht als Zustand zu denken, sondern als gesellschaftliches Verhältnis, als Zugleich von Drinnen und Draußen, als Ausschluss nicht aus der Gesellschaft, sondern in der Gesellschaft.

Insofern kann Exklusion in der Tat weniger im Sinne eines Zwei-Welten-Theorems gedacht werden, in der eine Welt der Chancen einer Welt der Ignorierung gegenübersteht. Vielmehr müssen zum einen die Übergänge und Passagen zwischen den verschiedenen Zonen des sozialen Lebens – die Zone der Integration, der Verwundbarkeit und der Entkopplung (Castel 2000a) – in den Blick genommen werden. Denn Menschen werden nicht plötzlich in ein imaginiertes Draußen befördert, vielmehr verlieren prinzipiell verwundbare Biografien ihre Festigkeit und Verlässlichkeit – sie werden, wieder sinnbildlich gesprochen, flüssiger; der individuelle Optionsraum engt sich mehr und mehr ein, die Möglichkeit der Kontrolle über das eigene Schicksal schwindet. Die Überflüssigen dokumentieren daher kein präzises Defizit einer Lebenslage, sondern den Entkoppelungsprozess von gesellschaftlichen Bezügen, sie dokumentieren soziale Vorgänge des Überflüssig-Machens. Zum anderen muss Exklusion als mehrdimensionaler Prozess gedacht werden, in dem etwa Marginalisierung auf dem Arbeitsmarkt nicht zwingend die Schwächung familialer Netze bedeuten muss. Martin Kronauer (2002) unterscheidet daher zwischen dem Modus der Interdependenz, verstanden als Einbindung in die gesellschaftliche Arbeitsteilung sowie in soziale Netze, und dem Modus der Partizipation, aufgeschlüsselt in die Dimensionen soziale Rechte sowie materielle, politisch-institutionelle und kulturelle Teilhabe.

Doch das gesellschaftliche Gefährdungen aufschließende analytische Potential des Exklusionsbegriffs wird konterkariert durch mindestens zwei mit dem Begriff einhergehende Gefahren: Erstens ist fraglich, ob mit dem Begriff der Exklusion, der letztlich eben nur Sinn macht in der Opposition Innen/Außen, nicht doch statische Betrachtungsweisen von Gesellschaft nahegelegt werden – und dies trotz der Betonung, es handele sich um dynamische Prozesse, die in der Mitte der Gesellschaft beginnen. Statt von Prozessen, von Übergängen und gesellschaftlichen Dynamiken ist jedenfalls allzu oft von Zuständen der Enteignung die Rede. Zweitens wird durch den Begriff der Exklusion, der ja in der Tat ein ›trennscharfer‹ Begriff ist, der Blick womöglich zu einseitig auf diejenigen gelenkt, die als Ausgegrenzte identifiziert wurden bzw. auf die Fluchtpunkte von Exklusion – Armut, dauerhafte Erwerbslosigkeit, verstetigte Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung, soziale und kulturelle Deprivation. Zwar braucht es, um überhaupt von Exklusion als Gefährdung sprechen zu können, diese Fluchtpunkte. Doch droht damit, dass Grenzsituationen verselbständigt werden, das heißt jene Faktoren, die dem Ausschluss vorausgehen, sowie die Passagen zwischen Integration und Entkoppelung nicht wahrgenommen werden (vgl. auch Castel 2000b). Ein empirisch sinnvoller und theoretisch angemessener Begriff von Exklusion müsste daher Ausgrenzung als abgestuften, dynamischen Prozess mit unterschiedlichen Graden der Gefährdung von Ausgrenzung als Zustand unterscheiden und gleichwohl beide aufeinander beziehen.

Rufen wir uns dafür noch einmal die Geschichte von Andreas S. in Erinnerung. Von ihm wäre es – zumindest noch – schwierig zu behaupten, dass er in einem Teufelskreis der Lebensfristung gefangen ist. Auch von vollständiger Entkopplung von allen Funktionssystemen kann nicht die Rede sein – nicht zuletzt hat er einen Zugang zu den Medien gefunden. Auch dass er nur mehr als Körper vorkäme, kann kaum behauptet werden. Ausgrenzung als verfestigter Zustand kennzeichnet insofern seine Lage gerade nicht. Aber er ist eben auch nicht mehr der Prototyp von Integration. Das von ihm akkumulierte soziale Kapital sowie sein Bildungskapital kann er nicht gewinnbringend einsetzen, die von ihm offensichtlich als gerechtfertigt empfundene Erwartung, dass seine Fähigkeiten gesellschaftlich anerkannt werden, wurde nachhaltig enttäuscht: Er fühlt sich, wie er im taz-Gespräch mehrmals zum Ausdruck bringt, in seiner Würde verletzt. Der Prozess der sozialen Entwertung ist also in Gang gesetzt. Mit Castel gedacht ist S. in der Zone der Verwundbarkeit plaziert, noch gibt es die Aussicht zurückzukehren in die Zone der Integration, aber auch die Exit-Option Richtung Entkopplung ist wahrscheinlicher geworden. Was aber auf jeden Fall bleibt, ist die von S. als entwürdigend erlebte Erfahrung, nicht gebraucht zu werden. Andreas S. ist daher ein paradigmatisches Beispiel dafür, dass Exklusion zwar von ihren Ergebnissen her zu denken ist, dennoch aber als mehrdimensionaler, abgestufter und potentiell auch umkehrbarer Prozess der Deklassierung, des Herausfallens aus jeder beliebigen Berufs- oder Statusposition verstanden werden muss. Vor allem aber, dass damit in einer erwerbsarbeitsfixierten Gesellschaft wesentlich eine bestimmte soziale Erfahrung verbunden ist: die Erfahrung des Entzugs sozialer Anerkennung.

Überflüssig. Deutungsbegriff für gesellschaftlich verursachtes Leid?

Ich komme damit abschließend zur Frage zurück, ob die Metapher des Überflüssigen das Potential für einen soziologischen Deutungsbegriff hat, um diese neuen gesellschaftlichen Gefährdungen und das damit einhergehende soziale Leid aufzuschließen.

Für eine Antwort auf diese Frage bedarf es allerdings eines methodologischen Umwegs: Die soziologische Rede von den Überflüssigen ist bisher in der Aporie gefangen, zwar gesellschaftlich verursachtes Leid entschlüsseln zu wollen, dieses in der soziologischen Beschreibung jedoch tendenziell dort zu reproduzieren, wo das »Personal« von Exklusion in den Vordergrund gerückt wird. Statt nach den Quellen gesellschaftlichen Leids zu fragen, wird dieses Leid so womöglich desozialisiert und soziale Ungerechtigkeit übersetzt in individuelle Unfähigkeit oder Gleichgültigkeit. Das leistet möglicherweise einer ressentimentgeladenen gesellschaftlichen Haltung Vorschub, die Überflüssigen hätten ihr Elend selbst verschuldet; zudem wird nahe gelegt, es handele sich lediglich um ein Eingliederungsproblem statt um einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel.

Kurz gesagt: Statt einer Diagnostik jener sozialen Vorgänge, durch die Menschen, man kann es nicht oft genug betonen, überflüssig gemacht werden, wird eine »Diagnostik der Überflüssigen« (Steinert 2000) erstellt, in der Überflüssigkeit zu einer Art »master status« wird, zum dominierenden Merkmal einer Person. Unweigerlich landet beispielsweise Heinz Bude (1998) so immer wieder in Form einer Quasi-Phänomenologie bei einer Diagnostik, die sich eher von der Semantik des Über/Flüssigen und dem literarischen Vorbild des überflüssigen Menschen, wie er insbesondere die russische Literatur des 19. Jahrhunderts bevölkert, leiten lässt, als sich strikt an der soziologischen Beschreibung und Analyse der Prozesse des Überflüssig-Machens zu orientieren. Zwar hebt Bude das Zusammenspiel des Prekärwerdens von Erwerbsarbeit, der Schwächung sozialer Nahbeziehungen sowie der Erosion sozialer Teilhabe und die entwürdigende Behandlung durch sozialstaatliche Agenturen hervor. In seinem Karriere-Modell des »Überflüssigwerdens« (Bude 1998, S. 374) aber ist das »vielleicht wichtigste Strukturmerkmal von Prozessen sozialer Ausgrenzung (…) der Körper« (ebd., S. 376). »Für die Feststellung von Überflüssigkeit« sei am Ende ein »bestimmter phänomenologischer Befund entscheidend, der etwas mit einem Körperausdruck von Müdigkeit, Abgestumpftheit und Apathie« zu tun habe (ebd., S. 377).

Es soll nicht bestritten werden, dass es Bude sehr wohl darum zu tun ist, eine Begrifflichkeit zu entwickeln, die das gesellschaftlich verursachte Leid derjenigen soziologisch zugänglich macht, die von Exklusion bedroht sind. In seiner Konzeption des Überflüssigen zeigt sich allerdings die Ambivalenz dieses Unterfangens, ist doch Budes menetekelhafte Beschreibung selbst noch imprägniert von dem heiligen Schauder derjenigen, die sich (noch) dazugehörig fühlen: »In Deutschland«, so Bude jüngst, sei »es nicht das öffentliche Ghetto, sondern es sind die privaten vier Wände, wohin sich die Exkludierten zurückziehen. Der Nachbar, der vom vielen Weißbrot, der fettigen Wurst und den gezuckerten Getränken außer Fasson gerät, weil er die meiste Zeit des Tages vor dem Fernsehgerät verbringt, ist die Figur des ›Überflüssigen‹, an welcher der deutschen Gesellschaft das andere ihrer selbst vor Augen tritt« (Bude 2004, S. 15).

Nun kann es nicht darum gehen, soziologisch von diesem Leid zu schweigen. Selbstredend muss Sozialwissenschaft auch und gerade von jenen sprechen, die in extremem Maße von Exklusion bedroht oder betroffen sind. Doch gerade weil dieses Leid meist die Schwelle der öffentlichen Sichtbarkeit oder gar der politischen Artikulation noch nicht überschritten hat, ist es umso dringlicher, dass die soziologischen Rekonstruktionen, die dieses Leid sichtbar machen, selbst beständig und rigoros daraufhin geprüft werden, ob sie an der gesellschaftlich verursachten Entwertung partizipieren oder nicht. Wie dies gelingen kann, nämlich durch konsequente »Objektivierung des Subjekts der Objektivierung« (Bourdieu 2004, S. 172), hat das Team um Pierre Bourdieu in Das Elend der Welt (1997) eindrucksvoll demonstriert.

Was wir aus dieser Studie lernen können, ist, dass es gilt, ein soziologisches Instrumentarium zu entwickeln, mit dem Vorgänge der sozialen Ausschließung wirklich grundsätzlich dynamisch, vieldimensional und vor allem episodisch konzipiert werden. Also nicht von – unterschiedlich radikal – ausgeschlossenen Personen in verfestigten Exklusionslagen auszugehen, sondern von individuell und subkulturell drohenden Gefahren, mit denen sich die Individuen unter Einsatz verschiedener Ressourcen auseinandersetzen – und das reicht von der Auseinandersetzung mit staatlichen Behörden über den Versuch der Bewahrung psychischer und familialer Integrität bis zur Mobilisierung von Hilfeleistungen durch Freunde und Verwandte. Die Apathie, von der Bude spricht, wäre dann beispielsweise ein aus den Gegebenheiten der Situation erklärungsbedürftiger Spezialfall und nicht das ultimative Kennzeichen einer »Karriere« eines Überflüssigen.

In einer solchen episodischen Sensorik gesellschaftlicher Gefährdungen könnte die Metapher des Überflüssigen insofern eine Schlüsselrolle einnehmen, als sie jene transversale Erfahrung subjektiv empfundener, gleichwohl gesellschaftlich verursachter Entwertung zugänglich macht. Es handelt sich dabei gerade nicht um eine abgegrenzte soziale Ungleichheitslage, sondern um ein Moment sozialer Praxis: Es geht um Formen episodisch erfahrener demütigender Ungleichheit, das heißt um die Erfahrung, von den gesellschaftlichen Institutionen nicht anständig behandelt und vom Rest der Gesellschaft in einer Lebensform oder in Leistungen nicht anerkannt zu werden, die aus der eigenen Sicht als respektwürdig gelten (vgl. Margalit 1997). Kurzum: Es geht um die Erfahrung von verweigerter Anerkennung und verweigertem Anschluss, um den Verlust von Unverwechselbarkeit, darum, von der Gesellschaft als überflüssig und nutzlos behandelt zu werden – und noch in dem missachtet zu werden, was durchaus in den Begriffen sozialer Kämpfe beschrieben werden kann, nämlich unter Bedingungen der Ignorierung um Integrität zu ringen.

Es ist diese Verweigerung von Anerkennung, die Erfahrung, sich in seinen eigenen Leistungen und Fähigkeiten nicht als wertvoll für die Gesellschaft erleben zu können, die aus meiner Sicht eine der gegenwärtig wesentlichen Zerreißproben des Sozialen darstellt, machen doch, wie Axel Honneth (2003a) argumentiert, die Erfahrung des Entzugs von sozialer Anerkennung sowie Phänomene der Missachtung und Demütigung den Kern aller Unrechtserfahrungen aus.


Literatur

Baecker, Dirk u.a. (1998), »›Die Überflüssigen‹. Ein Gespräch«, in: Mittelweg 36, 6/1998, S. 65-81.

Bauman, Zygmunt (1999), »Die Fremden des Konsumzeitalters«, in: ders., Unbehagen in der Postmoderne, Hamburg, S. 66-83.

Bauman, Zygmunt (2003), Flüchtige Moderne, Frankfurt a.M.

Beck, Ulrich (2002), »Arbeit ist ein bewegliches Ziel«, in: Die Zeit vom 7.2.2002, S. 7.

Beck, Ulrich (1986), Risikogesellschaft, Frankfurt a.M.

Bourdieu, Pierre u. a. (1998), Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz.

Bourdieu, Pierre (2004), Schwierige Interdisziplinarität. Zum Verhältnis von Soziologie und Geschichtswissenschaft, Münster.

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Anmerkungen

Dieser Text basiert auf meinem Habilitationsvortrag »Überflüssig. Paradoxien von Exklusion – Zerreißproben des Sozialen«, gehalten am 24. 11. 2004 an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam.

»Überflüssig in diesem Land«, in: Die Tageszeitung vom 26. 10. 2004, S. 4.

»Das neue Subproletariat«, in: Süddeutsche Zeitung vom 9. 2. 2005, S. 11.

»Überflüssig in diesem Land«, a.a.O., S. 4.

Ebd.

Heinz Bude (2004, S. 4) argumentiert gar, die Gesellschaft wüsste mindestens intuitiv mittlerweile sehr viel genauer um die neuen Spaltungen als die Soziologie: »Die Sozialstrukturanalyse tradiert das Bild alter sozialer Ungleichheiten, während sich das Gesellschaftsempfinden auf neue Spaltungen fixiert. Da stellt sich natürlich die Frage, wer recht hat: die spezialisierte Beobachtung von oder die gefühlte Teilnahme an der Gegenwartsgesellschaft?«

»Überflüssig in diesem Land«, S. 4.

Zur Kritik an vertikalen Modellen sozialer Ungleichheit siehe schon Reinhard Kreckels (1992) Vorschlag, vertikale Modelle durch ein Modell von Zentrum/Peripherie zu ersetzen. Zwar ließe sich in Form des »korporatistischen Dreiecks« von Kapital, Arbeit und Staat nach wie vor ein Machtzentrum ausmachen, es fänden sich jedoch, vermittelt über Prozesse der Arbeitsmarktsegmentation und der sozialen Schließung, gleichzeitig vielfältige Peripherien. Diese zeichneten sich aus durch Kräftezersplitterung und Ressourcenmangel, weshalb sie kaum in eine wie auch immer eindeutige vertikale Rangordnung besserer oder schlechterer Lebenslagen gebracht werden könnten.

Es war Karl Marx, der jene Phänomene der Überzähligkeit nicht nur erstmals auf den Begriff brachte: »relative« oder »absolute« Überbevölkerung, »industrielle Reservearmee«, sondern sie auch in den Zusammenhang gesellschaftlicher Transformationsprozesse und sozialstruktureller Umschichtungen stellte. Die sogenannte »Surplusarbeiterpopulation« war für ihn ein »notwendiges Produkt der Akkumulation oder der Entwicklung des Reichtums auf kapitalistischer Grundlage« (Marx 1977, S. 661). Dabei produziere die Arbeitsbevölkerung mit den Mitteln des Reichtums zugleich in wachsendem Umfang die Mittel ihrer eigenen »relativen Überzähligmachung«: »Die kapitalistische Akkumulation produziert beständig eine relative, d. h. für die mittleren Verwertungsbedürfnisse des Kapitals überschüssige, daher überflüssige oder Zuschuss-Überbevölkerung« (ebd., S. 658).

Dies allerdings unter den Bedingungen eines Kapitalismus mit männlicher Vollbeschäftigung und in der Regel mit einem spezifischen Geschlechtervertrag, durch den die Frauen entweder vom Arbeitsmarkt ferngehalten oder aber als (teilzeitarbeitende) Mitverdienerin immer schon in relativer Unerreichbarkeit vom »Normalarbeitsverhältnis« platziert waren. Die Krise scheint insofern eine Krise der männlichen Normalarbeit zu sein, die sich unter tätiger Mithilfe sozialstaatlicher Institutionen und Interventionen im ›goldenen Zeitalter‹ der Nachkriegsprosperität etablieren konnte. Deren sozialpolitische Quintessenz war gerade die Normalisierung von Lohnarbeit, sprich die Durchsetzung abhängiger Beschäftigung für den männlichen Teil der Bevölkerung als rechtlich-soziale Norm und empirische Normalität. So wurde das »Normalarbeitsverhältnis« mit seinen Sicherheits- und Kontinuitätsverbürgungen einerseits und die »Hausfrauenehe« andererseits zu den tragenden Säulen eines gesellschaftlichen Arrangements, dessen Basis der modernisierte »Bismarcksche« Sozialstaat bildete und dessen soziale Sicherungssysteme mit dauerhafter Beschäftigung der Männer rechneten, gleichwohl dauerhafte Beschäftigung nie für alle durchsetzen konnte.

Bude schließt hier an die Beschreibung der Gruppe der Apathischen aus der berühmten Marienthal-Studie von Marie Jahoda u. a. an (Jahoda / Lazarsfeld / Zeisel 1975, S. 71 f.). Auch Richard Sennett spricht von Apathie als »logische Reaktion auf das Gefühl, nicht gebraucht zu werden« (Sennett 1998, S. 202).


Sabine Hark forscht an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam, Professur für Frauenforschung.


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Transit – Europäische Revue, Nr. 29/2005