Der antike Philosoph Platon verstand unter „Überreichtum“ exzessiven Reichtum, der nicht glücklich mache, weil er nicht tugendhaft sei. Das Thema dieses Buches ist also alt, doch es wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Denn die weltweite Vermögenskonzentration ist enorm und soziale Ungleichheit ein beständiges Problem.
Wie Vermögen verteilt wird, geht alle etwas an. Martin Schürz erklärt, was problematisch am Überreichtum ist. Gerade Gefühlszuschreibungen sind für die Akzeptanz der Privilegien von Überreichen bedeutsam. Neid und Hass werden vorwiegend den Armen als Laster zugeschrieben. Großzügigkeit und Mitleid den Überreichen als Tugenden. Wer eine gerechte Gesellschaft will, muss zuerst verstehen, wie Vermögenskonzentration wahrgenommen wird. Denn Überreichtum gefährdet die Demokratie und die politische Gleichheit.
Martin Schürz, Überreichtum, Campus, Frankfurt/Main 2019, 226 Seiten, broschiert
A 24,95; ISBN 978-3-593-51145-0.
“Hoffnung und Fantasie widersetzen sich den üblichen Denktabus zu exzessivem Reichtum, die unterstellen, dass die gigantischen Vermögensunterschiede hingenommen werden müssen. Damit eine Begrenzung des Überreichtums gelingt, müssen wir widerständiges Mitgefühl aufbringen – und Mut.”
Martin Schürz
Legal, begehrt … aber illegitim
Ein kurzer Kommentar zum Buch “Überreichtum” von Martin Schürz
von Evangelos Karagiannis
Es hat mich immer gewundert, dass die einzige sehr reiche Person, mit der ich befreundet bin, sich der Mittelschicht zuordnet. Was ich lange Zeit als idiosynkratrische Fehleinschätzung einer lieben Freundin deutete, erkannte ich nach der Lektüre des Buches „Überreichtum“ von Martin Schürz als typisches Verhaltensmuster einer bestimmten Klasse. Die Reichen pflegen sich diskret in der Mitte der Gesellschaft zu verorten, schreibt Schürz. Die Häufigkeit dieser Selbstverortung steht ihrer Seltsamkeit kaum nach. Das Phänomen nimmt gelegentlich absurde Züge an, denn selbst prominente Mitglieder des internationalen Jetsets mit einem Vermögen von mehr als 500 Millionen Euro würden sich nicht als reich, sondern eher als wohlhabend einschätzen. Reich seien stets die Reicheren. Und diese gibt es immer, kennt doch Reichtum keine Obergrenze.
Diese skurrile Selbstverortung der Reichen in der Mittelschicht stellt ein indirektes aber nichtsdestotrotz offensichtliches Eingeständnis der Illegitimität von Überreichtum dar. In einer Gesellschaft, die sich als Leistungsgesellschaft versteht, ist übermäßiger Reichtum schwer zu rechtfertigen. Die Tatsache, dass viele Reiche heute im Gegensatz zu jenen des 19. Jh. ihren Reichtum auch ihrer Arbeit verdanken, wie der Ökonom und Ungleichheitsforscher Branko Milanović in einem kürzlich erschienenen Aufsatz bemerkt, vermag die Legitimitätsfrage von Überreichtum mitnichten zufriedenstellend zu klären.
Schürz spricht von Überreichtum, wenn sich die Quantität in der Vermögensverteilung in Qualität umschlägt; wenn Vermögen ihren Besitzern wirtschaftliche und politische Macht verleiht. Er verweist auf die verschiedenen Rechtfertigungsstrategien von Überreichtum und geht auf jene Gefühlspolitik ein, die Überreichtum unsichtbar macht. Auch die eingangs erwähnte taktische, diskursive „Selbstvermittelschichtung“ der Reichen ist in eine umfassende, systematische und institutionalisierte Praxis der Verbergung von Reichtum in der Leistungsgesellschaft einzuordnen. Nicht nur pflegt man über Reichtum nicht zu sprechen; auch die Möglichkeit, Reichtum öffentlich zur Sprache zu bringen, wird konsequent verhindert. Im Falle der Reichen hat Daten- und Persönlichkeitsschutz Vorrang vor Transparenz. Völlig umgekehrt ist der Umgang mit den Armen, auf die sich die öffentliche Diskussion konzentriert. Auf sie wird dermaßen stark und einseitig das Licht gerichtet, dass man schließlich ein verzerrtes Bild von ihrer Lage bekommt. Denkt man etwas darüber nach, wird einem bewusst, wie grotesk das Ergebnis dieser gerichteten Beleuchtung unserer Gesellschaft ist. Sofern es in der öffentlichen Debatte um Illegitimität von Einkommen geht, geraten nur die Armen in den Fokus: Asylbewerber, die „das Asylrecht missbrauchen“; Arbeitslose, die nicht arbeiten wollen; Kranke, die simulieren. Kurz: Der Fokus auf Arme beschränkt die Frage der Illegitimität auf den Bezug von Sozialleistungen. Die Legitimität von unverdientem Vermögen, etwa durch Erbschaft, bleibt dagegen unbeleuchtet. Ein Verdienst des Buches ist, dass es auf diesen seltsamen Umstand reagiert: Es bringt ein Thema zur Sprache, das aufgrund einer konsequenten Politik des Verschweigens und einer hochentwickelten Infrastruktur des Verschleierns nur sehr schwer zur Sprache gebracht werden kann.
Die Tatsache, dass übermäßiger Reichtum legal, hochbegehrt aber zugleich illegitim ist, lässt eine Reihe spannender Fragen aufkommen, die mithilfe der ökonomischen, philosophischen und individualpsychologischen Ausbildung des Autors zu noch spannenderen Überlegungen veranlassen. Bei der Lektüre des Buches drängte sich mir als Sozialwissenschaftler immer mehr die Überzeugung auf, dass Überreichtum ein sehr ergiebiger entry point sein kann, um über die Gesellschaft, in der wir leben, zu reflektieren. Ich gewann immer mehr den Eindruck, dass ein Blick auf die Entstehung und Weitergabe von übermäßigem Reichtum, nicht auf die Armut, unser Gesellschaftsbild zurechtzurücken vermag. Martin Schürz’ dichter Text bietet uns eine richtige Fundgrube von Forschungsanregungen, eine Art Nachschlagewerk von Forschungsfragen, die systematisch vorgestellt und differenziert besprochen werden und darauf warten, näher empirisch untersucht zu werden. Andererseits ist die implizite Annahme des Buches gerade die, dass solche Projekte schwer realisierbar wären. Sie würden nicht nur auf das Problem einer unzulänglichen Datenlage stoßen. Es ist kaum anzunehmen, dass ihre Finanzierung einfach sicherzustellen wäre.
Schürz entschied sich für das Genre des Essays, das der Komplexität des Sachverhalts gerecht wird, ohne den Zugang zur Problematik einer breiten Öffentlichkeit zu verwehren. Den LeserInnen bleiben Fachjargon und andere Konventionen wissenschaftlicher Texte erspart. Der Bogen der Argumentation spannt sich von Plato und Aristoteles über Adam Smith und John Stuart Mill bis hin zu Jane Austen, Henry James und Charles Dickens. Es ist weniger das Buch eines Ökonomen und vielmehr das eines Menschen, der sich Sorgen um die Demokratie und die Belastbarkeit unserer Gesellschaft macht. Somit steht der Anspruch des vorliegenden Buches voll und ganz im Einklang mit der Mission des IWM, das sich sowohl der Spitzenforschung als auch der politischen Bildung verschrieben hat und sich um die Stärkung und Vertiefung der Demokratie, mitunter mittels öffentlicher Debatten, bemüht. Es freut uns, dass das IWM die Erscheinung dieses bemerkenswerten und inzwischen preisgekrönten Buches mitermöglicht hat. Wir hoffen, dass es fruchtbare Diskussionen auslösen und wichtige Impulse für die wissenschaftliche Forschung wie auch die politische Agenda geben wird.