Was bleibt von 1989?

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Eine Debatte zwischen Václav Havel, Viktor Klima, Adam Michnik und Viktor Orban. Moderation Timothy Garton Ash

Was bleibt von 1989?

Timothy Garton Ash:
Die Zusammensetzung der Teilnehmer dieses Podiums zeigt, welch außergewöhnliche Institution das Institut für die Wissenschaften vom Menschen ist und welchen Glücksfall es für Wien darstellt. Wir haben hier und heute drei Hauptprotagonisten der Revolutionen von 1989 versammelt. Nie werde ich vergessen, wie ich während der Wahlkampagne für die Solidarnosc im April 1989 mit Adam Michnik unterwegs war und in einer oberschlesischen Kohlenzeche für ihn die erste (und hoffentlich letzte) Wahlrede meines Lebens hielt. Viktor Orbans elektrisierende Ansprache zum feierlichen Wiederbegräbnis von Imre Nagy am 16. Juni 1989 ist mir bis heute im Ohr. Und ebenso unvergeßlich bleibt mir das Bild von Vaclav Havel in der Garderobe der Laterna Magica, von wo er sein größtes Stück, die “Samtene Revolution”, inszenierte.

Nach 1989 haben die drei ihre außerordentliche Rolle im öffentlichen Leben ihres Landes behalten: Havel als Präsident der Tschechoslowakei, dann Tschechiens; Orban als führender Vertreter der jungen politischen Generation seines Landes und mittlerweile als ungarischer Ministerpräsident; Adam Michnik als unabhängige politische Stimme: als Chefredakteur der Tageszeitung Gazeta Wyborcza, die wahrscheinlich mächtiger ist als die meisten politischen Parteien seines Landes. Wir freuen uns auch, den Bundeskanzler unseres Gastlandes mit auf dem Podium zu haben, der eine Einschätzung von 1989 und den Folgen aus westeuropäischer Sicht geben wird.

Wir wollen heute danach fragen, was von 1989 geblieben ist. Lassen Sie mich die Frage vorab ein wenig differenzieren. War 1989, wie viele von uns damals glaubten, ein neues Revolutionsmodell, eine Art nichtrevolutionäre Revolution, die ein historisches Kapitel abschloß, das 1789 begonnen hatte? Haben die damals gewählten Mittel die Resultate bestimmt? Hat diese Revolution neue Ideen produziert? Viele bestritten das damals. Zugleich hegten nicht wenige die Hoffnung, daß 1989 einen neuen Typus von Politik hervorbringen würde, der sich von der opportunistischen Parteipolitik des Westens unterscheidet. Hat sich diese Hoffnung erfüllt? Hat die Revolution eine neue moralische Dimension in die Politik eingeführt? Und sicher müssen wir auch über das reden, was in Ex-Jugoslawien geschah, im Kosovo, und darüber, ob dies unser Verständnis von 1989 geändert hat.

Václav Havel:

Lassen Sie mich vier Aspekte der Frage, was uns von 1989 geblieben ist, zur Diskussion stellen. Erstens: Für mich haben die Ereignisse von 1989 bestätigt, daß es einen Sinn hat, sich für die gute Sache einzusetzen und dafür zu kämpfen, auch wenn man sich des Ergebnisses, des Erfolges nicht von vornherein sicher sein kann. Anders gesagt, daß jenes Handeln am ehesten von Erfolg gekrönt wird, das am wenigsten damit kalkuliert; ein Handeln, dem es um bestimmte Werte geht, um bestimmte Ideale, bestimmte Wahrheiten. Dies ist eine fast banale Lehre, aber wir treten, so glaube ich, in eine Zeit, da es angebracht ist, diese Botschaft wieder in Erinnerung zu rufen.

Zweitens: Die Erfahrung der 89er-Revolutionen und insbesondere – um für mich selbst zu sprechen – die Erfahrung unserer tschechoslowakischen Revolution hat etwas höchst Interessantes gezeigt: die Tatsache nämlich, daß auch eine so riesige Übermacht, wie sie das totalitäre System repräsentierte, zu besiegen ist. Es verfügte nicht nur über alle Machtinstrumente – Armee, Polizei, Volksmiliz -, sondern hatte auch die gesamte Wirtschaft, den Verkehr und die Kommunikationsmittel in der Hand; einfach alles, den gesamten Staat. Und dennoch ist es von vollkommen unbewaffneten Menschen gestürzt worden. Natürlich kam hinzu, daß dieses System innerlich in einem hohen Maße marode war, daß es sich in einer Krise befand und diese Krise sich zuspitzte, da sich alles innerhalb eines internationalen Kontextes abspielte. Dennoch hat sich gezeigt, daß der Geist oder die Kraft dieses Geistes in der Lage ist, Veränderungen herbeizuführen, ohne daß Blut fließen muß. Ich war der Ansicht, daß sich die Völker – zumindest wir in Europa, um bescheiden zu bleiben – diese Erfahrung zu eigen machen und so die “genetische Ausstattung” ihrer Gesellschaften bereichern würden, aber ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich geschehen ist. Wenn nicht, so sind auch wir selbst daran schuld, weil wir diesen Aspekt vermutlich zu wenig hervorgehoben haben.

Drittens: Es hat sich bestätigt, daß niemand das Patent auf eine vollständige Erklärung oder Interpretation der Geschichte besitzt. Niemand kann behaupten, er kenne ihre Gesetzmäßigkeiten und könne folglich voraussehen, was wie geschehen werde. Es haben sich in den letzten zehn Jahren viele Dinge ereignet, die niemand von uns erwartet hat; zumindest ich habe sie nicht erwartet, und sie haben mich überrascht. Das alles gehört aber zum Leben und zur Geschichte: wir werden immer wieder überrascht und können beide nie vollkommen ergreifen.

Zu den Dingen, die mich am meisten überrascht haben, gehört die Tatsache, daß so viele ehemalige Kommunisten, nachdem man ihnen die rote Fahne aus den Händen gerissen hatte, nach der Nationalfahne griffen und zu erfolgreichen Verführern der Völker wurden. Unsere Gesellschaften haben sich offensichtlich an die kollektivistische Mentalität gewöhnt und gewöhnen sich nur schwer an persönliche Verantwortung, an die Bürde der persönlichen Freiheit. So erliegen sie leicht der Versuchung, einem neuen Typus des Kollektivismus zu verfallen, einer neuen Gruppenbildung, in der sich die persönliche Verantwortung verliert und in der wir uns wieder hinter einem kollektiven “Wir” verstecken. Das ist eine sehr bittere Erfahrung.

Viertens: Meine letzte Anmerkung bezieht sich auf die sehr spezifische Erfahrung, die wir unter dem totalitären System kommunistischer Prägung gemacht haben, sowie auf den Umstand, daß wir diese besondere Erfahrung offenbar nicht gut und überzeugend genug zu artikulieren und an andere weiterzugeben vermochten. Es geht mir hier nicht um eine ideologische Polemik gegen den Kommunismus gemeint, vielmehr um eine gewisse existenzielle Erfahrung und um das, was sich daraus für das Leben unter demokratischen Verhältnissen ergibt: Es geht mir um die Warnungen, die in unserer Erfahrung enthalten sind, um die Appelle und gleichzeitig um die konkreten Impulsen zu einer Verbesserung des politischen Lebens. Nicht nur, daß wir diese besondere existenzielle Erfahrung nicht ausreichend zu vermitteln vermochten: Wir haben sie wohl auch nur unzureichend in unsere eigene politische Praxis übersetzt, wenn wir denn schon mit politischen Funktionen betraut wurden. Noch ist aber nichts verloren, alles bleibt offen. Vielleicht wird es noch Gelegenheit geben, diese Erfahrungen neu zu bewerten und zu beleben, auch vor dem Hintergrund all der neuen Ereignisse, deren Zeugen wir heute auf dem europäischen Kontinent sind.

Viktor Orban:

Mein Beitrag zu dieser Diskussion wird darin bestehen, die spezifisch ungarische Perspektive einzubringen. Dabei werde ich das Jahr 1989 selbst thematisieren, weniger die zehn Jahre, die inzwischen vergangen sind. Die Frage, was von 1989 bleibt, ist in der Tat die Schlüsselfrage für den Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft – aber in anderer Weise, als gemeinhin angenommen wird.

Als ich den Titel unserer Debatte zum ersten Mal sah, fragte ich mich, ob es denn irgend etwas gibt, das von 1989 bleiben sollte. Die Antwort hängt davon ab, aus welchem Blickwinkel wir das Jahr betrachten: Für viele ist es das erste Jahr der Freiheit; andere betrachten es als das letzte Jahr der Diktatur, das Jahr der Massendemonstrationen gegen das kommunistische Regime, die den Weg zu den freien Wahlen von 1990 ebnen sollten.

Auf den ersten Blick mag diese Unterscheidung scholastisch erscheinen. Sie hat aber handfeste politische Implikationen. Zumindest im Fall Ungarn verbergen sich hinter ihr zwei konträre Auffassungen des Übergangs. Bei uns macht es einen entscheidenden Unterschied, ob das Ende des Kommunismus und der Anfang der Demokratie auf 1989 oder auf 1990 datiert wird, und dieser Unterschied teilt die Meinungen so stark, daß man bei uns geradezu von der Gruppe der 89er und jener der 90er sprechen kann.

Die Kurzformel für die beiden Interpretationen könnte so lauten: Die Auffassung der 89er beruht auf einer Strategie der Kontinuität, die der 90er auf einer Strategie des Wechsels. Die 89er vertraten die Position, daß vieles am System geändert werden mußte, damit es in der Substanz erhalten blieb. Kontinuität in allen Bereichen: die Machtelite sollte ihre Macht weiter ausüben und die alten Verbindungen und Netzwerke in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik weiter arbeiten. Für die 90er hingegen ging es darum, so gut wie alles zu ändern, damit nichts beim alten blieb. Kurz, hier stand die “postkommunistische Gesellschaft” gegen die “Wettbewerbsgesellschaft”.

Ich selbst bin der Meinung, daß 1989 das letzte Jahr der Diktatur war. Und das heißt: je weniger von ihm bleibt, desto besser. Wir waren davon überzeugt, daß es keine Demokratie geben kann, solange keine freien Wahlen stattfinden. Alles davor ist noch der Diktatur zuzurechnen, und sei sie noch so milde gewesen. Die Veranstalter mögen mir verzeihen, aber aus meiner Sicht werden wir das zehnjährige Jubiläum des demokratischen Umbruchs erst im Jahr 2000 feiern. Trotzdem ist es nett, daß wir heute das neunjährige begehen.

Wie haben sich die beiden Auffassungen konkret in den Übergangsstrategien niedergeschlagen? Im Bereich der Politik gab es sehr unterschiedliche Auffassungen davon, wie ein Mehrparteiensystem einzurichten sei. Zu Beginn des ungarischen Runden Tisches schlugen die Vertreter der kommunistischen Partei vor, das polnische Modell zu übernehmen. Dieses sah für die Wahlen einen festen Anteil von Parlamentssitzen für die Kommunisten vor, während die übrigen Gruppierungen um die verbleibenden Sitze konkurrieren mußten.

Als wir das nicht akzeptierten, begannen die Kommunisten, jene politischen Kräfte zu bearbeiten, die sie als Protagonisten – und Koalitionspartner – im künftigen Parlament haben wollten. Auf diese Weise hofften sie, noch lange nach dem Übergang zum pluralistischen Parteiensystem die Karten verteilen zu können. Die 90er hingegen waren davon überzeugt, daß eine echte parlamentarische Demokratie nur aufgebaut werden konnte, wenn die politischen Arena ganz den neu entstehenden politischen Kräften, echter politischer Initiative und echtem Wettbewerb geöffnet würde.

Im wirtschaftlichen Bereich versuchten die 89er, die alte politische und ökonomische Nomenklatura in die Schicht der neuen Besitzer überzuführen. Die Vorbereitungen dazu begannen bereits 1988, als das kommunistische Parlament Gesetze zur Transformation der staatlichen Unternehmen und zur Privatisierung verabschiedete. Die Übergabe von Staatseigentum in Privathand wurde nicht nach den ersten freien Wahlen, legitimiert durch ein demokratisch gewähltes Parlament, in Angriff genommen, sie fing schon zwei Jahre vorher an.

Viele befürworteten dieses Vorgehen damals mit dem Argument, daß es einen friedlichen Übergang sichern half. Denn verfügte die Machelite erst einmal selbst über Privatbesitz, würde sie gegen den Systemwechsel wohl kaum Waffen einsetzen. Die 90er sahen diesen Prozeß viel kritischer. In ihren Augen führte er zu einem Scheinwettbewerb und würde echten Wettbewerb auf Jahre hinaus unterbinden. Sie gingen davon aus, daß erst freie Wahlen eine Privatisierung und damit einen Marktwettbewerb möglich machen würden, die diese Namen verdienen. Dies war auch für die in Ungarn schon seit den 70er Jahren existierenden Kleinunternehmen die einzige Chance, sich zu echten Marktkräften zu entwickeln.

Wie sah es mit der Vergangenheitspolitik aus? Auch hier finden sich zwei gegensätzliche Vorstellungen. Sicher erinnern sie sich an die heftigen Debatten in ganz Mitteleuropa, ob und wie eine Lustration einzuführen sei. Während die 89er die Schwierigkeiten betonten, glaubten die 90er, daß für einen echten Wechsel eine Überprüfung in geeigneter Form notwendig sei.

Besonders im Schlüsselbereich der Medien hatten die 89er ein starkes Interesse an Kontinuität. Sie waren gegen Lustration und gegen die Einmischung durch das frei gewählte Parlament und die Regierung. Sie waren für die Beteiligung ausländischer Investoren, um eine Art Schutzschild zu schaffen; daher die frühe, bereits 1988 einsetzende Privatisierung der Presse. Durch diese Politik konnte die alte Garde ihre Positionen durchgängig halten. Die 90er hingegen wollten auch die Medien einer Durchleuchtung unterziehen, sie wollten radikale Änderungen in den staatlichen Apparaten, und sie forderten, daß die Privatisierung auch in diesem Bereich erst nach freien Wahlen und auf der Grundlage von neuen Gesetzen beginnt.-

Im heutigen Ungarn ist der Gegensatz zwischen postkommunistischem Scheinwettbewerb und wettbewerbsorientierter Gesellschaft praktisch Geschichte. Abgesehen von Rückzugsgefechten der 89er hier und da haben die 90er die Schlacht gewonnen. Das heißt nicht, daß Ungarn keine Probleme mehr hätte. Doch sind es kaum noch die Probleme einer postkommunistischen Gesellschaft, sondern immer mehr die einer westlichen. Kissinger hatte Recht, als er sagte, daß die Lösung des einen Problems die Tür zum nächsten ist. Gleichwohl fängt damit für uns eine neue und viel erfreulichere Geschichte an.

Adam Michnik:

Wenn mir jemand im Jahre 1986 gesagt hätte, ich würde einmal Zeuge einer so exotischen Einteilung in 89er und 90er werden, wie sie Viktor Orban gerade vorgeschlagen hat, dann wäre ich, ehrlich gesagt, ziemlich schockiert gewesen. Ich habe damals in einem Land mit einer kommunistischen Diktatur gelebt, in einem totalitären Land – natürlich war das ein “weicher” Totalitarismus, aber immer noch ein Totalitarismus. Polen war ein Land, das verzweifelt einen Ausweg suchte aus der Falle, in die es geraten war, einen Weg in die Modernität. Es war sich, wie schon so oft in seiner Geschichte, sehr wohl der Vorzüge von Freiheit und Modernität bewußt, von denen es einerseits durch fremde Gewalt abgeschnitten war, andererseits aber auch durch die Unfähigkeit der Polen selber, sich untereinander zu verständigen, durch die Unfähigkeit, die historische Chance zu nützen. Ich gehöre zu denen, die wissen, daß es genauso schwierig ist, die Vergangenheit zu prognostizieren, wie die Zukunft; die wissen, daß man, wenn man heute die Zeugen von damals hört, glauben könnte, 1989 sei alles ganz klar und eindeutig gewesen und man hätte schon sehr kleingläubig oder auch ein hartnäckiger Verteidiger der kommunistischen Macht sein müssen, um sich den vorsichtigen Lösungen zu widersetzen, die auf Kompromissen beruhten – Kompromisse, die zum Ziel hatten, die Zahl der Befürworter der Transformation zu vermehren, und nicht die Zahl ihrer Gegner. Ich gehöre auch zu denen, die einen so raschen Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums nicht erwartet hatten; ich war von einem evolutionären Prozeß ausgegangen, in dessen Folge immer neue Gebiete der Freiheit herausgelöst würden. Und ich hatte Angst vor überstürzten Handlungen, die eine gewaltsame Reaktion hätten auslösen können, entweder von Seiten des kommunistischen Machtapparates, der ja schließlich noch regierte, oder auch von Seiten Moskaus. Der 4. Juni 1989 ist für uns Polen ungeheuer wichtig. Es ist der Tag, an dem die polnische Gesellschaft in halb freien (weil noch nicht völlig freien), aber demokratischen Wahlen den Kommunismus abgeschüttelt hat. Das war für alle sehr eindrucksvoll. Aber wir erinnern uns auch, daß am selben Tag in Peking auf dem Platz des Himmlischen Friedens Panzer der kommunistischen chinesischen Armee die dort versammelten Studenten massakrierten. Wir erinnern uns auch, daß zur selben Zeit in Tbilisi Massaker stattfanden. Wir erinnern uns, daß nur wenig später in Wilna das Parlamentsgebäude von sowjetischen Truppen gestürmt wurde. Wir erinnern uns schließlich an die ganze polnische Geschichte, und wir haben nicht vergessen, daß Warschau, als es sich im Jahre 1944 zum Kampf erhob, allein war. Wir erinnern uns auch an die Geschichte von Budapest, das im Jahre 1956, als es brannte und verblutete, allein gelassen wurde. Es war unsere Verantwortung für unser Land, für den Frieden in diesem Teil des Kontinents, so überlegt zu handeln, daß Polen und die gesamte Region nicht der Gefahr einer umfassenden Desintegration ausgesetzt wurden. Daß eine solche Gefahr durchaus im Bereich des Möglichen lag, wissen wir, dazu brauchen wir uns nur anzuschauen, was in den vergangenen zehn Jahren auf dem Balkan geschehen ist. Und ich möchte hier eines sagen: Wenn es möglich gewesen wäre, den Frieden auf dem Balkan dadurch zu retten, daß man nicht allen kommunistischen Apparatschiks ihren Besitz weggenommen hätte, wenn es möglich gewesen wäre, den blutigen Krieg in Bosnien dadurch zu vermeiden, daß die Führer der Konfliktparteien vielleicht etwas weniger prinzipiell gehandelt hätten, dann wäre das möglicherweise für die Nationen Jugoslawiens besser gewesen, wenn auch weniger prinzipiell…

Was mich betrifft, so gibt es für mich keine Trennung zwischen 89ern und 90ern, zumal nicht im polnischen Kontext. Natürlich hat es in Polen einen Streit darüber gegeben, wie man die Freiheit nützen soll, aber wir müssen das aus heutiger Sicht betrachten, aus dem Abstand von zehn oder sogar zwanzig Jahren. Dazu hatten wir Polen vor kurzem Gelegenheit. Vor zwanzig Jahren ist Papst Johannes Paul II. zum ersten Mal nach Polen gekommen. Und jetzt, zwanzig Jahre später, ist er wieder gekommen. Er hat auf demselben Platz wie damals gesprochen, und wir hatten Gelegenheit, gemeinsam mit dem Papst darüber nachzudenken, was in diesen 20 Jahren in unserem Land geschehen ist. Ich behaupte, daß ein Wunder geschehen ist, ein zweites Wunder an der Weichsel. Das erste Wunder geschah im Jahre 1920, als der junge polnische Staat sich dem Bolschewismus auf seinem Weg in das Herz Europas entgegenstellte, und das zweite Wunder geschah 1989, als in der Folge von Verhandlungen und dann Wahlen der Kommunismus demontiert wurde. Die Berliner Mauer wurde in Polen demontiert.

Vier Elemente erscheinen mir besonders wichtig: Erstens: Als wir uns 1989 mit den Kommunisten an einen Tisch setzten, also mit Leuten, die uns noch vor kurzem ins Gefängnis gesperrt hatten, da mußten wir uns die Frage stellen, ob wir imstande sein würden, die Grenzen zu überschreiten, die uns die eigenen Emotionen setzten. Und wir haben diese Frage eindeutig beantwortet, wir haben gesagt: Ja, dazu sind wir imstande. Wir hatten damals die Wahl zwischen einem Antikommunismus mit menschlichem und einem Antikommunismus mit bolschewistischem Antlitz, und wir haben den ersten gewählt – einen Antikommunismus, der nicht auf Rache aus war, der sich nicht vor Haß verzehrt, sondern einen Antikommunismus, der eines begreift: Wenn das Wesen des Kommunismus darin bestand, alle Menschen mit Ausnahme der Kommunisten zu diskriminieren, dann muß das Wesen unseres Antikommunismus darin bestehen, einen Staat aufzubauen, in dem für alle Menschen ein Platz unter der Sonne ist. Dies darf kein Land sein, in dem die eine Diskriminierung abgelöst wird von einer anderen, in dem die Sieger über die Besiegten richten. Wir haben dafür gekämpft, daß die Polen sich die Regierung aussuchen können, die sie wollen, und nicht dafür, daß wir selber an die Macht kommen. Wenn ich mir die Genese des polnischen Erfolges in dieser Zeit vor Augen führe, dann denke ich an einen in Polen oft angegriffenen, immer wieder verzerrt wiedergegebenen und manipulierten Begriff, den der damalige Premierminister Tadeusz Mazowiecki in seiner ersten Regierungserklärung geprägt hat: den Begriff des dicken Strichs, den man unter die Vergangenheit ziehen muß. Um es noch einmal zu erklären: Mazowiecki ging es darum, daß die neue Regierung die Verantwortung dafür übernahm, was sie selber machte, daß sie aber nicht für den gesamten Ballast verantwortlich gemacht werden konnte, den die über vierzig Jahre währende kommunistische Diktatur hinterlassen hatte.

Aber dieser dicke Strich hatte auch noch eine andere Bedeutung. Er bedeutete für jeden, der damals innerhalb der Strukturen des alten Regimes gearbeitet, aber kein Verbrechen begangen hatte, und der heute für Polen und für die Demokratie arbeiten möchte, ein Platz findet. Diese Logik reicht weit über Polen hinaus. Ich habe kürzlich einen Artikel von Nelson Mandela gelesen, den er geschrieben hat, als er sein Amt abgab. Er hätte Mazowiecki sein können, weil dort dieselbe Logik zum Ausdruck kommt, weil ich dort ganz ähnliche Formulierungen fand und dieselben Werte: Nichts darf vergessen werden, man muß die Dinge restlos aufklären, aber gleichzeitig darf man keine Rache suchen, keine neuen Konflikte anheizen.

Das zweite Element, das ich hier nennen möchte, ist ein weiteres Wunder, das Wunder von Leszek Balcerowicz und seiner Schocktherapie. Die Polen gelten gemeinhin als eine Nation von Verschwörern und Revolutionären, die es wunderbar verstehen, auf den Barrikaden zu sterben; nicht genug damit, wendet man auf sie ebenso gerne das Stereotyp der “polnischen Wirtschaft” an. Und nun stellt sich zu aller Überraschung heraus, daß diese Polen, wenn man sie nur läßt, sehr gut zu wirtschaften verstehen und es zuwege bringen, innerhalb kurzer Zeit die schlimmste Krise zu überwinden und ein ansehnliches Wirtschaftswachstum in Gang zu bringen, dank dessen immer breitere Schichten im Wohlstand leben.

Das dritte wichtige Element war die Politik unserer Regierung gegenüber den nationalen Minderheiten innerhalb des Landes, vor allem gegenüber der ukrainischen und der deutschen und gegenüber den polnischen Minderheiten in den Nachbarländern, besonders in Litauen, und schließlich die Beziehungen zu unseren Nachbarn. Zum ersten Mal in seiner Geschichte hat Polen weder Probleme mit den nationalen Minderheiten noch mit seinen Nachbarn. Und auch das nenne ich ein polnisches Wunder, daß wir von einem Satellitenstaat zu einem souveränen Staat geworden sind; von einem Land der Diktatur zu einem demokratischen Land; von einem Land mit einer “Mondwirtschaft” zu einem Land mit Marktwirtschaft; von einem Land, in dem sowjetische Truppen stationiert waren, zu einem Mitglied der NATO.

Das alles bedeutet natürlich nicht, daß wir keine Probleme hätten. Die haben wir – sogar mehr als genug. Nach dem Idealismus der Samtenen Revolution ist nun die Zeit eines gierigen Zynismus der Samtenen Restauration angebrochen, und das demokratische Polen muß lernen, dieser Entwicklung die Stirn zu bieten. Wir haben wirtschaftliche Erfolge zu verzeichnen, aber wir wissen auch ganz genau: Wachstum, ein ausgeglichenes Budget und eine kontrollierte Inflation bedeuten noch keine Lösung für die riesigen sozialen Probleme in Polen. Wir wissen, daß wir eine soziale Politik entwickeln müssen, die bereit ist, allen zu helfen, die an den Rand gedrängt werden, den Armen, den Arbeitslosen und den Obdachlosen.

Und schließlich das vierte Element: Wenn uns all dies in Polen nicht gelungen wäre, wenn man heute über Polen so sprechen müßte wie über Serbien, dann stünden sicher zahlreiche historische Argumente bereit, die eine solche Entwicklung erklären würden. Es würden sich sofort Legionen von Historikern zu Wort melden, die die polnische Geschichte – Anarchie, Aufstände, Teilungen, das Fehlen demokratischer und marktliberaler Traditionen – beschwören und unwiderleglich beweisen würden, daß Polen gescheitert ist, weil es einfach scheitern mußte.

Es kam anders: Polen hat bewiesen, wie viel von den Menschen selber abhängt, von der berühmten Nase der Kleopatra, wieviel davon abhängt, daß man den Willen aufbringt, sein geschichtliches Fatum zu durchbrechen. Wir Polen haben das geschafft, ungeachtet derjenigen, die meinen, es sei ein Fehler gewesen, daß wir nicht alle Kommunisten an den Bettelstab gebracht und sie in Umerziehungslager gesperrt haben, ungeachtet auch der Kommunisten, die heute sagen, sie würden diskriminiert. Vor allem aber haben es unsere Kinder und unsere Enkelkinder geschafft, weil wir ihnen ein freies, stabiles und sicheres Polen hinterlassen werden.

Viktor Klima:

Im Kreise so vieler “Revolutionäre” von damals möchte ich mich auf die Nachwirkungen von 1989 auf den Westen beschränken. Dabei werde ich mich auf drei Punkte konzentrieren.

Erstens: Die wichtigste Konsequenz der demokratischen Revolutionen für den Westen – und ich beziehe mich hier vorwiegend auf die Heimatstaaten der anwesenden Kollegen, also Polen, Tschechien und Ungarn – war die Sicherung der Stabilität in Europa. Ich weiß, viele von Ihnen haben vor 10 Jahren vorgezogen, vom “Übergang zur Demokratie” zu sprechen und nicht von einer “Revolution”. Das mag analytisch korrekter sein. Es wird aber der enormen Leistung dieses Demokratisierungsprozesses nicht ganz gerecht; und auch nicht dem aktiven Beitrag der Menschen, einzelner Menschen in den politischen Reformbewegungen.

Damals gab es nicht wenige, die Zweifel hatten, ob die Demokratisierung gelingen würde. Entweder weil die alten Machthaber nicht kampflos aufgeben würden oder weil die wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten, die die fundamentale Umgestaltung der Gesellschaft mit sich brachte, und die Gleichzeitigkeit dieser Prozesse in allen ehemaligen Comecon-Staaten die Gesellschaften auseinanderbrechen lassen würden. Daß der Übergang friedlich erfolgt ist, ohne Revanchismen und ohne neue Ausgrenzungen, war eine enorme Leistung – eine Leistung, die uns Hoffnung und Zuversicht geben kann.

Wir nehmen Stabilität in Europa heute als etwas Selbstverständliches hin. Und machen uns zuwenig bewußt, wieviel Europa durch den friedlichen Weg der Transformation gewonnen hat. Das Beispiel des ehemaligen Jugoslawien zeigt in tragischer Weise, daß die Gefahr eines neuen Nationalismus und Totalitarismus nicht in allen Ländern gebannt werden konnte. Gerade dieses Beispiel macht aber auch deutlich, daß wir uns auf den Fortbestand der Stabilität in Europa nicht einfach verlassen können; daß wir alles daran setzen müssen, in Europa keine neuen Trennlinien zu ziehen.

Die Perspektive der Mitgliedschaft in der Europäischen Union hatte für die Orientierung der Reformländer zweifellos große Bedeutung. Das zeigt auch, wie sehr die Erweiterung der Union im originären Interesse ganz Europas, damit auch Westeuropas liegt. Der jetzt notwendige Wiederaufbau im Kosovo, in Albanien und Mazedonien darf dabei kein Hindernis sein, vielmehr sollte er zur Stabilisierung mit beitragen.

Aus dem Demokratisierungsprozeß können wir zudem die Lehre ziehen, daß es auch unter schwierigen Bedingungen möglich ist, einem Populismus die Absage zu erteilen, der Vorurteile und Ressentiments schürt, der vorhandene Probleme und Unsicherheiten ausnützt und dessen Lösungen letztlich immer bei irgendeiner Form von “starkem Mann” enden.

Gesellschaftliche und wirtschaftliche Umbrüche gibt es auch im Westen – wenngleich unter viel günstigeren Bedingungen. Sie erzeugen auch hier Angst und Unsicherheit. Die Politik hat die Wahl, ob sie diese Angst ausnützt oder ob sie Perspektiven bietet, die Sicherheit im Wandel geben und damit sozialer Ausgrenzung entgegenwirken. Wenn es im Osten unter so schwierigen Bedingungen möglich war, die richtige Entscheidung zu treffen, sollten auch westliche Länder dazu in der Lage sein. Auch in diesem Sinne bleibt von 1989 eine Ermutigung.

Zweitens: Was sind die Konsequenzen der erfolgreichen wirtschaftlichen Transformation? Die vordergründige Geschichte dazu ist jene von der endgültigen Absage an die Planwirtschaft und der beiderseitigen Vorteile der wirtschaftlichen Integration. Insgesamt mag die Integration der Transformationsländer in die westlichen Marktwirtschaften und der resultierende Wohlstandsgewinn länger dauern, als ursprünglich erwartet. Es ist auch notwendig, diesen Prozeß im Rahmen der Erweiterung sorgfältig vorzubereiten. Die Richtung steht aber fest.

Diese einfache Geschichte des “Siegs” der Marktwirtschaft hat bei genauerem Hinsehen allerdings mehrere Facetten. Es hat sich gezeigt, daß es keine Patentrezepte gibt. Zwar haben genug westliche Berater ihre “Lehrbuch-Marktwirtschaft” feilgeboten. In der Praxis haben die Anleitungen freilich meistens zu kurz gegriffen. Liberalisierung und Privatisierung sind wichtig, reichen aber nicht aus. Es waren jene Länder am erfolgreichsten, die entsprechende rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen haben, damit Marktmechanismen in einer fairen Weise wirken können; in denen Rechtssicherheit und Legitimität des Privatisierungsprozesses hergestellt wurden; und in denen es nicht nur eine Neuverteilung des Eigentums sondern auch wirksame und transparente Entscheidungsstrukturen gab.

Das ist eine Erfahrung, die auch für den Westen relevant ist. Denn wir können uns in dieser Entwicklung wie in einem Spiegel sehen und erkennen, wie wichtig Regelungssysteme für angeblich “freie” Marktwirtschaften sind. Daß es nicht darum geht, pauschal zu deregulieren, und Institutionen abzuschaffen, vielmehr darum, Regelungsmechanismen zu entwickeln, die Anreize für den gesellschaftlichen Wandel liefern, zugleich aber auch den sozialen Ausgleich sicherstellen.

Es gibt in meinen Augen weder für Westeuropa noch für die Transformationsländer ein festes Modell, das einfach kopiert werden könnte. Das vielgepriesene “Manchester”-liberale System mag zwar höhere Wachstumsraten bringen, ist aber offenbar nicht in der Lage, für eine faire Verteilung des Wohlstands zu sorgen. Es gilt daher, neue Wege zu finden, um sicherzustellen, daß Europa sein wirtschaftliches Potential besser als bisher nutzt, aber gleichzeitig dafür zu sorgen, daß alle gesellschaftlichen Gruppen am Wohlstand teilhaben können. Ich sehe das als gemeinsames, europäisches Projekt an. Ein Projekt, bei dem der Erfahrungsaustausch stärker als bisher in beide Richtungen gehen sollte. Denn der radikale Neubeginn in den Transformationsländern bietet auch die Chance für innovativere Lösungen – anders als im Westen, wo man sich bei jeder Maßnahme – nicht zu unrecht – fragen lassen muß, warum man etwas ändert, was im Grunde noch recht gut funktioniert.

Drittens: die Aufhebung der Trennlinien in Europa. 1989 wird heute gleichgesetzt mit dem Ende des Kalten Krieges. Ein Aspekt scheint mir hier für den Westen von besonderer Bedeutung: das Ende politischer Gewißheiten und der Beweis für die Entwicklungsfähigkeit von Gesellschaften.

Garton Ash hat in seinem Buch über die Solidarnosc eine sehr treffende Beobachtung gemacht: daß das Wort “Jalta” in Polen als Synonym für Resignation, für ein unangenehmes, aber unabänderliches Faktum stand. Das war nicht nur in Polen so, es hat auch für den Westen gegolten. Wir konnten uns nicht vorstellen, daß sich an den sogenannten Grundfesten der Nachkriegsordnung etwas ändern würde – trotz 1956, 1968 und 1980. Und als Sozialdemokrat stehe ich nicht an festzustellen, daß auch die Sozialdemokratie die Bedeutung der demokratischen Bewegungen in den Transformationsländern verspätet erkannt hat.

Um so wichtiger erscheint es mir heute, nicht wieder einem politischen Determinismus zu verfallen oder sich auf eindimensionale Sichtweisen der zukünftigen politischen Ordnung zu beschränken. Wir haben uns von einer bipolaren zu einer unipolaren Weltordnung entwickelt. Ich bin aber sicher, daß wir uns im nächsten Jahrhundert in eine multipolare Welt weiterentwickeln werden; in eine Welt, in der das gemeinsame Europa nicht nur eine wirtschaftspolitische, sondern auch eine außenpolitische Macht ist.

Das “Ende der Gewißheiten” bedeutet nicht nur das Ende des Freund / Feind-Schemas in der Außenpolitik. Auch in der Innenpolitik haben sich Ideologien geändert. Nicht nur in den Transformationsländern ist es schwierig geworden, das herkömmliche links/rechts-Schema auf die Parteienlandschaft anzuwenden. Wir westlichen Politiker haben ein ähnlich gelagertes Problem: Wir stellen zunehmend fest, daß solche Schemata zur Lösung unserer aktuellen Probleme immer weniger taugen; daß sie durch das neue Gegensatzpaar “konservativ / modern” überlagert werden; und daß wir letztlich neue Begrifflichkeiten, neue, innovative Politikansätze entwickeln müssen.

Timothy Garton Ash:

Vielen Dank Herr Bundeskanzler, nicht zuletzt auch für Ihre Bemerkung zur Vergangenheit der westeuropäischen Sozialdemokratie. Übrigens gehört die Hoffnung auf einen “dritten Weg” gerade zu den Dingen, von denen wir 1989 dachten, daß sie ein für alle Mal vom Tisch wären. Um so mehr überrascht es, daß die Idee inzwischen, leicht modifiziert, ein Comeback hat.

Wir haben es, scheint mir, mit einer sehr interessanten Differenz zwischen Orban und Michnik zu tun, die sich nicht einfach auf die Differenz der beiden von ihnen behandelten spezifischen Fälle, die ungarische und die polnische Revolution, zurückführen läßt. Vielmehr scheint mir hier ein tiefer gehender Unterschied im Verständnis des Wesens von 1989 vorzuliegen. Lassen Sie mich die Frage zuspitzen. In meinen Augen bist Du immer ein ’89er gewesen, Viktor. Ist es denn, erstens, nicht so, daß die Leistungen der ’90er ohne die der ’89 nicht denkbar wären? Und ist, zweitens, Deine Interpretation nicht ein wenig ahistorisch, weil sie übersieht, daß die Kommunisten 1989 noch an allen Hebeln der Macht saßen – sie hatten die Polizei und das Militär, und der Warschauer Pakt existierte noch. Ein zweites Tiananmen war damals keineswegs auszuschließen. Es mußten also Kompromisse gemacht werden. Drittens besteht das Charakteristikum des Modells von 1989 in einem friedlichen Übergang, d.h. in einer ausgehandelten, nichtrevolutionären Revolution, und ist insofern etwas grundlegend anderes als die Revolutionen von 1789, 1917 und davor. Wenn man also mit den alten Machthabern verhandelt, muß man Kompromisse machen und ihnen etwas anbieten. Im Falle der Kommunisten von 1989 war es ein Geschäft, bei dem sie ihre politische Macht verloren, aber mit wirtschaftlicher Macht und mit gewissen Sicherheiten für ihre Zukunft entschädigt wurden. Anders gesagt, es gab ein Element notwendiger Ungerechtigkeit in diesem Prozeß. Das heißt überhaupt nicht, daß alles, was in Ungarn passierte, gut und richtig war. Der Punkt ist vielmehr, daß das neue Revolutionsmodell diese Ungerechtigkeit naturgemäß als seinen Preis fordert. Es ist dies gewissermaßen der Preis des Samtes.

Viktor Orban:

Adam möchte ich entgegenhalten, daß meine Überlegungen zu 1989 sich auf den spezifischen Fall Ungarn beziehen. Ich würde es nicht wagen, hier zu verallgemeinern, schon gar nicht in Bezug auf Polen, wo der Übergangsprozeß ganz anders verlief – nicht zuletzt dank der Solidarnosc und dank einer ganzen Reihe herausragender Persönlichkeiten, von denen eine hier am Podium sitzt.

Der ungarische Übergang unterschied sich vom polnischen insbesondere hinsichtlich der Rolle des Widerstands. Die Niederschlagung des Aufstands von 1956 hatte bei uns tiefe Spuren hinterlassen. Die Oppositionsbewegung war wichtig, aber ihr Einfluß viel geringer als in Polen. Man kann vielleicht sogar sagen, daß wir die Strategie des Kampfes gegen das kommunistische Regime aus Polen importiert haben, z.B. die vom Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) entwickelte Idee einer auf Selbstbegrenzung beruhenden Revolution. Im Übrigen möchte ich unterstreichen, daß es mir in meinem Beitrag um eine Beschreibung und nicht um eine Wertung ging.

Adam Michniks Katalog der polnischen Wunder möchte ich wenigstens ein ungarisches Wunder hinzufügen: Es besteht darin, daß der Übergang in Ungarn nicht nur 1989 und 1990 friedlich verlief, sondern auch danach. Das ist keineswegs selbstverständlich, zieht man in Betracht, daß das Realeinkommen in Ungarn in den letzten zehn Jahren um 6 % gesunken ist und das BSP um 8 %. Welche westeuropäische Gesellschaft würde eine solche Belastung über so viele Jahre unbeschädigt verkraften?

Noch eine Bemerkung zum Kompromißcharakter von 1989. Hier muß man sich vor Verwechslungen hüten. Natürlich muß man Kompromisse machen, wenn eine Revolution nicht möglich ist. Entscheidend sind aber die Resultate: Wird das Ergebnis eine Gesellschaft mit Wettbewerbscharakter sein, oder eine Gesellschaft, die hinter einer Wettbewerbsfassade die alten Spiele weiter spielt? Die Herausforderung von 1989 bestand eben in der Frage, welches Szenario verwirklicht wird.

Timothy Garton Ash:

Nur um der Klarheit willen: Die Behauptung in Bezug auf 1989 ist, daß nicht die Mittel revolutionär waren im Sinne der klassischen 200 Jahre alten Definition, sondern daß die Resultate revolutionär waren im Sinne eines raschen und tiefgreifenden Systemwechsels. Angewandt auf Ungarn: War 1989 angesichts der Ergebnisse, wie wir sie nun, zehn Jahre später, beobachten können, eine Revolution in diesem Sinne oder nicht?

Viktor Orban:

Es war eine Revolution.

Adam Michnik:

Ich wage es nicht, mit Viktor über das konkrete ungarische Beispiel zu diskutieren, aber ich möchte hier doch eine allgemeine Bemerkung formulieren: Ich glaube, daß sich in der Politik manchmal hinter radikalen Worten eine maßvolle Linie verbergen kann. Und das scheint mir für das ungarische Beispiel zu gelten. Die Rhetorik der Regierung Antall war in ihrer Wortwahl um vieles radikaler antikommunistisch als die Politik der Regierung Mazowiecki. Aber es war die Regierung Mazowiecki, die Polen völlig vom Kommunismus befreit hat, vor allem die polnische Wirtschaft, und das viel umfassender, als das in Ungarn der Fall war. Ich meine, daß die Analyse, die Viktor hier vorschlägt, eher mit der ungarischen Auseinandersetzung über die Erinnerung zu tun hat; diese Auseinandersetzung ist sehr wichtig, kein Zweifel, aber sie ist doch etwas anderes als eine Beschreibung der damals tätigen Kräfte. Natürlich waren die ungarischen Wahlen hundertprozentig demokratisch. Aber warum war das möglich? Nur deshalb, weil vorher in Polen Wahlen stattgefunden hatten, die nicht hundertprozentig demokratisch waren, in deren Folge aber die Kommunisten die Macht abgaben, ohne daß sie dann gleich an den Laternen aufgeknüpft worden wären. Und das öffnete auch in Ungarn den Weg für die Erkenntnis, daß man es riskieren konnte, die Macht abzugeben, ohne einen massenhaften Rachefeldzug befürchten zu müssen.

Und noch eines: Das polnische Modell, mein lieber Viktor, bestand ja schließlich nicht darin, daß die Kommunisten von sich aus die Karten aus der Hand gegeben hätten. Wenn wir schon vom polnischen Modell sprechen, dann bestand es darin, daß die Kommunisten meinten, sie würden die Karten verteilen, während unser Sieg darin bestand, daß wir, während unsere Rhetorik von Kompromißbereitschaft gekennzeichnet war, revolutionäre Veränderungen herbeiführten, wirklich sehr revolutionäre, mit einer Ausnahme: Wenn eines der konstituierenden Elemente der Revolution die Guillotine ist, dann haben wir dieses Gerät ganz bewußt ins Museum verbannt.

Viktor Orban:

Natürlich ziehe ich den historischen Stellenwert der polnischen Wahlen im Juni 1989 nicht in Zweifel. Sicher hatten sie eine Art Vorreiter- und Auslöserfunktion. Aber im spezifischen Kontext der ungarischen Wahlen von 1990 konnten sie uns nicht als Vorbild dienen, im Gegenteil: in der politischen Diskussion war das polnische Modell das Negativbeispiel.

Timothy Garton Ash:

Ich habe gerade ein paar Wochen in Tschechien verbracht und mit Leuten dort über 1989 gesprochen. Viele, auch solche, die aktiv daran beteiligt waren, sagen, die Samtene Revolution sei zu samten gewesen. Lassen Sie mich Vaclav Havel fragen, was er über die Kontroverse zwischen Michnik und Orban denkt und was er Leuten sagen würde, die die Revolution zu samten finden.

Václav Havel:

Es hat den Anschein, als ob wir für den Samt der Revolution tatsächlich in verschiedener Hinsicht bezahlen müssen. Dennoch bin ich der Ansicht, daß er diesen Preis wert ist. Ich möchte mich aber für einen Augenblick von der Vergangenheit ab- und der Gegenwart zuwenden. Ich stelle mir eine Frage: die Frage nach den politischen Eliten in den Ländern, die sich vor zehn Jahren vom Kommunismus befreit haben. Wer sich in einer westlichen Demokratie öffentlich engagiert, ist mehr oder weniger seit seiner Jugend in verschiedenen Vereinen und Organisationen tätig gewesen. Er wirkt zunächst auf der lokalen Ebene, arbeitet sich langsam höher und landet dann eines Tages vielleicht in der hohen Politik. Eine derartige natürliche Entwicklung war in unseren Ländern nicht möglich. Von einem Tag auf den anderen ist dort eine Garde von Amateurpolitikern entstanden, Politiker, die sich vorher gar nicht so recht im klaren darüber waren, daß sie Politiker sind oder Politik betreiben, weil sie eigentlich nur schrieben, Petitionen organisierten etc. Und plötzlich finden sie sich in politischen Funktionen wieder, und alle schauen auf sie und sagen: “Nun zeigt mal, wie man es besser macht. Hört auf, immer nur zu kritisieren, zeigt es selber.” Es sieht so aus, als hätte danach ein ziemlich schwieriger Entwicklungsprozeß dieser politischen Elite begonnen, in dessen Verlauf auf der einen Seite viele abgesprungen sind, weil sie festgestellt haben, daß die praktische Politik ein buntes Spektrum an Talenten, Eigenschaften und Fähigkeiten erfordert, über die sie nicht verfügten; auf der anderen Seite sind andere hervorgetreten, die sich gegenüber dem vorangegangenen Regime in keiner ausdrücklichen Opposition befanden, die einfach nur irgendwie lebten und überlebten und sich wie die Mehrheit der Gesellschaft eben irgendwie durchlavierten und auf einmal – und sei es auch erst im späten Alter – das Interesse an der praktischen Politik für sich entdeckt haben. Sie hatten jedoch keine Vorbereitung absolviert, sondern waren im Gegenteil durch das angepaßte Leben im Kommunismus in einem gewissen Maße deformiert worden. Daraus ergeben sich – so beobachte ich es zumindest in unserem Land – verschiedene sehr eigenartige Spannungen und Erscheinungen in der Politik. Diese Instabilität geht eben darauf zurück, daß das Land noch keine fertig ausgebildete politische Eliten besitzt.

Ich bin aber der festen Überzeugung, daß in den letzten zehn Jahren junge Menschen herangewachsen sind – und meine Begegnungen mit ihnen bestätigen dies -, die bereits ein anderes Selbstverständnis haben, unbelastet von den deformierenden Erfahrungen der früheren Generationen. Das gibt Anlaß zu einer gewissen Hoffnung. Ich glaube, daß die hier angesprochenen Defizite unserer gegenwärtigen politischen Kultur in zehn Jahren – falls wir da noch auf der Welt sein und uns hier wiedertreffen sollten – uns kaum mehr zu schaffen machen werden. Ich hoffe es zumindest.

Timothy Garton Ash:

1989 haben Sie, Vaclav Havel, über die Perspektiven einer neuen Politik gesprochen, eine Politik, die sich wieder Idealen verpflichtet und sich von der Routine der professionalisierten Parteipolitik westeuropäischer Prägung grundlegend unterscheidet. Ohne taktlos sein zu wollen, scheint mir die heute in der Tschechischen Republik praktizierte Politik ziemlich dem alten Modell zu ähneln. Hegen Sie nach zehn Jahren immer noch die Hoffnung auf eine neue Politik? Und, Viktor Orban, ist die Politik in Mitteleuropa heute, zehn Jahre nach 1989, in irgendeiner Hinsicht anders als die politische Praxis in anderen Regionen Westeuropas?

Václav Havel:

Vielleicht habe ich mich damals sehr naiv ausgedrückt, vielleicht hatte ich naive Vorstellungen. Nicht vielleicht, sondern bestimmt. Dennoch bestätigt sich heute, nach diesen zehn Jahren, für mich das Prinzipielle, das mir damals vor Augen schwebte, hinter dem ich stand und das ich mitteilen wollte, eher, als daß ich vom Gegenteil überzeugt worden wäre. Mir scheint, daß nicht nur unsere postkommunistischen Länder, nicht nur Europa, sondern die ganze sich globalisierende Welt einen neuen Wind braucht, ein neues Bewußtsein, ein neues Selbstbewußtsein, einen neuen Geist, eine menschlichere Dimension der Politik, eine neue Form der Verantwortung. Wir wissen doch alle, wieviele Bedrohungen über dieser Menschheit schweben. Und wenn wir darüber nachdenken, warum die Menschheit all diese Gefahren sehr gut kennt und dennoch kaum in der Lage ist, ihnen zu trotzen, so kommen wir schließlich darauf, daß sich die Ursache in der Sphäre des Geistes befindet, in der Sphäre der Beziehung zur Welt, in einer Art Wertestruktur, in einer Form der Verantwortung. Insofern stehe ich nach wie vor zu dem, was ich 1989 dachte.

Viktor Orban:

Ich war damals nicht weniger naiv als Präsident Havel. Der Umbruch in Ostmitteleuropa war für die Politik erfrischend, er brachte aber keine neue Politik, keine neuen Strukturen, kein neues System. Wir leiden bei uns sicher nicht weniger als die westeuropäischen Politiker unter dem Mangel an offener Diskussion, unter dem Hang, den wirklichen Fragen eher auszuweichen als uns mit ihnen auseinanderzusetzen. Diese Art moderner Politik lieben wir ebensowenig wie dies unsere westeuropäischen Kollegen tun.

Adam Michnik:

Ich habe eine andere Perspektive. Während nämlich Vaclav und Viktor aus dem Blickwinkel von Menschen sprechen, die Macht ausüben, die regieren, spreche ich aus der Perspektive des Chefs einer großen Tageszeitung, das heißt einer Institution der Bürgergesellschaft. Ich habe mir die Aufgabe gestellt, gemeinsam mit meinen Kollegen und Freunden eine Tageszeitung ins Leben zu rufen, die der Idee Vaclav Havels von 1989 verpflichtet bleibt,. Ich will hier nicht behaupten, das sei mir gelungen – so größenwahnsinnig bin nicht einmal ich. Aber ich glaube, daß meine Kollegen und ich, die wir die Gazeta Wyborcza machen, bewiesen haben, daß wir unter den Bedingungen der Marktwirtschaft, in der vor allem das Geld zählt, eine Zeitung machen können, die reich ist und sich gut verkauft, die aber gleichzeitig immer noch jener Politik verpflichtet ist, von der Vaclav Havel gesagt hat, sie sei angewandte Moral.

Es stellt sich die Frage, ob wir uns, wenn wir uns auf den freien Markt der Produkte oder Ideen begeben, diesem ausliefern, oder ob wir versuchen, uns als unabhängige Partner mit dem freien Markt auseinanderzusetzen, ob wir versuchen, dort unsere Form des Denkens einzubringen. Mein ungarischer Freund Janos Kis, der hier mit uns im Saal ist, hat einmal, noch in der Untergrundzeit, einen interessanten Essay über die Normalisierung in Ungarn nach 1956, nach den Repressionen geschrieben. Und in diesem Zusammenhang stelle ich mir selber jetzt, in der Zeit der Freiheit, die Frage: Habe ich mich durch den Markt normalisieren lassen? Meiner Ansicht nach hat sich Vaclav Havel nicht normalisieren lassen, und ich würde mir wünschen, daß das später einmal auch jemand von mir sagte …

Timothy Garton Ash:

Die Gazeta Wyborcza gibt es an jedem guten Zeitungsstand.- Zum Abschluß würde ich gerne noch anderthalb Fragen stellen. Die halbe Frage: François Furet, der kürzlich verstorbene große Historiker der Französischen Revolution, der Revolutionen gerne quer durch die Geschichte und über den Globus daraufhin prüfte, ob sie das Prädikat “Revolution” wirklich verdienen, wollte es den Ereignissen von 1989 nicht zusprechen. Eines der Argumente, das er anführte war, daß echte Revolutionen stets große neue Ideen hervorbringen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit 1789, die kommunistische Transformation der Gesellschaft 1917, etc. Die Revolution von 1989 aber habe keine neuen Ideen mit sich gebracht, nur alte, wohlerprobte wieder aufgenommen. Nun frage ich die Diskutanten, ob sie heute, nach zehn Jahren, doch solche neue Ideen ausmachen können, oder ob, wie ich meine, die große Idee von 1989 in der Revolution selbst besteht: in ihrem Wie und nicht in ihrem Was – eben in ihrem nichtrevolutionären Charakter. Meine andere und letzte Frage lautet: Was bleibt von 1989?

Viktor Klima:

Von 1989 bleibt aus meiner Sicht erstens die Zuversicht für andere Länder, daß so ein Schritt ohne Revolution im kriegerischen Sinne möglich ist, ohne Haß, ohne Ausgrenzung, ohne Ressentiments, und daß er ein Miteinander in der Gesellschaft nachher möglich macht. Zweitens können wir aus 1989 die Lehre ziehen, nie mehr zuzulassen, daß es in Europa so scharfe Trennlinien gibt. Daher müssen wir rechtzeitig dafür sorgen, daß wir gemeinsam ein System der Stabilität und des Friedens errichten, das dafür sorgt, daß Demokratie und Menschenrechte in Europa geschützt werden. Und drittens stellt 1989 die Aufgabe, nach dem Zerfall des Gegensatzes zwischen Planwirtschaft dort und Marktwirtschaft hier gemeinsam einen europäischen Weg zu einer sozialen Marktwirtschaft zu entwickeln, der auf den Wettbewerb setzt, aber ebenso auf das Miteinander in der Gesellschaft.

Adam Michnik:

Ich glaube, daß Kanzler Klima genau den Punkt getroffen hat, wenn er davon spricht, daß das Jahr 1989 auf paradoxe Weise viele frühere Unterscheidungen obsolet gemacht hat. Wenn wir heute die Herausforderungen betrachten, die uns die Zukunft beschert, dann erkennen wir, daß die Einteilung in Linke und Rechte mehr verschleiert als erklärt – daß es hier gilt, neue Kategorien zu suchen. Mir persönlich erscheint eine Einteilung in offene und geschlossene Gesellschaften viel nützlicher. Warum? Weil historisch gesehen beide Formationen gewonnen haben, die Rechte und die Linke, weil sich beide als Sieger betrachten können. Als ich vor kurzem in Paris war, habe ich mit einem der Führer der französischen Rechten, Alain Madeline, gesprochen. Und als wir uns über den Kosovo unterhielten, fragte ich ihn: Wie kommt es, daß Sie, 1968 ein Mitglied der extrem rechten Organisation “L‘Occident”, heute über den Kosovo in denselben Worten sprechen wie mein alter Freund Daniel Cohn-Bendit, der damals einer der Führer auf den Barrikaden war? Und Madeline gab mir die sehr vernünftige Antwort: Weil wir heute in einer anderen Epoche leben und die Politik immer noch keine Antworten auf die Herausforderungen der neuen Zeit gefunden hat. Ich ließ jedoch nicht locker und stellte ihm noch eine weitere Frage: Wenn Sie heute den europäischen Politiker nennen müßten, der am besten den Herausforderungen der Modernität entspricht, wer wäre das? Und er sagte darauf: Tony Blair! Das veranschaulicht, wie viel sich heute in Europa vor unseren Augen verändert, das wir noch nicht benennen können.

Ich denke viel darüber nach, was heute den demokratischen Prozeß in meinem Land bedroht. Und das Erste, was mir dabei einfällt, ist die Korruption. Eine brandgefährliche Erscheinung. Die Korruption ist in den modernen Demokratien zu einem Bestandteil des politischen Systems geworden. Im Grunde hat noch keiner ein Rezept dagegen gefunden. Hier droht uns etwas, was ich eine Pathologie des Siegs des Parlamentarismus nennen würde. Nämlich daß derjenige, der im Parlament den Sieg davonträgt, sich alles nimmt. Für ihn ist die parlamentarische Demokratie nur noch eine reine Dekoration. Das kenne ich sehr gut nicht nur aus Polen, sondern auch aus anderen Ländern. Und das ist gefährlich, weil es den Weg ebnet zur Vereinnahmung des Staates durch die Parteien. Wenn der Staat zum Eigentum einer Partei wird, ist das das Ende der Idee des Staates als Allgemeingut.

Wenn wir von der Geschichte sprechen, dann drohen uns zwei große historische Lügen. Die eine besteht darin, daß man sagt, es habe keinen Kommunismus gegeben: die totale Amnesie. Und die zweite Lüge besteht darin, daß es heißt, alle hätten gegen den Kommunismus gekämpft: die Mythologie des massenhaften Widerstandes. Sie ist sehr gefährlich. Hier droht uns ein völliges Versagen der Rechtsprechung. Die Verbrecher werden nicht verfolgt, ihnen wird nicht der Prozeß gemacht, sie werden nicht bestraft. Das ist die Pathologie unserer Demokratie. Andererseits, und auch das muß gesagt werden, korrumpiert die Macht nicht nur, sondern sie zivilisiert auch. Dieselben Politiker, die in der Opposition die schlimmste Demagogie betreiben und goldene Berge versprechen, werden, wenn sie selber an die Regierung kommen, mit den Problemen der pragmatischen Machtausübung konfrontiert. Aus diesem Grund kann man in Ländern wie Polen von einer Art Kontinuität sprechen, obwohl die Regierungen, die Premierminister und Formationen so oft gewechselt haben.

Eine letzte Bemerkung. Was ist für mich von 1989 geblieben? Von 1989 ist mir die Überzeugung geblieben, daß wir etwas tun können. Als ich heute Zbigniew Brzezinski hörte, diesen wunderbaren und brillanten Denker, den ich als meinen Mentor betrachte, da gab es mir geradezu einen Stich ins Herz und in mir erwachte der finsterste polnische Chauvinist. Wenn ich nämlich höre, daß man mein Land als Protektorat betrachtet und seine Souveränität, die wir uns mit so viel Mühe erkämpft haben, in Frage stellt, dann geht diesem finsteren polnischen Chauvinisten auf der Stelle das Messer im Hosensack auf und er erklärt: Wir können loyale Partner von Amerika sein, und das haben wir bewiesen; wir können loyale Verbündete sein. Aber wenn irgend jemand in Washington meint, man könne aus uns Lakaien der amerikanischen Politik machen, dann hat er sich gründlich geirrt. Und ich möchte in diesem Zusammenhang noch sagen, daß mir von 1989 auch eine riesige Dankbarkeit gegenüber den USA geblieben ist, und daß ich eines genau weiß: Ohne die Politik von Präsident Carter, deren wichtigster Architekt eben Zbigniew Brzezinski war, eine Politik, die auf ihre Fahne die Menschenrechte heftete, wäre unsere Situation um vieles schwieriger gewesen; auch ohne die Politik von Ronald Reagan, der die imperialistischen sowjetischen Bestrebungen ganz offen als “Imperium des Bösen” brandmarkte.

Aber was haben uns die USA damals gesagt? Sie haben gesagt, man muß das “Imperium des Bösen” im Namen der Menschenrechte abschütteln – und nicht im Namen eines Protektorates. Und dabei soll es auch bleiben …

Timothy Garton Ash:

Dies ist ein historischer Augenblick: Adam Michnik wurde soeben überführt – und zwar von ihm selbst -, ein polnischer Chauvinist zu sein.

Viktor Orban:

Um noch einmal auf Timothy Garton Ash’s Frage zurückzukommen, ob 1989 eine Revolution war oder nicht: Wenn man François Furets Kriterium anwendet, wohl kaum. Eher stellte 1989 eine doppelte Befreiung dar – die Erringung der nationalen Freiheit, der Unabhängigkeit vom Sowjetimperium, und die Erringung der individuellen Freiheit. Daß dafür dennoch der Begriff der Revolution benutzt wird, hat zwei Gründe: einmal das schiere Ausmaß der Veränderungen, zum anderen die Tatsache, daß sie vom “Volk” erzwungen wurden.

Haben die Ereignisse in Mitteleuropa das Denken in der Region und über sie hinaus verändert? Weder noch, im Gegenteil. Kaum ein Politiker der neuen Demokratien hat neue Ideen hervorgebracht, die meisten haben es vielmehr vorgezogen, westeuropäische Etiketten und Ideologien en gros zu importieren. Sie nennen sich Christdemokraten, Liberale oder Konservative, ohne immer recht zu begreifen, was diese Begriffe bedeuten und ob sie den mitteleuropäischen Verhältnissen überhaupt angemessen sind. Vielleicht hatten wir einen Moment lang eine Chance, etwas Neues, Anderes hervorzubringen: An die Stelle des kommunistischen Staates mußte nach 1989 ein neuer Staat gesetzt werden. In der westeuropäischen intellektuellen Szene herrschte zu Beginn der 90er Jahre gerade eine gewisse Staatsfeindlichkeit: je kleiner der Staat, desto besser. Den Staat abzubauen war an sich schon verdienstvoll. Hier wäre es an uns gewesen, in die Debatte einzutreten und zu sagen, daß es manchmal notwendig und gut ist, einen Staat zu haben, zumal wenn man ihn neu aufbauen und gestalten kann. Aber wir haben die Chance, den westlichen politischen Diskurs um eine positive, konstruktive Idee des Staates zu bereichern, nicht wahrgenommen.

Václav Havel:

Ich habe den Eindruck, daß die gewaltigen Veränderungen des Jahres 1989 keine tatsächlich neue Ideologie im Sinne eines fertigen und in sich geschlossenen Systems mit sich gebracht haben. Und das ist gut so, denn Ideologien können, wie sich gezeigt hat, zweischneidig sein. Ich glaube, daß die Umbrüche etwas anderes gebracht haben, besser: daß sie eine Botschaft bereithalten, die bis jetzt zu wenig gelesen, zu ungenau dechiffriert worden ist. Das ist es, was ich meinte, als ich gesagt habe, daß wir wohl nicht imstande waren, unsere Erfahrungen weiterzugeben oder ausreichend zu erklären. Diese Botschaft ist aber in diesen Erfahrungen verborgen. Es handelt sich dabei um keine neue Ideologie, keinen neuen Katalog von Parolen und Schlagwörtern, sondern um eine etwas andere Art von Wertschätzung, eine andere Art der Beziehung zur Politik, zum öffentlichen Leben, zu sich selbst. Darin enthalten ist – ich spüre das zumindest – auch ein gewisses Element der Demut, der Achtung vor der Welt, der Fähigkeit zur Selbstaufopferung – ein Element der Humanisierung unserer Beziehungen, der tieferen Verantwortung; gleichzeitig aber auch ein Element der Nachdenklichkeit, des Humors und der Ironie. Kurzum, es handelt sich um einen Komplex von Haltungen und Werten, die kaum greifbar und kaum in politische Slogans zu übersetzen sind. Ich glaube aber, daß diese Botschaft, so schwer lesbar sie sein mag, trotzdem existiert, trotzdem lebt und uns herausfordert. Es liegt nur an uns selbst, ob und wie wir diese Herausforderung annehmen.

Übersetzungen:
Kathrin Liedtke und Milka Vagadayova (Havel),

Martin Pollack (Michnik)
und Klaus Nellen (Orban, Garton Ash)


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Transit – Europäische Revue, Nr. 18/2000