Über Aviatisches – d’Annunzio, Marinetti, die Avantgarde und der Faschismus

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The discussion of the Italian avantgarde inevitably centers on Marinetti, the Futurists and, perhaps to a lesser degree, on Gabriele d’Annunzio who may have been a “futurist” in his life rather than in his art. Marinetti and his friends were suspicious of d’Annunzio’s mythologizing gestures and his old fashioned poetry, but, as pilot and public figure, d’Annunzio was much closer to an impersonation of their ideas than they cared to admit. A comparative view of d’Annunzio’s Dithyramb IV (on Icarus) and Marinetti’s poetic report on Lt. Piazza’s attack on Arab trenches (1912, the first war use of airplanes recorded) would show the difference between literary articulations, and yet d’Annunzio’s jottings while flying over Austrian positions in WW I come close to Marinetti’s “parole in liberta”, not to speak of d’ Annunzio’s “futurist” war raid against Vienna (1918).

Die Frage, warum sich die Avantgarde der Künste in Italien im Lager des Nationalismus rechts von der Mitte etablierte (und nicht, wie in Deutschland, Frankreich und in der Tschechoslowakei eher in einer unabhängigen Linken) bedarf der Antworten, die Vereinfachungen meiden; und je mehr man diese Antworten von hinten, also mit einem Blick auf den ausgeprägten Faschismus nach dem delitto Matteotti zu suchen trachtet, und nicht von vorne, von der Epoche Giovanni Giolittis her, desto unausweichlicher die Gefahr, politisch korrekte Urteile anzubieten, aber wenig sonst – statt, zumindest, einen literaturhistorischen Prüfungsprozess zu eröffnen, in dem die Urteile noch schwanken oder sich aneinanderreiben. Nichts wäre überflüssiger, als eine Epoche ins Auge fassen zu wollen, von der man ohnehin schon alles weiß, und ich nähere mich jenen italienischen Jahren zögernd, weil sie unheilvolle, aber auch produktive Möglichkeiten antizipieren oder zu antizipieren scheinen, ohne uns den Schlüssel mitzuliefern, welche von diesen Möglichkeiten sich, mit Notwendigkeit, in Realitäten verwandeln. Ich stehe deshalb nicht an, für meine Spekulationen mehr als die Legitimität vorläufiger Einsichten zu beanspruchen. Indes: als Marinetti seine Manifeste schrieb, war Mussolini ein sozialistischer Journalist, und Gramsci eben dabei, als sardinischer Gymnasiast an die Universität von Turin zu übersiedeln.

Die Zeit Giolittis, ungefähr die ersten zehn Jahre des Jahrhunderts, war keine Epoche, die Beobachter durch historische und außerordentliche Ereignisse gefesselt hätte, und kritische Intellektuelle, links und rechts, sind selten geneigt, diesen Jahren eines liberalen und mehr oder minder funktionierenden Alltags-Parlamentarismus eine mehr als chronologische Rolle zu einzuräumen; da wird Manches gerafft, aber es ist wenigstens nicht falsch zu behaupten, dass für Giolitti, der kein originaler Denker der Demokratie war, aber ein erfolgreicher Praktiker täglicher Kompromisse, kulturpolitische Fragen nicht von wesentlicher Bedeutung waren. Da hilft es auch nicht viel, den Sozialdemokraten Filippo Turati zu beobachten; er besaß keine der Bebelschen emanzipatorischen Interessen, und hatte alle Hände voll zu tun, die vielen revolutionären, anarchistischen und syndikalistischen Gruppen innerhalb der Partei im Zaum zu halten; und zugleich mit ihm die Sozialistin Anna Kulischoff, die von den ethischen Fragen des Sozialismus bewegt war und außerhalb Italiens zu Unrecht in Vergessenheit geriet; und ich kann mich nicht daran erinnern, dass jemand ihre Schriften und Korrespondenzen übersetzt hätte ( wahrscheinlich war sie für die folgenden Generationen nicht radikal genug). Die Regierungen Giolittis waren bemüht, mit oder ohne Sozialisten, der chronischen Prosa beizukommen, in welche die revolutionäre Poesie des Risorgimento verebbt war – eine verspätete industrielle Revolution, im Norden eher als im Süden (wo mehr als ein Drittel der Bevölkerung noch nicht lesen und schreiben konnte), die traumatischen Folgen der militärischen Niederlage von Adua in Abessinien (1896), und die staatspolitische Überzeugung, dass Italien, die “Proletarierin unter den Nationen” im Konzerte der Grossen noch nicht mitzuspielen vermöchte.

Ein Verlangen, die italienische arretratezza, Zurückgebliebenheit, zu kompensieren, macht sich breit, und bald nach der Jahrhundertwende verbindet sich, rechts von Giolitti, ein beleidigter und erniedrigter Nationalismus, dem die internationale Anerkennung fehlt, mit der Forderung nach rapiderer Industrialisierung aus dem urbanen Geist der neuen Technologie zu einem charakteristischen Syndrom, welches in der Attitüde der italienischen Avantgarde bewahrt bleibt, immer in Verschränkung mit dem geradezu elegischen, aber auch aggressiven Bewusstsein, der revolutionäre und politische Impuls des Risorgimento ( Garibaldi eher als Mazzini) hätte sich längst, und ohne Erfüllung, in Advokaten-Geschäfte, Kompromiss-Kleinkram, und Stimmenkauf zerlaufen. Im staatspolitischen Arsenal Marinettis gibt es keinen Gedanken, den nicht vor ihm Enrico Corradini, der Ideologe der nationalen Partei (violette Hemden), und Mario Morasso, in seinem Buch über Technologie und Kriegsführung artikuliert hätten; und selbst der polemische Satz in Marinettis Erstem Manifest, die wie auf Kartätschen laufenden Automobile seien schöner als die Nike von Samothrake, ist eine Paraphrase aus Morasso. Ich befinde mich also auf dem besten Wege, die Anfänge des Futurismus aus einer Opposition gegen Giolitti/Turati zu erklären, die nicht rasch genug mit der arretratezza aufräumen, und selbst später noch bleibt Marinetti ein Corradini-Loyalist, der sich in die Akademie wählen lässt (bei offiziellen Anlässen in der Prachtuniform der kgl. Akademie) und noch mit Sechzig als Freiwilliger gegen Stalingrad zieht, zugleich aber die Kunst der Avantgarde, den Stolz Italiens, gegen faschistischen Funktionäre wie Starace öffentlich verteidigt und gegen die antisemitische Diffamation der Avantgarde polemisiert. Corradini starb im Faschismus im Abseits, und Marinetti fuhr fort, seine moralita guerresca, so oder so, zu repräsentieren.

Es ist also nicht schwierig, Marinetti mit der Opposition gegen Giolitti und die Seinen in Verbindung zu bringen, aber es ist schwieriger zu erklären, wie sich ein zweit- oder drittrangiger französischer Symbolist (denn Marinetti schrieb lange französisch) in einen originellen italienischen Futuristen verwandelte, sozusagen im Sprung in eine poetische Theorie und Praxis, die noch langhin über die Grenzen der italienischen Sprache und Gesellschaft wirkte. Selbst der Gedanke an Marinetti, den Impresario und Geschäftsreisenden in Sachen Futurismus, in Berlin, London, St. Petersburg und Prag, provoziert die Frage, ob es die Reklame war, die er für sich betrieb, oder die unerhörte Forderung nach einer Zertrümmerung der traditionellen Grammatik, die auch der Linken nützlich sein konnte, wenn es um den Streit gegen Tradition und Bürgerlichkeit ging. Lunatscharski, Proletkult-Theoretiker und Volkskommissar, war der erste, der das begriff und während des Zweiten Kongresses der kommunistischen Internationale die staunende und kulturpolitisch konservative italienische Delegation in reinem Italienisch darüber belehrte, dass sie zuhause längst einen Kulturrevolutionär hätte, nämlich Marinetti. Gramsci, in seinem Essay in L’Ordine Nuovo vom 5. Januar 1921, sagte zurecht, die italienischen Sozialisten hätten sich leider nie mit kulturpolitischen Fragen beschäftigt und deshalb zu beobachten versäumt, wer in Italien der bürgerlichen Kultur den Kampf angesagt hatte. Gramsci, der sonst gerne an einem konservativen Kanon festhielt, erklärte ohne Zögern, Marinetti und die Futuristen seien ” Revolutionäre, die scharf und deutlich begriffen, dass unsere Zeit, die Zeit der Großindustrie, der großen Städte und des intensiven und tumultuösen Lebens, neue Formen der Kunst, der Philosophie, des menschlichen Verhaltens und der Sprache benötigte”. Ob das wirklich, wie Gramsci behauptete, eine “absolut marxistische Idee war”, ist noch eine andere Frage.

Je allgemeiner die Rede, desto einfacher, den Futurismus hier oder dort einzuordnen, aber die poetische Praxis Marinettis ist nicht so simpel zu manipulieren, nicht zuletzt seine Forderung, die gültigen Worte von der traditionellen Syntax zu befreien und so den unendlichen Strom der Energie zu entbinden, welcher ( Marinetti ist ein dichterischer Physiker) in den Tiefen der Realität durch die Bewegung der Atome und Moleküle entsteht. Entscheidend, dass die Energie als rasante Bewegung deutlicher als anderswo in der neuen Luftfahrt, oder wie man damals sagte, in der Aviatik, zu Tage tritt, und der Pilot, oder Aviatiker, eine revolutionäre Rolle übernimmt, deren er selbst nicht bewusst sein mag. Das geschieht ( allerdings mit einiger Verspätung, wenn man die berühmten Flugwochen in Reims und Brescia in Betracht zieht) im Technischen Manifest vom 11. Mai 1912, in dem Marinetti die Zerstörung der traditionellen Grammatik, noch von Homer her, durch seine erste Flugerfahrung begründet, 20 Minuten, angeblich 300 Meter hoch – es ist der “surrende Propeller”, die die Normen der futuristischen Poetik definiert, die Substantiva in der Art ihrer Entstehung angeordnet” (was immer das heißen mag), die Verben im energischen Infinitiv (“Fortdauer des Lebens”), die Liquidation der Adjektiva und Adverbia, keine hemmende Interpunktion, um die ” aviatische Schnelligkeit” nicht zu gefährden.

Der libysche Krieg gab Marinetti die öffentliche Chance, seine poetische Praxis zu demonstrieren, die Zerstörung der Grammatik (an deren Stelle eine andere trat), aviatische Modernität, Italianita, und Corradinis Kriegermoral, das alles verknüpft mit einem militärischen Ereignis. Das war Mitte November 1911, Carlo Maria Piazzas Versuch, einen Blériot-Eindecker nicht allein zur Beobachtung feindlicher Positionen gebrauchen, wie das bisher geschah, sondern zu ihrer Bombardierung (die Bombe wurde vorher durch eine Spezialabteilung zusammengebastelt – der erste Bombenabwurf der Kriegsgeschichte). Darüber berichtete der Corriere della Sera am 20.11.1911, und Marinetti produzierte zwei Texte, einen noch in seiner älteren symbolistischen Manier in französischer Sprache, Hauptmann Piazza, ganz unmodern, als Reiter (“im Fluge reite ich ungesattelt die Schlacht, die wie toll geworden dahingaloppiert”), und einen anderen, futuristisch-italienischen, in welchem er die Substantive und Infinitive programmatisch in Szene setzt, “schluchzen durchbrechen wüste bett präzision entfernungsmesser eindecker galerie beifall eindecker = arabische niederlage ochse bluttriefend schlachthaus wunden zuflucht oase feuchtigekit fächer frische”. Der junge Johannes R. Becher, einst ein genialer Avantgardist, und Alfred Döblin haben diese poetische Grammatik ohne Abstriche übernommen, um das Entsetzliche der Schlachten, der modernen und der alten, darzustellen.

Alfred Pfabigan hat Marinetti als “Künstler” charakterisiert, der als “Politiker posierte”, und es war Marinettis offene Wunde, dass ihm d’ Annunzio, poetisch begabter und politisch sichtbarer ( zumindest als Regent von Fiume), immer den Rang ablief; und selbst in der Bemühung, die Modernität der Flugzeuge und kühnen Piloten gegen die italienische arretratezza auszuspielen, den Primat für sich beanspruchen durfte, und zwar mit vollem Recht. D’Annunzio war ihm weit voraus. Nichts merkwürdiger als die Situation der beiden im Sommer 1915, als Italien in den Krieg eintrat: Es ist nicht nur meine Imagination, die mir ein Bild Marinettis entwirft, der sich sogleich freiwillig meldet, prompt einer Fahrradabteilung zugeteilt wird und seinen Drahtesel durch die alpinen Täler schiebt (ehe er bei einem Panzerautobatallion dient); anders d’Annunzio, der Nationalbarde, auf eigenen Wunsch mit 50 Jahren reaktiviert, der älteste Leutnant der Novara Lanzenreiter, der den Titel Commandante reklamierte und Wohnung im Hotel Danieli und Palais Hohenlohe in Venedig nahm, an media-freundlichen, aber selektiven U-Bootraids teilnahm und als Flieger Bomben und Flugblätter über Trento, Pola, Triest, und Wien abwarf. Marinetti und die Seinen haben die entscheidenden futuristischen Texte und Kunstwerke produziert, aber d’Annunzio hat den Futurismus gelebt, viele Jahre lang.

D’Annunzio war, wie Marinetti, zuerst ein Automobil-Fan, der in seinem roten Vehikel, genannt “Per non dormire”, durch die Toskana ratterte, zur Verzweiflung der Dorfcarabinieri, die ihn vors Gericht zitierten; sein neues Interesse an der Aviatik kam noch aus einer fin-de-siecle Atmosphäre aus Plüsch, Wagnerzitaten und arrangierten Passionen. Es war die Gräfin Guiseppina Mancini, die er zu der ersten aviatischen Demonstration Italiens begleitete, ehe ihm, 1908/1909, deutlich war, dass der Nationalbarde in diesem Augenblick der Geschichte ein Pilot sein müsste, der heroischsten einer (wie die Aviatiker, frei nach Nietzsche, in seinem Fliegerroman, Forse che si forse che no).

Im Frühling 1909 war d’Annunzio in Centocelle bei Rom zu finden, wo der Amerikaner Wright seine Apparate vorführte, um seine Patente zu verkaufen und seine ersten italienischen Schüler zu trainieren. Er mischte sich unter die Flugexperten und trug es nur mit Unmut, dass man auf dem Flugplatz eine gemischte Sprache aus Italienisch und Amerikanisch zu sprechen begann; er war, wie Rilke, ein passionierter Leser alter Wörterbücher, wollte nichts von “aeroplano” hören und erklärte, man müsste das alte Wort “velivolo” erneuen. Viele Kommentatoren glauben noch immer, er hätte das Wort in poetischen Zorne erfunden, aber es spricht eher für seine gelehrten Interessen, dass er es in Renaissance- und Barockwörterbüchern entdeckt hatte, wo es, wie bei Vergil und Ovid das Gleiten der Schiffe über das Meer bezeichnet hatte; und es blieb lange sein Geheimnis, dass er “velivolo” in seiner angestammten Bedeutung schon in seinem ersten Versband “Primo Vere” (1879) benützt hatte. Alte Philologie und neue Technologie gingen, anders als bei den Futuristen, ineinander über.

Anfang September 1909 reiste d’Annunzio in der festen Absicht, weiteres Material für seinen aviatischen Roman zu sammeln und endlich selbst zu fliegen, nach Brescia, wo in der Heide, gegen Montichiari zu, die ersten italienischen Flugtage stattfanden. Legenden und Tatsachen sind, wie immer in seinem Falle, nicht leicht zu trennen. Er kam jedenfalls mit dem Entschluss, mit Blériot zu fliegen (damals dem berühmtesten Aviatiker, der eben den Kanal überflogen hatte), stieß aber auf taube Ohren, obwohl er ihm Verse aus seiner Elegie über Ikarus zitierte, und ließ dann auf seinem Weg durch die Flugschuppen den amerikanischen Rekordflieger und späteren Großindustriellen Glenn Curtiss fragen, ob er ihn in die Lüfte mitnehmen wollte. Curtiss, kein Kenner der italienischen Poesie, nahm ihn in seinen Flugapparat, aber nur zum Schein; d’Annunzio durfte auf einem Brett, das man links vom Rumpf plazierte (und später auf einer Auktion verkaufte) Platz nehmen, elegant und mit einer Fliegerhaube, das Flugzeug erhob sich einige Meter vom Boden und schlitterte dann gleich übers Grass. Curtiss, der es niemals liebte, Fluggäste zu haben, behauptete, der Apparat sei überbelastet gewesen. D’Annunzio machte gute Miene zum ironischen Spiele, sprach über die göttliche Erfahrung des Fliegens, und fand dann glücklicherweise, es war schon gegen Abend, einen jungen italienischen Piloten, der genauer als Curtiss wusste, wer d’Annunzio eigentlich war, und mit Mario Calderera (den er ja übrigens auch von Centocelle kannte) erhob sich dann, spät aber doch, der Poet fünfzig Meter hoch. Calderara zog eine patriotische Schleife um die Ehrentribüne, wo das Elite-Publikum die beiden, allerdings in einem amerikanischen Apparat, lebhaft akklamierte. Schade, dass Franz Kafka, der am Vortage als Zuschauer dagewesen war, die Szene nicht mehr beobachten konnte, weil er mit Max Brod und dessen Bruder Otto zum Zug nach Riva geeilt war. Drei Tage später erklärte d’Annunzio in einem Interview, er wollte ein Flugzeug kaufen, aber es ist nicht überliefert, was seine Gläubiger dazu sagten, vor denen er wenige Monate später nach Frankreich floh.

Als Italien im Sommer 1915 in den Krieg eintrat, erklärte d’Annunzio im Corriere della Sera, “Ho il dovere di combattere”, und agierte in einer futuristischen Rolle, die Marinetti eher poetisch definiert hatte. D’Annunzio inkarnierte sie; er mischte sich unter die Besatzung eines Zerstörers und eines U-Bootes und unternahm als Co-Pilot waghalsige Flüge, zuzeiten auch im Feuer der österreichischen Abwehr, über Triest, Pola und anderen adriatischen Hafenplätzen, Trient und zuletzt Wien – eine sportliche Leistung, die sogar die Wiener Arbeiterzeitung und die konservative Reichspost einmütig anerkannten. Ich will mich hier nicht ganz im Anekdotischen verlieren (so schwer mir das offenbar fällt) und lieber fragen, was für eine Art von Texten der Kriegspilot d’ Annunzio schrieb und wie sich seine Flugerfahrungen gegen seine philologischen und historischen Neigungen stellten; merkwürdig, dass er auch im Flugzeug, hinter dem Piloten sitzend, nicht aufhörte, Texte zu produzieren, die er ihm dann zuschob. Seine Ikarus-Dithyrambe (1906) war noch in der dekorativ-mythologisierenden Art geschrieben, in philologisch gelehrter Wortwahl und raren Gleichnissen (der violette Bart des Königs wie eine sidonische Traube), roteando per la luce eterna precipitai… nel profondo mare… aber die Sprache verändert sich, zum ersten Male zehn Jahre später in der Prosaschrift Notturno ( nach d’Annunzios Notlandung bei Grado und der schweren Augenverletzung), in geradezu sachlicher Melancholie über den Winternebel in Venedig, Erinnerungen an seine Mutter, das Kindheitshaus in Pescara, eine Prosa ganz ohne Pomp, Dekoration oder rhetorische Versatzstücke. Zu d’Annunzio’s futuristischen Texten zähle ich auch das technische Memorandum, das er an das Oberkommando richtete, um seinen Plan vorzulegen, wie man das deutsche Rüstungszentrum Essen durch massive Flugangriffe zerstören könnte, Entfernungen, Flugzeugtypen (mit Hilfe Capronis) und Bombenlast genau kalkuliert, und den Intentionen und den Möglichkeiten des Oberkommandos weit voraus. John Woodhouse war der erste, der unsere Aufmerksamkeit auf jene Texte hinlenkte, die d’Annunzio auf seinen Flügen improvisierte, so auf dem Flug gegen Parenzo (das erste Mal nach seiner Verletzung wieder im Flugzeug), “Höhe 2200? Ich kann sehen. / 2600? Ich kann sehen ich kann sehen / 3000? Ich sehe noch immer – hoher höher / 3400? Ich kann sehen höher / die Gruppe im Kurs auf Rovigno / tiefer auf 1600 / genau über dem kleinen Platz / vier Bomben in meiner Hand drunten / Fort! – zurück nach St Andrea”. Ähnliche parole-in-liberta auf dem Flug gegen Wien, über dem steirischen Gebirge,” das Unwetter! Gewaltige Windstösse! / 8 Uhr 35 Höhe 2850 / wir tanzen / Gewölk Geröll / Luftwirbel Strudel / Der Sog der Luft Vorwärts!”

D’ Annunzio hatte schon im Jahre 1910, in seinen Vorträgen über Aviatik, von einem Flug über Wien gesprochen, und das kriegerische Unternehmen vom 9. August 1918, eigentlich gegen die Absichten des italienischen Oberkommandos, das Verluste und Repressalien fürchtete, war eine ambivalente Affäre. D’ Annunzio war in seinem futuristischen Lebenselement, das Italianita, technologische Moderne und aviatorische Kühnheit vereinen sollte, aber seine Flugblätter, die das Geschwader über dem Graben und rund um den Stephansdom niederflattern ließ, hatten nichts von futuristischer Originalität – im Gegenteil; sie waren ein Rückfall in die alte nationalistische Phraseologie, von der wenig psychologische Wirkung auf die skeptischen Wiener zu erhoffen war (sie dachten zunächst, es handle sich um österreichische Flugzeuge, die Reklame für die neue Kriegsanleihe machten). Seine Flugblätter sprachen von dem “Adel der Latinität” und der “Brutalität der Barbaren”, und selbst die Wiener Arbeiterzeitung, die d’Annunzio als Sportler anerkannte, nannte seinen Stil “komisch” oder gar “schwülstig”; und zum Glück für die alliierte Sache warfen die Flugzeuge auch Zettel mit Texten des Literaturkritikers Hugo Ojetti ab, der auf den leeren Magen der Bevölkerung zielte. Die Polizei erklärte zunächst, die Zettel seien sofort auf dem nächsten Revier abzugeben (sonst Anklage wegen Hochverrat), aber der volle Text erschien noch in den Abendblättern, wo man die Flugblätter in Ruhe beurteilen konnte. Karl Kraus fügte in der “Fackel” hinzu, ein Flugzeug sei über Rodaun gesichtet worden, und dass sei gewiss Herr d’Annunzio gewesen, der Herrn Hugo v. Hofmannsthal einen Besuch in seiner Villa abstatten wollte.

Meine Damen und Herren, ich wollte heute den Versuch unternehmen, zwei oder drei Momente in der widersprüchlichen Entwicklung der italienischen Avantgarde genauer zu beobachten, und wie Stills, oder Standfotos, aus dem historischen Film zu lösen. Ich plädierte dafür, Marinetti, und vor ihm d’ Annunzio, in ihrer politischen and ästhetischen Opposition gegen den Parlamentarismus der Epoche Giollitis/Turatis zu sehen, Marinetti in der Nähe Enrico Corradinis und d’Annunzio eher als traditionellen Monarchisten, der sich allerdings in Fiume mit der linken Matrosengewerkschaft verbünden sollte. Es mag nicht ganz unproduktiv sein, d’ Annunzio und Marinetti zuzeiten enger zusammenzubringen, und sich nicht von futuristischen Polemik gegen den dekadenten d’Annunzio beirren zu lassen; der Dichter war, als Kriegsaviatiker, eine futuristische Figur (auch in gewissen Texten), und mehr noch als es dem eifersüchtigen Marinetti lieb sein konnte. Dabei habe ich die Frage nach dem Präfaschismus der beiden ausgespart, weil mir die übliche Antwort zu grobkörnig erscheint; sie beide, d’Annunzio und Marinetti, haben in bestimmten Momenten kollaboriert und standen dann wieder in Opposition. Ich überlasse das letzte Wort einem Zeitgenossen, Otto Basil, in der berühmten Wiener Zeitschrift “Plan”, die in Ihrer vorläufig letzten Nummer vor dem Einmarsch der Wehrmacht die Futuristen rühmte, die sich so bedeutende Verdienste um das Überleben der modernen Kunst erworben hatten.

Beitrag zur IWM-Konferenz „Das Jahrhundert der Avantgarden”, 30.11. – 2.12.2001

Tr@nsit online, Nr. 23/2002
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