Polen: Die Radikalen an der Macht

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Das politische Leben der letzten Jahre in Polen ist faszinierend und beunruhigend zugleich. Polen ist ein Staat, der stolz sein darf auf seine zahlreichen Erfolge, ein Staat, der eine besonders problembeladene Transformationsperiode hinter sich hat, in der Demokratie und Marktwirtschaft erfolgreich eingeführt wurden, ein Staat, der einen mehr als respektablen Platz in der internationalen Gemeinschaft gefunden hat. Ein Staat aber auch, der all diese Errungenschaften heute aufs Spiel zu setzen scheint, indem er sich in ein gefährliches politisches Abenteuer stürzt.

Polen: Die Radikalen an der Macht

Die rechtsgerichteten Kräfte, die bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Herbst 2005 an die Macht gelangten, sind unmittelbar aus den demokratischen Oppositionsströmungen hervorgegangen, die das nach dem Sieg über das kommunistische Regime entwickelte polnische Transformationsmodell von Beginn an scharf kritisiert haben. Ihre Identität bildete sich in politischer ebenso wie in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht an der Ablehnung dieses Modells. Um die aktuelle politische Lage in Polen zu verstehen, ist es daher wichtig, die entscheidende Epoche der Transformation näher zu untersuchen.

Das Transformationsmodell der Radikalen und warum es keine Chance hatte

Erst mit dem Sieg der Kaczynski-Brüder 2005 kam die radikale Rechte wirklich an die Macht. Warum ließ dieser Sieg so lange auf sich warten? Die Radikalen hegten ganz andere Vorstellungen vom Weg der revolutionären Umgestaltung der polnischen Gesellschaft als die Gemäßigten, die nach der Niederlage des Kommunismus die Macht übernommen hatten. Nach Meinung der Radikalen bestand die Voraussetzung für die Schaffung eines demokratischen Staates, für die Einführung der Marktwirtschaft und für die Annäherung an den Westen in der Beseitigung sämtlicher Reste kommunistischer Herrschaft und in einer klaren Abrechnung mit der Vergangenheit. Tadeusz Mazowiecki sagte in seiner Antrittsrede als Ministerpräsident jene denkwürdigen Sätze, die man ihm und anderen Gemäßigten dann oft vorgeworfen hat: »Die Regierung, die ich bilde, trägt keine Verantwortung für die ererbte Hypothek. (…) Wir ziehen einen dicken Strich unter die Vergangenheit. Wir werden nur das verantworten, was wir getan haben, um Polen aus der jetzigen Krise zu helfen.« Damit hatte er eine Politik des Übergangs angekündigt, die auf einem friedlichen und evolutionären Wege umgesetzt werden sollte. Die Radikalen aber verlangten einen radikalen Bruch mit der Geschichte vor 1989. Bemerkenswert sind die Äußerungen von Jaroslaw Kaczynski, der zwei Jahre später schilderte, was man im Herbst 1989 – als die Provinzen des kommunistischen Imperiums eine nach der anderen untergingen – hätte tun sollen und was die Gemäßigten versäumt hätten: »Man hätte den Kommunismus in Polen angreifen und gänzlich vernichten müssen. Deshalb ist [unsere] Konzeption der ›Beschleunigung‹, des endgültigen Bruchs mit dem ›Runden-Tisch‹-Abkommen entstanden. Man hätte entschiedene Maßnahmen ergreifen müssen: die Vereinigte Polnische Arbeiterpartei (PZPR) illegalisieren, den Repressionsapparat übernehmen, die Chefs der Staatssicherheit und der Partei verhaften, die Archive des Zentralkomitees, des Innenministeriums und des Verteidigungsministeriums versiegeln. Man hätte den Prozess sofort stoppen sollen, der es der Parteinomenklatur ermöglichte, sich staatliches Eigentum anzueignen, man hätte das geraubte Eigentum systematisch zurückfordern müssen.«

Jan Olszewski hat 1991 in seiner Antrittsrede als Ministerpräsident (sein Kabinett sollte nur ein halbes Jahr regieren) die bekannten Sätze formuliert: »Das Volk erwartet von uns heute eine Antwort, eine endgültige Antwort auf die Frage, wann es mit dem Kommunismus in Polen vorbei sein wird. Ich wünschte mir, dass die Bestätigung der von mir vorgeschlagenen Regierung durch das Parlament der Anfang vom Ende des Kommunismus in unserem Vaterland sein wird.« Diese Worte fielen zweieinhalb Jahre nachdem die Opposition, die – wenn auch »halbdemokratischen« – Wahlen gewonnen hatte, also lange nachdem die Mazowiecki-Regierung gebildet worden war, nach der Wahl Lech Walesas zum Präsidenten, ganz zu schweigen vom Fall der Berliner Mauer und der längst vollzogenen wirtschaftlichen und schließlich auch gesellschaftlichen Revolution in Polen.

Für die Radikalen steht bis heute die politische Macht im Mittelpunkt. Die Wirtschaft ist in den Hintergrund gerückt, und zwar so weit, dass Olszewski damals wie die Kaczynskis heute für dieses Ressort bedenkenlos Liberale ins Kabinett geholt haben.

Bis heute halten die Radikalen die nach 1989 verfolgte Politik für verhängnisvoll. Jaroslaw Kaczynski sagte vor kurzem auf dem Kongress der Partei »Recht und Gerechtigkeit« (PiS): »In Polen ist der postkommunistische Staat schlechthin entstanden, sozusagen ein postkommunistisches Monstrum. Ein Monstrum, in dem die Nomenklatura die gesellschaftliche Vorherrschaft errang, die sich sehr schnell zur politischen Vorherrschaft weiterentwickelte und die Wiedereroberung der Macht einleitete. Ein Monstrum mit einem hohen Maß an Pathologien, wie sie das vergangene System hinterlassen hatte. Die Nomenklatura gedieh im neuen System bestens und schaffte parallel zur offiziellen Ordnung ein alternatives Steuerungs­system aus verschiedenen Institutionen, insbesondere solche, die etwas mit der Güterverteilung zu tun haben, denn eben um diese Güterverteilung ging es insbesondere.« Die Abrechnung mit der Vergangenheit hatte also damals wie heute eine grundlegende praktische Bedeutung: Sie soll die innere Sicherheit garantieren und die pathologische Symbiose von Kommunismus und Kapitalismus, von Demokratie und postkommunistischer Mafia verhindern.

Moralische Aspekte und das Verlangen nach Gerechtigkeit bildeten und bilden für die Radikalen – nach der Machtfrage – das zweite Argument für eine entschiedene Dekommunisierung und Lustration. Um das Kapitel der Vergangenheit abzuschließen und den bitteren Erfahrungen von Generationen einen Sinn zu verleihen, soll die moralische Ordnung der Welt und die klare Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge, Gut und Böse wiederhergestellt werden. Für die Radikalen hat die Notwendigkeit einer moralischen und juridischen Abrechnung mit der Vergangenheit auch eine wichtige politische Dimension. Die Systemtransformation kann in ihren Augen nur dann gesellschaftliche Legitimität gewinnen, wenn sie auf einem Gerechtigkeitsgefühl basiert. Andernfalls werde die Sehnsucht nach dem Kommunismus über den demokratischen Geist obsiegen. Dieser Überzeugung liegt die Einsicht zugrunde, dass Übergangsgesellschaften hohe Kosten zu tragen haben: Arbeitslosigkeit, Senkung des Lebensstandards, drastischer Anstieg der sozialen Ungleichheit, Gefährdung der Existenzgrundlage von Millionen Menschen.

Jaroslaw Kaczynski erklärte 1994 in einem Interview, wie man in der schwierigen Zeit des Übergangs hätte handeln müssen, »in der alles durcheinander gerät, Arbeitslosigkeit entsteht, der Lebensstandard sinkt etc. (…) Wir, die wir die ›Zentrumsallianz‹ (PC) bildeten, gingen von folgender gesellschaftlichen Diagnose aus: Man darf die Gesellschaft nicht ruhigstellen, denn das würde zur Apathie führen, vielmehr muss man ihr etwas bieten, da sie großen ökonomischen Belastungen ausgesetzt ist und sich moralisch ungerecht behandelt fühlt. Einerseits muss man (…) eine große Reformbewegung für die Privatisierung initiieren. (…) Andererseits muss man dieser Gesellschaft im Rahmen der laufenden Maßnahmen möglichst rasch und möglichst viel in der moralischen Sphäre anbieten. Das ist durchaus möglich, weil es viele Gründe für die gesellschaftliche Frustration gibt, die nichts mit der Wirtschaft zu tun haben.« In der kritischen Zeit der Trans­forma­tion war es schwierig, der Gesellschaft wesentliche Verbesserungen zu versprechen. Die Radikalen wandten sich daher der Politik, der Geschichte, der Moral und der Gerechtigkeit zu. Sie griffen die Konzeption des Rechtsstaates unter den Bedingungen einer postkommunistischen Gesellschaft frontal an. Mit der Anerkennung des bestehenden Rechts verteidige man das vom alten System ererbte Unrecht, so die Radikalen. »Mazowiecki und sein Lager« , sagte Jaroslaw Kaczynski im selben Interview, »redeten ständig vom Rechtsstaat, obwohl dieses Recht dem Unrecht diente.« Die heutigen permanenten Angriffe des Regierungslagers auf das Verfassungsgericht, dem vorgeworfen wird, die alte Ordnung und das formale Recht gegen das gesellschaftliche Gerechtigkeitsgefühl zu verteidigen, setzen im Grunde genommen die Strategie vom Anfang der 90er Jahre fort.

Warum haben die Radikalen den Kampf um das Transformationsmodell verloren? Warum blieben sie so lange eine Randerscheinung? Diese Frage muss man beantworten, will man den Wahlsieg und die Rückkehr der Kaczynski-Brüder in die große Politik verstehen. Ein Grund für ihren damaligen Misserfolg ist sicher, dass ihre Ideen und Strategien die Empfindungen in der Gesellschaft der frühen 90er Jahre völlig verfehlten. Dies zeigt der verbale, die Grenze des Grotesken überschreitende Radikalismus des damaligen stellvertretenden Vorsitzenden der »Zentrumsallianz«, Adam Glapinski, der während des Wahlkampfs 1993 sagte: »Die dritte Besatzung – nach der deutschen und der sowjetischen – hält an. Die Besatzung der geheimen und offenen Agenten der kommunistischen politischen Polizei.« Ab und zu zeigte die Parteispitze aber auch Einsicht in die Gründe, warum die eigene Strategie unzeitgemäß war. Ludwik Dorn, heute Vizepremier und Innenminister, hatte in den Zeiten der politischen Isolation der Radikalen geschrieben: »Seit 1989 haben wir eine ziellose, träge und apathische Revolution.« Als »kollektiven Sinn« der polnischen Gesellschaft bezeichnete er die Gier, Vermögen anzuhäufen. Die Regierung charakterisierte er als »Bastard-Korporatismus« (analog zum Bastard-Feudalismus). Es sei eine Gesellschaft entstanden, die auf der Basis quasikorporativer Verträge funktioniere. In der Folge komme es zu einem Autonomieverlust des Staates gegenüber der Zivilgesellschaft. »Während das Ziel der Dissidenten darin bestanden hatte, eine Zivilgesellschaft aufzubauen, besteht das Grundproblem von heute im Autonomieverlust des Staates zugunsten einer nach den Gesetzen des Bastard-Korporatismus organisierten Gesellschaft.« Das ist nicht die Analyse eines Extremisten, sie ist auch nicht irrational. Sie belegt, dass es für die Radikalen im damaligen Polen in der Tat keinen Platz gab. Die Hauptgründe dafür lagen aber in etwas anderem: Die Hypothesen, auf die sich die Strategie der Radikalen stützte, hatten nichts mit der polnischen Wirklichkeit zu tun, und zwar in zweierlei Hinsicht:

Zum ersten stellte sich heraus, dass Polen seine Sicherheit und seine Stellung in der Welt festigen, sich an die NATO, an Amerika und die Europäische Union binden konnte, ohne eine innere Revolution zu vollziehen, wie die Radikalen sie forderten. Wer sieht heute noch in der neuen Verfassung eine Gefährdung der nationalen Sicherheit? Die internationale Stellung Polens, seine Autorität und seinen Einfluss in der unmittelbaren Umgebung verdankt Polen vor allem dem engen Bündnis mit den USA zu Beginn des Irak-Krieges (dessen entschiedener Gegner ich war und bin), dem EU-Beitritt und auch seinem offenen politischen Engagement für die Orange Revolution in der Ukraine. Den heutigen Zustand der polnischen Außenpolitik will ich hier nicht bewerten. Es genügt, Jaroslaw Kaczynski zu zitieren, der Anfang Juni 2006 verkündete: »Das Außenministerium wurde zurückerobert« . Dieser Brückenkopf wurde von einer Partei »zurückerobert«, die seit vergangenem Herbst regiert und über eine Macht verfügt, die bisher keine Partei nach 1989 errungen hat! Dass ihre Außenpolitik heute eher Misserfolge vorzuweisen hat, ist die Folge fehlender Flexibilität, einer auf Konfrontation angelegten Haltung, einer Politik falsch verstandener Würde, mangelnden Verhandlungsgeschicks und mangelnder Fähigkeit, Verbündete zu gewinnen.

Auch die zweite, wichtigere Annahme der Radikalen hat sich als falsch erwiesen. Sowohl die Kaczynskis als auch z.B. Olszewski nahmen an, dass es nicht gelingen könne, Polen im Zuge der Transformation ohne eine begleitende Sinnstiftung durch das unvermeidliche »Tal der Tränen« (Ralf Dahrendorf) zu führen. Angesichts steigender Arbeitslosigkeit, sichtbarer Armut und drastisch anwachsender sozialer Ungleichheit, angesichts dessen, dass die Helden der polnischen Solidarnosc-Revolution nicht nur ihrer Arbeit sondern auch ihrer Würde beraubt worden waren, fasste die Soziologin Hanna Swida-Ziemba in einem Interview die Enttäuschung so zusammen: »Die Menschen sollten sich als Helden dieser Transformation und nicht als Bettler um soziale Absicherung verstehen.« In der Tat ließ in den entscheidenden Übergangsjahren die Arroganz der Macht, ihre Unfähigkeit, Ursachen und Notwendigkeit der Systemtransformation zu erklären viele denken: Nicht nur, dass sie uns betrogen haben, jetzt beleidigen sie uns auch noch, indem sie uns eine Homo sovieticus-Mentalität unterstellen.

Nach Ansicht der Radikalen war die anwachsende politische und gesellschaftliche Krise nicht durch Aufrufe zur Selbstbereicherung, zu individueller Anstrengung und zum Karrieremachen zu kurieren. Zur Illustration zwei Beispiele: Die Privatisierung der ersten staatlichen Unternehmen war von der Losung begleitet: »Erkenne die Kraft deines Geldes!«; die Freiheitsunion, die führende Transformationspartei im Parlament, verschrieb den Bürgern Clintons Parole: »Es ist die Wirtschaft, Dummkopf!«. Solche Losungen belegen deutlich genug die damalige Verblendung der technokratischen Elite. Auf diese Weise, so die Radikalen, lasse sich das Gerechtigkeitsgefühl nicht beschwichtigen, das wachsende Gefühl der Entfremdung nicht überwinden – in einer Zeit, in der eine Umfrage nach der anderen zeigte, dass die Gesellschaft glaubte, von der Systemtransformation profitierten vor allem die alten und neuen Eliten – auf Kosten der Arbeiter und Bauern. Was also war zu tun, um das Gerechtigkeitsgefühl zu befriedigen? Eine Forderung der Radikalen war Dekommunisierung und Lustration, um den Staat zu säubern und den Rechten der Opfer der alten Ordnung Genüge zu tun. Eine andere war der Kampf um die Erinnerung, mit dem Ziel, die Verantwortung der Kommunisten für den Zustand des Landes aufzuzeigen. Von daher rührt übrigens die Beliebtheit des aus dem Deutschen übernommenen Begriffs der »Geschichtspolitik« bei den Radikalen.

Man kann also sagen, dass die Radikalen nach 1989 klar erkannt haben, welches Drama die Transformation für einen Großteil der Gesellschaft bedeuten würde. Dennoch haben sie den Kampf um die Führung damals verloren. Zum einen hätte ihr Weg unvermeidlich zurück in die Vergangenheit, zu Konflikten und zur Infragestellung oder zumindest Verzögerung der Transformation geführt. Zum andern stellte sich heraus, dass die Gemäßigten sehr wohl imstande waren, das umzusetzen, was Politiker der radikalen Rechten, aber auch viele westliche Experten für unmöglich hielten, nämlich die gleichzeitige Einführung demokratischer und marktwirtschaftlicher Reformen. Darauf werden wir im Folgenden näher eingehen. Der Preis ihres Erfolgs ist, wie sich heute zeigt, allerdings hoch: Es ist ein tiefsitzendes Gefühl gesellschaftlicher Entfremdung entstanden, das Vertrauen in die demokratischen Institutionen ist gesunken und die Bedeutung radikaler Parteien ist gewachsen – entscheidende Faktoren, die zur politischen Wende vom Herbst 2005 führten.

Die Dilemmata der Transformation und warum das Modell der Gemäßigten trotzdem Erfolg hatte

Bleiben wir noch ein wenig bei der Problematik des wirtschaftlichen und politischen Übergangs in Polen nach 1989. Sie ist auch aus theoretischer Perspektive sehr interessant. Sowohl in Polen als auch bei vielen führenden westlichen Experten herrschte die Meinung, wirtschaftliche Liberalisierung (d.h. die Transformation der Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft) und Demokratisierung (d.h. die Transformation eines Einparteiensystems in ein pluralistisches, liberales, demokratisches System) könnten nicht gleichzeitig durchgeführt werden. Der Gedankengang der Skeptiker war einfach: Die Wirtschaftsreformen ziehen hohe gesellschaftliche Kosten nach sich, d.h. bringen Arbeitslosigkeit, Armut, Zukunftsangst und gesellschaftliche Destabilisierung mit sich und können eine Verbesserung der materiellen Lage erst nach einigen Jahren in Aussicht stellen. Zugleich ermöglicht es die Demokratie gesellschaftlichen Kräften und Gruppen, die sich von den Reformen bedroht fühlen, sich zu organisieren, um diese zu blockieren. Viele sagten eine Katastrophe voraus, wenn das Prinzip der Gleichberechtigung der Bürger in einer demokratischen Gemeinschaft auf Marktkräfte trifft, die Ungleichheit und – nach der relativen Gleichheit in der kommunistischen Zeit – ein subjektives Gefühl starker Ungerechtigkeit schaffen. Besonders in Polen schien dies Sprengstoff zu sein, denn diejenigen, die den höchsten Preis für die Modernisierung zahlten, waren zugleich jene, die zusammen mit der Solidarnosc wesentlich zum Untergang des alten Systems beigetragen hatten.

Von der Vielzahl der damaligen pessimistischen Prophezeiungen führen wir hier eine von links und eine von rechts an. Der namhafte polnisch-amerikanische Soziologe Adam Przeworski schrieb 1990: »Sobald die antikommunistische Euphorie verflogen sein wird und es zur politischen Organisierung von Interessenkonflikten kommt, wird die Politik in Osteuropa eine Form annehmen, die für den ›armen Kapitalismus‹ kennzeichnend ist. Es gibt keinerlei Gründe dafür, warum die Verhältnisse in Bulgarien, Ungarn oder Polen andere werden sollten als in Argentinien, Chile oder Brasilien (…) Die Faktoren, die die Demokratie begünstigen, werden sich gleichzeitig zuungunsten wirtschaftlicher Reformen auswirken, wie sie in Ungarn, Polen und Jugoslawien bereits im Gange sind und von anderen Ländern ins Auge gefasst werden. Diese Reformen versprechen nicht nur radikal zu werden – nichts Geringeres als der Übergang vom Sozialismus zum Kapitalismus –, sondern auch außerordentlich schmerzhaft. Und die Erfahrung anderer Länder lehrt, dass solche Reformen unter demokratischen Verhältnissen schwer zu bewerkstelligen sind. Sie mobilisieren den Widerstand derjenigen, die am meisten zu verlieren haben: Das sind die Manager der geschützten oder subventionierten Firmen, die Arbeiter, die vor der Entlassung stehen, und die zahllosen Menschen, die den Abbau der Aufwendungen für Einkommenssicherung und Sozialleistungen fürchten.« Przeworski war nicht der einzige Experte, der damals prophezeite, Polen würde schließlich zusammen mit anderen Ländern aus der Region in der Dritten Welt landen.

Und der britische Philosoph John Gray (inzwischen kein begeisterter Anhänger von Frau Thatcher mehr) schrieb damals: »Die menschlichen und sozialen Kosten des Übergangs zur Marktwirtschaft sind für die meisten postkommunistischen Länder so hoch, dass es an Wahnsinn grenzen würde anzunehmen, er könnte im Rahmen liberal-demokratischer Institutionen vollzogen werden.« Er hielt die Rekonstruktion des Staates, die Herstellung der Ordnung, das Erzwingen von Respekt vor dem Gesetz für vorrangig. Das unterschied ihn nicht von den Ansichten vieler unserer Liberaler zu Anfang der 1990er Jahre. Mehr oder weniger offen zweifelten sie daran, dass grundlegende Wirtschaftsreformen im Rahmen der Demokratie durchgesetzt werden könnten.

Damit stellt sich die Frage: Warum erreichten die Gemäßigten nach 1989 dennoch einen großen historischen Erfolg – allem Pessimismus zum Trotz, und obwohl sie ihre Strategie nie ordentlich formuliert hatten? In ihren Kreisen dominierten eine pragmatische Sprache, relativ billige moralische Prinzipien und der Technokratismus eines Leszek Balcerowicz. Es stand keinerlei politische Sprache für die Interpretation dessen zur Verfügung, was sich vollzog. Und trotzdem siegte die intuitive Strategie der Gemäßigten! In der wissenschaftlichen Literatur, in der zeitgenössischen Publizistik und in den Äußerungen der Politiker lassen sich zahlreiche Erklärungen dafür finden, warum es zu keinem Zusammenstoß der Logik der Marktwirtschaft mit der Logik der politischen Demokratie gekommen ist. Gehen wir auf einige Argumente genauer ein.

Ein wichtiger Faktor und zugleich Startkapital der Reformer war die in Polen besonders starkeAblehnung des alten Systems. Der »reale Sozialismus«, der seinen Bürgern allgemeine Misere, leere Regale, Hyperinflation und den Kriegszustand von 1981 beschert hatte, war eine große Chance für die Reformer. Seine Niederlage trug dazu bei, alles zu kompromittieren, was auch nur im Entferntesten an sozialistisches Gedankengut gemahnte. Der Liberalismus wurde so für viele Jahre unangefochtener Monopolist auf dem Ideenmarkt. Zwar entfachte er keinen Enthusiasmus, aber die Gegenkräfte hatten kein glaubwürdiges Programm, das die Menschen hätte mobilisieren und ihnen Hoffnung geben können. Die postkommunistische Linke, die in den Jahren von 1993 bis 1997 und von 2001 bis 2005 die Macht übernahm, konnte keine ideologische Alternative anbieten und setzte das liberale Reformprogramm schlicht fort. Durch ihren »Verrat« am Sozialismus zugunsten von Demokratie und Markt blockierte die Linke paradoxerweise den Zusammenschluss der Reformgegner und trug dazu bei, den nostalgisch zurückblickenden Teil ihrer Klientel in die Gesellschaft einzubinden.

Auch das Chaos auf der Ebene der Erkenntnis und der Werte, die komplexen Prozesse von Zerfall und Neuformierung und die Herausbildung gesellschaftlicher Interessen trugen wesentlich dazu bei, den gesellschaftlichen Widerstand gegen den Wandel zu neutralisieren. Ironischerweise rechtfertigte die alte marxistische Allgemeinbildung die schlimmsten Aspekte der Transformation. Stephen Holmes beschrieb das »kognitive Vermächtnis« des Marxismus als »Stoßdämpfer« , der »die mit einer neuen Situation verbundenen Ängste mildert und das öffentliche Verlangen nach paranoiden Narrativen der Schuldzuweisung mindert«Die marxistische Darstellung des »Raubtierkapitalismus« beschrieb die schlimmsten Auswüchse zu Beginn der Transformation gar nicht so schlecht.

Widerstand und Unzufriedenheit wurden auch durch das verhältnismäßigniedrige Niveau der gesellschaftlichen Erwartungengedämpft. Nach dem Kommunismus waren utopische Ideen ohne Chance. Die Menschen akzeptierten die Systemtransformation voller Hoffnungen, sie waren vielleicht entmutigt oder zornig, aber sie erwarteten keine Wunder von den Regierenden.

Zweifellos spielte bei der Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen und politischen Stabilität des Landes die Angst vor dem Gespenst der Gewalt eine wichtige Rolle. Rufen wir uns in Erinnerung, dass in allen post­kommu­nisti­schen Ländern, sogar dort, wo der gesellschaftliche Preis der Systemtransformationen ungleich höher war als in Polen, die einzigen ernsthaften gesellschaftlichen Unruhen, Aufstände oder Bürgerkriege nicht mit gesellschaftlichen oder politischen, sondern mit nationalen, ethnischen oder religiösen Fragen zusammen hingen.

Zur Stabilisierung der polnischen Systemtransformation trug auch wesentlich bei, dass unsere Hoffnungen sich auf den Westen richteten und Polen immer stärker in die euroatlantische Welt hineinwuchs. Das Ziel einer geradezu mythischen »Rückkehr nach Europa« zähmte noch die radikalsten Teile der Elite, denn ihnen war bewusst, dass es außer der eigenen Gesellschaft noch weitere – ausländische – Instanzen gab: die Regierungen der USA und der EU-Staaten, der Europarat und die Weltbank, der Internationale Währungsfonds und die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung. Erst nach dem Erfolg des EU-Beitritts fühlte sich die neue rechte Elite sicher genug, ihre Oppositionshaltung oder gar Feindschaft gegenüber der EU zu manifestieren, ohne auf die gesellschaftliche Stimmung zu achten. Polen ist heute als EU-Mitglied paradoxerweise unabhängiger von der EU als während der Assoziationsphase, in der es die ihm gestellten Bedingungen respektieren musste.

Es gab auch ambivalente Stabilisierungsfaktoren der Transformation. Dazu zählt die Atomisierung der Gesellschaft, ein Erbe aus der kommunistischen Zeit. Sie reichte in Polen – wie die Soziologen zeigen können – tiefer als in anderen Ländern der Region und drückte sich im geringen gegenseitigen Vertrauen der Polen untereinander und im noch geringeren Vertrauen in die Mächtigen aus sowie im schwachen Organisationsgrad der Gesellschaft – trotz einer starken katholischen Kirche und trotz der Solidarnosc-Tradition. Die Unfähigkeit, sich auf kollektive Aktivitäten einzulassen, gepaart mit der Angst vor der Zukunft und dem Gefühl der Alternativlosigkeit gegenüber den Reformen, führten zu einer »Diffusion der Konflikte« . Die gesellschaftlich kostspieligen Reformen konnten also auch deshalb durchgesetzt werden, weil der Spielraum für die Opposition gegen sie, den die demokratischen Institutionen boten, nicht voll in Anspruch genommen wurde.

Ein weiterer Stabilisierungsfaktor negativen Typs war die Entpolitisierung der Entscheidungsprozesse. Die Reformentwürfe waren nicht das Ergebnis einer breiten gesellschaftlichen Debatte, in der die verschiedenen Gruppeninteressen verhandelt und die unterschiedlichen politischen Kräfte miteinander konfrontiert worden wären. Vielmehr waren sie Resultate einer voluntaristischen Politik der Elite, die von westlichen Experten beraten wurde (die Rolle von Jeffrey Sachs kann man hier gar nicht überschätzen, sie wird von unseren Transformationshelden absichtlich verschwiegen). Obwohl die demokratischen Institutionen formal ihre Funktionen wahrnahmen, konnten die Regierungen ihre Entscheidungen treffen, ohne von der Öffentlichkeit und den politischen Kräften kontrolliert zu werden. Karol Modzelewski, einer der wichtigsten und verdientesten Vertreter der Opposition vor 1989, später radikaler, linker Kritiker der eingeschlagenen Politik, schrieb klar und illusionslos: »Die Kader-Solidarnosc von 1989, die nicht länger durch die Aktivität, den Druck, die Kontrolle und die Interessen ihrer gesellschaftlichen Basis gestört wurde, gleichzeitig aber über eine immer noch enorme Autorität verfügte, konnte sich für den Balcerowicz-Plan entscheiden und ihn verwirklichen.« Generell war die Unterentwicklung der politischen Sphäre eine wesentliche Voraussetzung für die »Entscheidungsfreiheit« der Eliten in den postkommunistischen Ländern. Es war die Schwäche der Parteien, der gesellschaftlichen Organisationen, der Interessengruppen und sozialen Bewegungen, die den Mächtigen in den neuen Demokratien einen enormen Spielraum verschaffte, auch in Polen.

Die erwähnten Faktoren erklären zumindest teilweise, warum wir es nicht mit dem befürchteten Teufelskreis von Selbstzerstörung zu tun bekommen haben, hervorgerufen durch die Gleichzeitigkeit von Demokratisierung und ökonomischer Liberalisierung; sie erklären, warum es möglich war, die demokratischen Einrichtungen unter den schwierigen Bedingungen des Übergangs aufrechtzuerhalten, ja sie sogar zu stärken. Für die Anfangsphase können wir von einem »demokratischen Theater« der Elite sprechen, die die Demokratie nicht in Frage stellte, obwohl es hier und da Versuchungen dazu gab. Solange der demokratische Gehalt der demokratischen Institutionen schwach war, lag die tatsächliche Macht und Initiative bei der modernisierenden, pro-westlichen neuen Elite . Dieser Dualismus erlaubte es, eine echte ökonomische und gesellschaftliche Revolution zu vollziehen und dabei die demokratischen Institutionen beizubehalten und mit der Zeit zu stärken.

Fassen wir zusammen: Der Erfolg der polnischen Transformation beruht auf der Kompromittierung des Kommunismus, der Faszination durch den Westen und der Abhängigkeit von ihm, der Demobilisierung und Entfremdung der Gesellschaft und der Entpolitisierung von Entscheidungen, die mit Sachzwängen begründet und breit akzeptiert wurden. Die Radikalen hingegen scheiterten, weil sie dem Volk ein revolutionäres Spektakel spendieren wollten, ohne dass sie einen überzeugenden Entwurf in der Tasche gehabt hätten. Unter Berufung auf die Geschichte wollten sie der Gesellschaft eine Spaltung in Exkommunisten und ihre Verbündeten auf der einen Seite und gute Polen auf der anderen aufzwingen, während die Menschen sich auf den täglichen Existenz- und Überlebenskampf konzentrierten, davon träumten, die Wunden der Vergangenheit verheilen zu lassen, und jegliche Gewalt, auch verbale, verabscheuten. Einer eben befreiten Gesellschaft wollten sie eine rigoristisch interpretierte katholische Ethik überstülpen.

Die Rückkehr der Radikalen

Dass sich die überwiegend positive Einstellung der polnischen Gesellschaft gegenüber dem Gesellschaftswandel nach 1989 in den letzten Jahren verändert hat, hat vielfältige Gründe.

Die großen Erfolge der vergangenen Jahre gelten heute als selbstverständlich, und niemand stellt sie in Frage. Auch die massive Befürwortung des EU-Beitritts zeigt, dass die Politik der vergangenen Jahre weitgehende Zustimmung findet. Damit einher geht jedoch eine pessimistische Wahrnehmung von Staat, Verwaltung, politischer Klasse und Justizapparat. Das politische System wird als zutiefst bürgerfern wahrgenommen. Hohe Arbeitslosigkeit, wachsende Einkommensunterschiede und allgemeine Korruption verstärken dieses Gefühl.

Die zahlreichen Staatsaffären der letzten drei Jahre trugen zum Zusammenbruch der aus der KP hervorgegangenen Linken bei und verschafften radikalen Kräften mit pararevolutionärer Programmatik Auftrieb. Das gilt für die Partei »Recht und Gerechtigkeit« (PiS) der Brüder Kaczynski, aber auch für die zwei kleineren, dafür radikaleren Formationen, die den Wandel nach 1989 und den EU-Beitritt rundweg ablehnen: die populistische »Selbstverteidigung« (Samoobrona) und die traditionalistische, katholisch-nationalistische »Liga Polnischer Familien« (LPR). Nach sechs Monaten PiS-Minderheitsregierung bilden diese drei Formationen heute gemeinsam die Regierung, die damit über eine solide Mehrheit im Parlament verfügt.

Diejenigen Parteien aber, die seit den Tagen des »Runden Tisches« die Modernisierung des Landes vorangetrieben haben, fegte der Wähler von der politischen Bühne oder dezimierte sie so, dass sie nur noch ein Dasein am Rande fristen. Davon betroffen sind vor allem die »Wahlaktion Solidarität« (AWS), die »Demokratische Partei« (früher Freiheitsunion) und die postkommunistische »Allianz der Demokratischen Linken« (SLD). Politisch führend sind heute die Partei »Recht und Gerechtigkeit« (PiS) und die liberalkonservative »Bürgerplattform« (PO) in der Opposition. Die marginalisierte SLD auf der Linken, die LPR und die »Samoobrona« auf der Rechten sowie die kleine Bauernpartei PSL vervollständigen das Bild. Von diesen Parteien reklamiert nur die moralisch diskreditierte SLD die Reformen der Vergangenheit für sich, während die PiS, die LPR und die Samoobrona sie radikal ablehnen. Die zweitgrößte Parlamentsfraktion PO trat zu den Wahlen mit den radikal kritischen Parolen der Jahre nach 1989 an – obwohl nicht wenige PO-Führer an den Reformen beteiligt waren – , nuancierte ihre Position indes nach den Wahlen. Insgesamt kann man also sagen, dass die polnische Politik heute von Parteien beherrscht wird, die den in den Jahren 1989-2005 erfolgten Wandel ablehnen, auch wenn die Brüder Kaczynski nicht umhin können, einigen Errungenschaften dieser Zeit zumindest verbal Tribut zu zollen.

Im Übrigen hat sich ihre Kritik im Laufe der Zeit nicht unerheblich verändert. Anfang der 1990er Jahre konzentrierten sie sich auf den Umgang mit dem kommunistischen Erbe. Ihr Hauptargument war, dass die Kommunisten mangels eines klaren Bruchs mit der Vergangenheit »ihr kollektives Machtmonopol gegen individuelle Eigentumstitel einzutauschen« vermochten. Sie hätten es verstanden, die Mechanismen der Demokratie und der Marktwirtschaft für sich auszunutzen. Sie hätten die öffentliche Verwaltung unter ihre Kontrolle gebracht und in Armee, Polizei, Medien und Wirtschaft Schlüsselpositionen besetzt. Wer aber keine Beziehungen zur Nomenklatura besessen hätte, der hätte ungleich geringere Chancen gehabt. Zwar hat diese Kritik am kommunistischen Erbe nach wie vor einen hohen Stellenwert, doch der Schwerpunkt der Angriffe verlagerte sich auf die Fehlentwicklungen der Transformationsperiode, vor allem in den Bereichen Wirtschaft, Recht und Institutionen. Die Kritik richtet sich nicht mehr nur gegen die postkommunistische Elite und die mit ihr verbandelten Unternehmerkreise, sondern auch gegen die aus der demokratischen Opposition hervorgegangene Elite, die den Transformationsprozess der neunziger Jahre maßgeblich gestaltete.

Die neueste Akzentverschiebung geht in Richtung Antimodernismus. Deutlich wird diese Tendenz am Kulturtraditionalismus, an der Betonung besonders enger Beziehungen zum national-konservativsten Teil der katholischen Kirche, am erklärten Krieg gegen freizügige Sitten, an den Versuchen, die künstlerische und die Meinungsfreiheit im Namen des gesunden Volksempfindens einzuschränken. Aber auch in der Wirtschaftspolitik ist eine antiliberale Orientierung anzutreffen, etwa in der Reserve gegen Privatisierungen oder in der Befürwortung von Steuererleichterungen. Auch die argwöhnische Haltung gegenüber der Europäischen Union gehört in diesen Zusammenhang.

Die Kritik der regierenden Rechten am Polen der Jahre 1989-2005 stellt einen Angriff auf die Fundamente der freiheitlichen Demokratie in Polen dar. Glaubt man der PiS und ihren Verbündeten, gründet die polnische Demokratie auf wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheit. Das Entwicklungsmodell eines egoistischen Kapitalismus habe der Volksgemeinschaft geschadet, den Gemeinsinn zerstört und zur Verbreitung antisozialer Haltungen beigetragen. Gegen die wachsende Kriminalität und Sozialpathologien aller Art zu verteidigen seien nicht in erster Linie die Individuen und Minderheiten, sondern die Nation, und zwar durch eine Stärkung des Staates. Er stehe in der Verantwortung, den Augiasstall auszumisten und mit dem kommunistischen Erbe der sündhaften Jahre nach ’89 aufzuräumen. Vorrangig nötig sei eine Stärkung traditioneller Wertvorstellungen und eine Stärkung des staatlichen Repressionsapparats zur Bekämpfung von Delinquenz und Wirtschaftskriminalität. Dabei werden folgende Maßnahmen ins Auge gefasst: die Schaffung polizeilicher Sondereinheiten zur Korruptionsbekämpfung, die jedweder parlamentarischer Kontrolle entzogen sein sollen, die Bildung einer mit nahezu unbegrenzten Ermittlungsbefugnissen ausgestatteten Sonderkommission zur Aufklärung von Amtsmissbräuchen in den letzten 16 Jahren, auch im Bereich der Privatisierungen, die Schaffung eines Untersuchungsausschusses zur Entwicklung des Bankenwesens seit 1989 – er könnte sich rasch in eine Anklageinstanz gegen die zurückliegenden Reformen auswachsen – und die Schaffung einer Sonderkommission für die öffentlichen und privaten Medien, um deren Objektivität zu untersuchen.

Die Philosophie der neuen Machthaber fußt auf einer antiliberalen Grundeinstellung. Die Hypertrophie der Menschen- und Bürgerrechte, die Schaffung von politisch unabhängigen Institutionen, die gesetzlich geregelte Einschränkung staatlicher Handlungsfreiheit – all dies lähme den Staat und seine Fähigkeit zur Bekämpfung sozialpathologischer Symptome. Daher auch die systematischen Anstrengungen, zahlreiche institutionelle Errungenschaften der letzten 16 Jahre wieder zurückzunehmen.

Die Verteidigung der Menschenrechte mobilisiert heute nicht mehr so viel Energie wie früher. Symbolisch dafür steht die Ernennung eines Juristen zum Sprecher für Bürgerrechte, der offen für die Wiedereinführung der Todesstrafe eintritt, die Menschenrechte als »Opium fürs Volk« bezeichnet und sich hinter die Regierung stellt, wenn sie Demonstrationen der Homosexuellen für Gleichbehandlung verbietet, weil diese angeblich die öffentliche Ordnung stören.

Der Verfassungsentwurf der PiS sieht die Abschaffung des Geldpolitischen Beirats vor, eine unabhängige Institution, die diesen sensiblen Bereich vor den Launen und Fluktuationen der Exekutive schützt. Ersatzlos gestrichen werden soll auch der Rundfunk- und Fernsehrat, der über die Unabhängigkeit der Medien wacht. Darüber hinaus ist ein Gesetzesentwurf in Arbeit, der die Autonomie der Beamtenschaft abschaffen will, die bislang vor einer Politisierung der Verwaltung schützte.

Mit Verleumdungskampagnen gegen bekannte Persönlichkeiten, darunter Juristen, Journalisten und einige Bischöfe, die es wagten »Radio Maria« zu kritisieren, sucht man das Vertrauen zu zerstören, das diese Gruppe bei weiten Teilen der Bevölkerung besitzt. In die Schusslinie gerät, wer immer sich dafür einsetzt, Machtbefugnisse der Regierung zu begrenzen. In vielen Bereichen instrumentalisiert die Regierung das Justizwesen, um ihre Ziele durchzusetzen. So kündigte Kaczynski unumwunden an, dass das Verfassungsgericht mit politisch genehmen Juristen besetzt werden soll, was in ein bis zwei Jahren dazu führen wird, dass diese Institution, die immerhin der Garant rechtsstaatlicher Verhältnisse ist, vollständig unter der Kontrolle der Regierung stehen wird.

Mit ihren engen Beziehungen zu den konservativsten und nationalistischsten Kreisen der katholischen Kirche, die in »Radio Maria« ihr Propagandaorgan haben, stellt die Regierung die Trennung zwischen Kirche und Staat in Frage, die Anfang der 1990er Jahre friedlich vollzogen und von der Mehrheit der Bevölkerung gutgeheißen wurde. Sogar im polnischen Episkopat sorgt diese Politik für Beunruhigung, befürchtet man doch eine Politisierung der Kirche und eine mögliche Spaltung. Dies erklärt auch die deutlichen Stellungnahmen der Kirchenführung gegen das politische Engagement von »Radio Maria«, indirekt also auch gegen die regierende Partei, die den Rundfunksender als Machtmittel einsetzt und damit die innerkirchlichen Spannungen schürt und die Einheit der Kirche gefährdet. Denselben Zweck verfolgte ein Schreiben des Vatikan, welches das politische Engagement der katholischen Medien zum Gegenstand hat und das von vielen als Kritik an »Radio Maria« und den mit diesem Sender verbundenen Kreisen der polnischen Kirche verstanden wird.

Obwohl nun in Amt und Würden, tragen die Radikalen in vielerlei Hinsicht noch immer die Züge einer Oppositionspartei, die die Unzufriedenheit der Bevölkerung ausnützt und die Situation des Landes bewusst in apokalyptischen Farben malt. Indem sie dem Liberalismus die Vision eines »solidarischen Polen« entgegensetzt, appelliert die PiS an tief verwurzelte Traditionen und das Bedürfnis nach Gemeinschaft und Sicherheit. Sie weckt alte Ängste, die mit der problembeladenen und mitunter tragischen Geschichte der Nachbarschaft zu Deutschland und Russland zusammenhängen. Sobald von diesen beiden Ländern die Rede ist, werden Vokabeln des Misstrauens, der Verdächtigung und der Konfrontation bemüht. Die PiS und ihre Verbündeten kalkulieren mit dem Nationalstolz und der Identifikation der Polen mit ihrem Staat. Das Handeln der PiS und der von ihr kontrollierten Institutionen ist durch einen Patriotismus geprägt, der auf einer sehr traditionellen Auffassung nationalstaatlicher Souveränität beruht und vor allem über die öffentlichen Medien vermittelt wird. Mitunter schlägt dieser Patriotismus in offenen Nationalismus um.

Die regierende PiS ist ausgesprochen europaskeptisch. Obwohl sie durchaus weiß, dass Polen der größte Nutznießer der EU-Hilfe ist, zählt sie in Europaangelegenheiten den tschechischen Staatspräsidenten und EU-Skeptiker Vaclav Klaus zu ihren Verbündeten. Die Beziehungen zwischen Polen und Brüssel haben sich nach dem EU-Beitritt Polens deutlich verändert. Wie bereits erwähnt, besaß die EU vor dem Beitritt der Neumitglieder paradoxerweise viel weitreichendere Kontrollmöglichkeiten über deren Politik als heute und konnte die Transformationen in Politik, Wirtschaft und Recht besser überwachen. Ein Teil der politischen Klasse empfand dies als Demütigung, sollte der Regimewechsel von 1989 doch die lang ersehnte nationale Souveränität bringen. Nach dem Beitritt aber hatte es die EU mit Vollmitgliedern zu tun, auf die sie nicht mehr so viel Druck ausüben konnte. Die radikaleren Teile der politischen Klasse erlebten dies als Befreiung, was beispielsweise in der Ablehnung der EU-Verfassung zum Ausdruck kam. Noch deutlicher zeigte sich dies in innenpolitischen Fragen. Als die PiS mit den »Samoobrona«-Populisten und den LPR-Extremisten die Regierung bildete, konnte sie davon ausgehen, dass die anderen EU-Mitglieder nicht mit einem Boykott reagieren würden. Der unglückliche Ausgang der Sanktionen gegen Österreich, als Kanzler Schüssel mit Haiders Populisten eine Koalitionsregierung eingegangen war, ist noch in lebhafter Erinnerung.

Der jüngste Machtwechsel in Warschau gibt Anlass zur Beunruhigung. Wie sich Polen in den kommenden Jahren entwickeln wird, ist schwer zu sagen. Wie sollte man Voraussagen für die fernere Zukunft wagen, wo bereits die ersten Monate der Amtszeit der Radikalen so viele Probleme aufwerfen? Hervorstechende Merkmale dieser Regierung sind ihr Verbalradikalismus, ihre unermüdlichen Angriffe auf verschiedene Gruppen der Gesellschaft, die Ankündigung alles entscheidender Veränderungen bei gleichzeitiger Untätigkeit im wirtschaftlichen und sozialen Bereich. Letztere erklärte sich aus der Tatsache, dass die PiS lange keine parlamentarische Mehrheit besaß. Seit dem 5. Mai 2006 hat sich dies geändert. Nicht vorhersehbar ist auch, welche Lösung die Spannung finden wird zwischen – auf der einen Seite – der trotz aller Misslichkeiten wachsenden Zufriedenheit der Polen mit ihrem individuellen Schicksal, ihrem Land und seiner Integration in die EU, und – auf der anderen Seite – einer Regierung aus Parteien, deren Legitimität und Programm in der Ablehnung eben jener Veränderungen wurzeln, die zu diesen positiven Ergebnissen geführt haben.

Die derzeit regierenden Parteien haben die Wahl: Entweder sie finden sich mit der polnischen Wirklichkeit ab, oder aber sie träumen ihren Traum vom unbefleckten, stets rebellischen Polen weiter, das sich weder durch die Anwesenheit von »Kommunisten« noch durch die Vorherrschaft des Westens mit seinen postmodernen, relativistischen, postchristlichen Werten beeindrucken lässt. Viele Polen mögen diesen Traum noch eine Weile mit ihrer Regierung teilen – bis sie ihre Gefolgschaft aufkündigen und wieder auf den ebenso beschwerlichen wie notwendigen Weg der Mäßigung und Modernisierung zurückkehren.

Warschau, im Juni 2006

Übersetzt aus dem Französischen von Bodo Schulze (Einführung und letztes Kapitel) und aus dem Polnischen von Ewa Czerwiakowski und Ruth U. Henning (Mittelteil)


Anmerkungen

»Czas na zmiany« (Zeit für einen Umbruch). Michal Bichniewicz und Piotr M. Rudnicki im Gespräch mit Jaroslaw Kaczynski, Warschau 1993, S. 26.

Rzeczpospolita vom 23.12.1991.

Gazeta Wyborcza vom 4.6.2006.

Jaroslaw Kaczynski, »Nowa Polska czy jeszcze stara?«, (Ein neues Polen oder noch das alte?), Interview mit Teresa Toranska in ihrem Sammelband My (Wir), Warschau 1994, S. 115.

Zycie Warszawy vom 16.8.1993.

Zycie Warszawy vom 7.10.1993.

A. Przeworski, »Spiel mit Einsatz. Demokratisierungsprozesse in Lateinamerika, Osteuropa und anderswo«, in: Transit – Europäische Revue 1 (1990), S. 190-211. Vgl. auch den ebenso skeptischen Beitrag von Janos M. Kovacs »Das Große Experiment« im selben Heft, S. 84-106. (Anm. d. Red.)

John Gray, »From Post-Communism to Civil Society: The Reemergence of History and the Decline of the Western Model«, in: Social Philosophy and Policy 10, Nr. 2, 1993.

Stephen Holmes, »Cultural Legacies or State Collapse? Probing the Postcommunist Dilemma«, in: Michael Mandelbaum (Hg.), Postcommunism: four Perspectives, New York 1996.

Karol Modzelewski, Wohin vom Kommunismus aus? Polnische Erfahrungen , Berlin 1996, S. 37.


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Transit – Europäische Revue, Nr. 31/2006